22
»Ich glaube nicht, dass Ihr überhaupt krank seid.«
Annibale musterte den alten Mann. Der Qualität seiner samtenen Kleider, der Größe der Räume und des guten Eichenholzes, aus dem sein Stuhl gefertigt war, nach zu urteilen war der Architekt eindeutig ein wohlhabender Mann. Obwohl sein Bart weiß war, schimmerten seine Augen wach und klar.
»Das bin ich auch nicht«, räumte der alte Mann ein. »Noch nicht. Aber ich kann es mir nicht erlauben, krank zu werden, und der Doge behauptet, Ihr seid der beste Pestarzt in ganz Venedig.«
Annibale war nicht eitel. Seine Mutter hatte ihm einst gesagt, er wäre ein hübsches Baby gewesen, seine Tanten hatten ihn ein hübsches Kind genannt, und dann hatten ihn viele Frauen als attraktiven Mann bezeichnet. In Padua galten die Lobeshymnen nicht mehr seinem Äußeren, sondern seiner Intelligenz. Seine Lehrer schwärmten immer wieder, er habe den schärfsten medizinischen Verstand seines Jahrgangs. Und dann hatte ihn der Camerlengo der Republik persönlich für diese Mission ausgewählt, daher zuckte er jetzt nur die Achseln. Es ärgerte ihn, von seiner Arbeit fortgerufen worden zu sein, und es ärgerte ihn, dass er dem Camerlengo hatte nachgeben müssen. Er machte kein Hehl daraus. »Und Ihr«, bemerkte er sarkastisch, »seid der wichtigste Mann in Venedig, weil Ihr eine Kirche baut.«
Der alte Mann straffte sich ein wenig. »Nicht irgendeine Kirche. Eine Kirche, um Gott den Herrn zu bitten, uns von der Pest zu erlösen.«
Annibale dachte an die Straßen, durch die er gerade gegangen war. Valnetti und seinen Kollegen gelang es ganz offensichtlich nicht, die Seuche einzudämmen. In manchen quartieri prangten jetzt an allen Türen Kreuze, standen an jeder Ecke Kisten mit Kalk, quoll Myrtenrauch aus jedem Schornstein. »Dann bittet ihn sehr inbrünstig«, schnarrte er, rückte seine Maske zurecht und schickte sich an, sich zu verabschieden.
Der alte Mann deutete mit seiner rauen Hand auf den Schnabel. »Hilft das Ding?«
»Bis jetzt ja. Und egal ob er hilft oder nicht – die Leute erwarten, dass ich diese Maske trage, das ist viel wichtiger.« Annibale richtete sich auf und griff zu einer Lüge, um seinen Aufbruch zu beschleunigen. »Offen gestanden, Maestro, wenn Ihr der Pest schon so viele Tage lang entronnen seid, ist es mehr als unwahrscheinlich, dass sie Euch jetzt noch ereilt.« Er lenkte ein. »Aber etwas könnt Ihr tun. Beschafft Euch ein Stück guten Leinens – ich meine ein fest gewobenes, so wie das aus Ägypten –, räuchert es jeden Tag über dem Feuer aus und bindet es Euch vor Mund und Nase, wenn Ihr Euch ins Freie begebt.« Er blickte sich zu dem alten Mann um. »Wenn Ihr ein Steinmetz seid, solltet Ihr das ohnehin tun, oder dieser Husten wird Euch umbringen, bevor die Pest es tut. Entweder das, oder Ihr haltet Euch von den Steinen fern.«
Der Mann lächelte in seinen weißen Bart hinein. »Das kann ich nicht. Steine sind mein Leben.«
»Dann wird das, was einst Euer Leben war, Euch den Tod bringen«, fauchte Annibale.
Jetzt kicherte der alte Mann leise. »Wenn ich vorher noch meine Kirche fertigbauen kann, mag er nur kommen.«
Annibale schnaubte, woraufhin ihn sein Gegenüber scharf musterte. »Ihr seid nicht gläubig? Geht nicht in die Kirche?«
Annibale musterte ihn mit einem gereizten Blick. »Ich habe in der diesseitigen Welt zu viel zu tun, um mich mit der jenseitigen zu beschäftigen. In Eurem Beruf würdet Ihr Gott auch besser dienen, wenn Ihr der Menschheit dienen würdet. Bevor Ihr Eure Kirche baut, solltet Ihr bessere Wohnhäuser bauen. Die Pest hat sich hauptsächlich aufgrund überfüllter enger Räume, unerträglicher hygienischer Verhältnisse und mangelnder Belüftung so rasend schnell ausgebreitet. Gesundheit beginnt zu Hause.«
Die Augen des alten Mannes leuchteten auf, und er sah den Arzt zum ersten Mal richtig an. »Ihr habt vollkommen recht«, sagte er so nachdrücklich, als sei er auf eine verwandte Seele gestoßen. »Fahrt fort.«
Annibale öffnete den Mund, um seinem Zorn auf die Republik und die erbärmlichen Wohnverhältnisse, die sie den Armen zumutete, freien Lauf zu lassen, schloss ihn dann aber wieder. Er musste zu seiner Insel zurück, seiner Insel und seinen Patienten. »Wenn Ihr mich jetzt entschuldigt – ich muss mich um die kümmern, die mich wirklich brauchen. Wir sehen uns in sieben Tagen«, sagte er knapp, bevor er mit wehendem Umhang aus dem Raum rauschte.
Leider wurde sein dramatischer Abgang dadurch verdorben, dass er die falsche Tür öffnete und sich in einem kleinen Vorraum wiederfand, in dem ein Dienstmädchen herumhantierte. Sie schrak zusammen, lief rot an und durchbohrte ihn mit einem bernsteinfarbenen Blick, bevor sie ihre fremdartigen Topasaugen respektvoll niederschlug.
Automatisch taxierte er ihr Äußeres, wie er es bei allen Menschen tat. Ihre Haut war makellos, die Wangen glühten geradezu vor Gesundheit. Palladios Dienerschaft schien zumindest nicht von der Pest befallen zu sein, und damit war der Kampf schon halb gewonnen. »Verzeihung«, bellte er aufgrund der lächerlichen Situation noch barscher als sonst, bevor er sich zurückzog und das Haus verließ. Diesmal durch die richtige Tür.