18
Cecilia Zabatini gewöhnte sich rasch an ihr neues Leben als Dienstmädchen im Haus des goldenen Zirkels.
Innerhalb kurzer Zeit war sie mit dem hohen schmalen Haus mit den unzähligen Verbindungstreppen und Gängen vertraut. Sie gewöhnte sich an die Dunkelheit der Hinterzimmer und die gleißende Helligkeit der vorderen Salons, wo strahlendes Sonnenlicht durch das Glas der Fensterbögen fiel und bunte Regenbögen auf den Boden malte. Zu einer Seite des Hauses lag ein ruhiger Platz mit einem Brunnen in der Mitte. Hier war der Haupteingang für Besucher durch den Zirkel über der Tür kenntlich gemacht. An der Vorderseite, die auf den Kanal und das geschäftige Treiben darauf hinausging, gab es ein Wassertor, und hinter dem Haus befand sich ein kleiner schmutziger, noch von drei anderen großen Häusern umschlossener Hof. Dieser Hof diente als Sammelort für alle Abfälle des Hauses – hier endeten menschlicher Unrat und Küchenabfälle, um einmal in der Woche von den Mistsammlern abgeholt zu werden. Er verströmte einen fauligen Geruch, und das neue Dienstmädchen, das diesen Ort für gesundheitsschädlich hielt, mied ihn nach Möglichkeit.
Die anderen Haushaltsmitglieder akzeptierten das hochgewachsene, stille Mädchen. Sie war intelligent und hilfsbereit, man musste ihr nicht sagen, was zu tun war, sondern sie ahnte, was anstand, bevor es ihr aufgetragen wurde. Sie waren freundlich zu Feyra, teils um ihrer selbst willen, teils, weil sie eine Sprachstörung hatte, und teils, weil sie unter dem Schutz ihres Onkels Zabato stand, eines Mannes, den sie mochten und respektierten und der überdies der beste Freund ihres Herrn war. Die zwei Lakaien waren noch aus einem weiteren Grund nett zu dem neuen Mädchen. Jeder Narr konnte sehen, wie hübsch sie war, auch wenn sie sich noch so große Mühe gab, dies zu verbergen.
Der Köchin, die Corona Cucina gerufen wurde, weil sie, wie sie selbst prahlte, die unangefochtene Königin der Küche war, entging sehr wenig von dem, was sich in ihrem Reich abspielte. Sie bemerkte rasch die Blicke der Lakaien und beschloss, Abhilfe zu schaffen. Als Feyra am ersten Morgen nach unten kam, kitzelte sie sie sacht unter dem Kinn und schnalzte mit der Zunge. »Gesumaria, Herzchen, so wie du aussiehst, könntest du dich ohne weiteres auf die ponte delle tette stellen und den Männern deine Titten hinhalten. Ich werde ein Spitzentuch für diesen Ausschnitt suchen, und am besten auch noch einen langen Unterrock.«
Die Köchin zog sie in eine Kammer im Keller, die Feyras eigener glich, und wühlte in ihren Schränken herum. Sie fand einen Unterrock, der dem Mädchen glücklicherweise fast bis zu den Knöcheln reichte. »Und hier«, Corona Cucina schlang Feyra einen Spitzenschal um die Schultern, hielt ihn mit einer fleischigen Hand zusammen und kramte mit der anderen in einer kleinen Schublade. »Ich bin sicher, dass ich irgendwo eine alte Brosche habe – ah, hier –, damit kannst du den Schal feststecken.«
Die freundliche Köchin schob die Nadel der Brosche durch den Knoten, um den Schal am Kleid zu befestigen. Feyra blickte auf ihre Brust hinab. Die Brosche war ein kleines Zinnkreuz, an dem eine winzige Figur hing.
Das Symbol des Hirtenpropheten zu tragen war nicht das einzige Zugeständnis, das Feyra machen musste. Ohne Schleier beleidigten die Gerüche des Hauses ihre Nase, die Fischgräten, die auf dem Küchenherd ausgekocht wurden, die Bienenwachspolitur in der Speisekammer und der ranzige Hammeltalg der Kerzen im studiolo. Der beißende Teergeruch der Kohlen, die sie holen musste, reizte sie zum Husten, und sogar das muffige Leder und Papier der Bücher in der kleinen Bibliothek, die auf einem rings um die Wände des Studierzimmers herum verlaufenden Mezzanin untergebracht war, brachte sie zum Niesen.
Einmal erlitt sie einen Schock. Als sie in den kleinen Keller unter dem Haus geschickt wurde, um Salz zu holen, streifte sie im Dunkeln etwas Borstiges. Sowie sie die Kerze hob, sah sie ein ganzes, an den Hachsen aufgehängtes Schwein, dessen Zunge ihm aus der blutigen Schnauze hing. Feyra ließ die Kerze klirrend fallen und rannte von Würgereiz geschüttelt zu dem kleinen Hof in der Mitte des Hauses. Corona Cucina kam zu ihr geeilt, rieb ihr den Rücken, während sie sich übergab, und fragte, was geschehen war. Feyra, die ihre Tarnung völlig vergaß, krächzte nur: »Porco.«
»Vor dem musst du keine Angst haben, Herzchen. In seinem Zustand kann es dir nichts mehr tun, nicht wahr?« Die Köchin streichelte Feyras klamme Wange. »Du läufst vor einem Schweinchen weg wie eine Muselmana.«
Feyra erstarrte. Da war das Wort wieder.
Muselmana.
Das Wort, das Nurbanu bei ihrem Unterricht ausgelassen hatte, das Wort, das auf den Stufen des Dogenpalastes gefallen war, als sie ihren Pantoffel verloren hatte. Sie blinzelte in das besorgte Gesicht der Köchin. Corona Cucina war gutmütig, hier bot sich ihr die Chance, etwas zu lernen. »Muselmana?«, fragte sie, bemüht, das Wort so venezianisch wie möglich auszusprechen.
»Ja – ihnen ist Schweinefleisch ein Gräuel. Und so konnten wir Venezianer den Leichnam des gesegneten Apostels Markus«, Corona Cucina malte mit dem Zeigefinger ein Kreuz auf ihren mächtigen Busen, »aus dem Land der Heiden holen, um ihn im christlichen Venedig in der Basilika zu bestatten. Sie legten den Heiligen in einen großen Korb und bedeckten ihn mit Kräutern und Schweinefleisch, und die Träger wurden angewiesen, allen, die sich ihnen näherten, um den Korb zu durchsuchen, ›Schwein!‹ zuzurufen. So führten sie die Muselmani hinters Licht und brachten unseren Heiligen nach Hause.«
Feyras Verwirrung musste ihr im Gesicht geschrieben gestanden haben, denn Corona Cucina hob die Stimme, als wäre sie begriffsstutzig. »Muselmani. Sie gehen in gelben Schuhen zur Kirche und wickeln sich einen Turban um den Kopf! Dio, dein Onkel sagte, du wärst stumm, nicht einfältig.« Sie zwickte Feyra ins Kinn. »Tja, sie wissen gar nicht, was ihnen entgeht, denn wenn das Schwein eine Woche lang gehangen hat, mache ich Pancetta und Hackfleischpastete, bei der dir das Wasser im Mund zusammenläuft. Dann hast du auch nichts mehr gegen ein Ferkelchen.«
Von da an mied Feyra den Hof, wenn Corona Cucina Schwein zubereitete. Sogar den Geruch einzuatmen war schon ein gottloser Akt, fast noch schlimmer als das Kreuz zu tragen.
Der vorherrschende Geruch im Haus war jedoch der nach Tinte und Papier. Ihr unsichtbarer Herr hatte Berge davon im Haus verteilt, es quoll aus seinen Schubladen und bedeckte die Kartentruhe und sogar den Esstisch. Sie betrachtete die Bögen ein oder zwei Mal. Die Notizen verstand sie nicht, aber die Zeichnungen waren ihr vertraut. Sie hatte ähnliche oft bei Mimar Sinan gesehen.
Es waren Baupläne.
Dieser Palladio war Architekt, wie Sinan.
Feyra begann sich den venezianischen Akzent anzueignen. Die anderen Diener sprachen nicht die reine, klare Sprache, die ihre Mutter ihr beigebracht hatte. In dem Dialekt gab es so viele Zs, dass sie zusammen wie ein Bienenstock klangen, und die Leute fuchtelten so wild mit den Händen herum, dass sie sich in den schmalen Gängen des Hauses gelegentlich anstießen oder Kerzen aus ihren Haltern fegten. Aber während der beiden Mahlzeiten, die die Diener morgens und abends gemeinsam in der Küche einnahmen, beobachtete Feyra sie, hörte ihnen zu und begann sich anzupassen.
Sie verließ den kleinen Platz nur selten, aber wenn sie zum Markt ging, stellte sie fest, dass Venedig bei Tag eine ganz andere Stadt war als die, durch die sie nachts geflohen war. In diesem Stadtteil schien es noch keine Pestfälle zu geben. Zabato sagte, die Seuche würde am schlimmsten in dem Cannaregio genannten Bezirk wüten, und wenn sie ihre Einkäufe bei der Rialtobrücke erledigte und auf direktem Weg wieder zurückkam, bestünde keine Gefahr für sie.
So lernte Feyra ihr Stadtviertel oder sestiere Castello recht gut kennen. Ihr fiel auf, dass der Hirtenprophet überall an jeder Straßenecke und über jeder Kirchentür gegenwärtig war. Ihr Glaube erlaubte es nicht, Gott bildlich darzustellen, es war nicht nur respektlos, sondern auch gar nicht möglich. Aber hier lebten die Christen mit ihrem Gott, als wäre er ihr Nachbar, und man konnte ihm nicht aus dem Weg gehen. Er schien nur in zwei Gestalten zu erscheinen: als Baby in den Armen seiner Mutter oder halb tot am Kreuz hängend. Der Anfang und das Ende seines Lebens, dazwischen gab es offenbar nichts. Sogar auf dem Markt, wo geschlachtete Tiere an hölzernen Balken hingen, hing der Hirtenprophet hoch über allem.
Meistens ging Corona Cucina zum Markt, da sie keinem anderen zutraute, ihre kostbaren Gewürze einzukaufen, aber manchmal schmerzten ihre Beine und Füße so sehr, dass sie sich auf einen Stuhl setzen und die Beine hochlegen musste. Feyra erhaschte einmal einen Blick darauf, die Füße waren riesig, mit missgebildeten Zehen und dicken Schwellungen zu beiden Seiten. Außerdem traten die Adern an Coronas Waden wie blaue und schwarze Stricke hervor. Feyra hatte solche Adern im Harem gesehen und fragte sich, ob sie wohl je den Mut aufbringen würde, der Köchin zum Dank für ihre Freundlichkeit ihre Mittel anzubieten.
Sie vermisste es, ihren Beruf auszuüben, nicht nur wegen des sozialen Status, den dieser mit sich brachte, sondern weil sie sich danach sehnte, nach ihrer Meinung gefragt zu werden und ihre praktischen Fähigkeiten anwenden zu können. Hier stand sie in der Hierarchie der Dienerschaft ganz unten, und ihre Pflichten bestanden darin, das Haus zu säubern, Besorgungen zu machen und in den Räumen des Herrn Feuer zu entfachen.
Nach ihrem ersten Arbeitstag hörte sie auf, den Kristallring mit den vier Pferden an der Hand zu tragen. Ihre Arbeit war körperlich anstrengend, und sie wusste, dass er irgendwann einmal zerspringen oder beschädigt werden würde. Sie riss einen Stoffstreifen von einem ihrer zahlreichen Unterröcke ab, hängte sich den Ring um den Hals und schob ihn in ihr Mieder. Dabei musste sie an die osmanische Tradition denken, Amulette zu tragen, um sich seine Gesundheit zu erhalten – einen in winziger Schrift verfassten und zusammengerollten Vers aus dem Koran, den Namen Gottes auf einem Stück Papier in einer Tasche oder einen Anhänger wie die Hand der Fatima. Amulette waren geheim und persönlich, sie wurden unter den Kleidern getragen und waren für ihren Besitzer äußerst wertvoll. Nun, jetzt würde der Ring ihr Amulett sein, das Einzige an ihrer Person, das sie auf dem ganzen Weg von Konstantinopel hierher begleitet hatte. Ihr fiel auch auf, wie viel sie seit dem Tod ihrer Mutter über sie erfahren hatte. Es sagte einiges über ihr verhätscheltes Luxusleben aus, dass sie bis zu ihrem Ende jeden Tag einen Glasring hatte tragen können.
Feyra sah, dass den Frauen in Venedig sogar innerhalb der Dienerschaft das schlechteste Los beschieden war. Sie schienen über keine Ausbildung zu verfügen, und wenn die Männer abends in der Küche Karten spielten, mussten sich die Frauen in ihre Kammern zurückziehen. In Venedig, da war sie sicher, würde keine Frau dazu ermutigt werden, sich als Ärztin zu qualifizieren, oder überhaupt erst die Erlaubnis dazu erhalten.
Einiges war hier wie bei ihr daheim. Corona Cucina glich den Köchinnen, die sie im Topkapi gekannt hatte, sie war gutmütig, laut und derb. Sie redete unaufhörlich, und manchmal hätte sich Feyra am liebsten die Ohren zugehalten, um die vielen Geschichten darüber, wie es der Köchin in ihrer Jugend ergangen war oder wie verschiedene Mitglieder des Haushalts ihre Liebesaffären abwickelten, auszublenden.
Und doch begann sich Feyra allmählich gegen ihren Willen für den Feind zu erwärmen. Sie dachte an die junge Mutter, die den Tod die Hand gereicht hatte, an den Bootsmann, der ihr die Münze zurückgegeben hatte, und an Zabato Zabatini, bei dem sie untergekommen war. Bei diesen Gelegenheiten erinnerte sie sich erschrocken daran, dass sie selbst halb Venezianerin war. Sie gehörte zwei Nationen an, unabhängig davon, dass ein Ozean die beiden trennte.
Feyra mochte stolz darauf sein, sich in Palladios Haushalt eingefügt zu haben, aber trotzdem waren nicht nur die beiden Lakaien auf sie aufmerksam geworden. Neuigkeiten über eine schöne neue Dienstmagd im sestiere verbreiteten sich rasch, vor allem in einer von der Außenwelt abgeschnittenen Stadt. Einmal mehr musste sie sich an die Blicke der Männer gewöhnen. Ihre wenigen Ausflüge zum Markt hatten das Interesse der Standbesitzer geweckt, und sie wäre entsetzt gewesen, wenn sie gewusst hätte, dass bei mehr als einem Trinkgelage ein Toast auf sie ausgebracht wurde. Sie hatte sich inzwischen an ihre venezianische Kleidung gewöhnt, der Schleier und die Stoffhüllen ihrer Heimat schienen einem anderen Leben anzugehören. Aber als sie eines Tages über den Markt eilte, blieb sie beim Anblick eines von der Sonne vergilbten, an die Wand genagelten Flugblatts plötzlich wie angewurzelt stehen.
Mit klopfendem Herzen trat sie näher und strich es glatt, um es eingehender zu betrachten. Das Papier beulte sich unter ihren mit einem Mal schweißfeuchten Fingerspitzen. Die darauf abgebildete Gestalt war grotesk – eine Frau, eine Türkin, die einen Schleier, eine voluminöse Hose und nach oben gebogene gelbe Pantoffeln trug. Unter dem Kopftuch ringelten sich drahtige schwarze Korkenzieherlocken, und über dem yashmak krümmte sich eine Hakennase. Feyra konnte Venezianisch nicht so gut lesen wie sprechen, aber sie erkannte das Wort Muselmana. Dieses Bild sollte sie darstellen, daran hegte sie keinen Zweifel. Sie riss das Papier rasch von der Wand und zerknüllte es in ihrem Korb. Dann blickte sie nach links und rechts, um sich zu vergewissern, dass niemand Zeuge ihres Tuns geworden war, übersah aber die hochgewachsene, in einen Umhang gehüllte Gestalt, die sie vom Rand des Marktplatzes aus beobachtete.