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Sultan Murad III. hatte seine Herrschaft so begonnen, wie er sie fortzusetzen gedachte.

Nachdem er aus der Provinz Manisa zurückgekehrt war und den Thron bestiegen hatte, hatte er seine jüngeren Brüder, die sein Vater mit anderen Frauen gezeugt hatte, mit einer Bogensehne erdrosseln lassen. Die Thronfolge war gesichert. Jetzt, im Alter von neunzehn Jahren, war er der unangefochtene Herrscher seines Reiches und bereit, den ehrgeizigsten Plan seines Lebens zu verwirklichen.

Dem Kislar Aga zufolge, mit dem er soeben eine interessante Unterredung geführt hatte, sollte seine Mutter inzwischen tot sein. Er war endlich frei von dieser Fessel, die sich zuletzt wie eine Schlinge um ihn zusammengezogen hatte, und würde ihre ständige Einmischung nicht länger dulden müssen.

Genialerweise war er darauf verfallen, die Genuesen die Tat ausführen zu lassen. An seinen Händen klebte kein Blut, denn während die Beseitigung seiner Brüder beim Volk auf Zustimmung gestoßen war und von einem starken Herrscher erwartet wurde, wäre der Mord an seiner Mutter, die sich großer Beliebtheit erfreute, zu weit gegangen. Die Schuld den Genuesen zuzuschieben war ein Meisterstück. Er würde die Gedik seiner Mutter wegen ihrer Nachlässigkeit hinrichten lassen und die Genuesen denunzieren, die seiner Meinung nach mit ihren Unterkünften im Galataturm und dem umliegenden Getto ohnehin einen zu großen Teil seiner Stadt an sich gerissen hatten. So konnte er nicht nur seine Mutter betrauern, wie es sich gehörte, sondern zugleich auch rechtschaffenen Zorn auf Ausländer schüren. Und dieser Hass würde dazu dienen, seinen jüngsten, größten und kühnsten politischen Streich zu unterstützen. Ein derartiges Wagnis war noch nie unternommen worden.

Der Sultan saß auf seinem Thron und musterte den Mann, der unterwürfig vor ihm auf der marmornen Karte der bislang bekannten Welt stand, die den gesamten Boden des geräumigen Audienzsaales einnahm. Der Mann stand passenderweise im Meer.

Dieser Mann hatte einst seinem Vater Selim und allen seinen Erben unverbrüchliche Treue geschworen. Ein einstiger Admiral und jetzt, in Friedenszeiten, nur ein alter Kapitän. Nun, der alte Bursche würde bald wieder Admiral sein. Der Gedanke stimmte den Sultan großmütig, ein Gefühl, das er zutiefst genoss, ging es doch mit Macht einher. Es würde noch einen letzten Kampf für den alten Seemann geben. Sultan Murad III. beabsichtigte, eine Schuld einzufordern.

Als er dem Kapitän seine Anweisungen erteilte, meinte er, den genauen Moment, die genaue Sekunde erkennen zu können, in der Timurhan begriff, dass er von dieser Fahrt nicht mehr zurückkehren würde. Dieser Mann, der sämtliche kartografierten Gewässer des Osmanischen Reichs und jenseits seiner Grenzen durchquert hatte, seit er ein Junge war, würde seine letzte Reise antreten. Murad kostete den Augenblick aus. Er war ein Teil des Gesamtbildes. Die goldene Pracht im Raum, die riesige Marmorkarte und die Diener, die weißen Eunuchen, die alle taub und stumm waren, weil man ihnen auf seinen Befehl hin die Trommelfelle durchstochen und die Zungen herausgerissen hatte. Die Gewänder, die er trug, die Palastwände, die ihn umgaben, der Harem voller Frauen, die ihm jederzeit zur Verfügung standen. Und das Beste von allem – die Macht, das Leben eines Mannes zu beenden und von ihm zu erwarten, dass er sein Los akzeptierte. Was der Kapitän tat.

Timurhan bin Yunus Murad war perfekt geeignet für diese Aufgabe. Niemand kannte die Meere besser als er, und als Lepanto-Veteran hatte er in dieser größten aller Seeschlachten genug Grausamkeiten gesehen, um Venedig und seinen Dogen zu hassen. Und er hatte nur einen Nachkommen; einen, den Murad nur zu gerne in seine persönliche Obhut nehmen würde.

»Unser guter Doktor hat seinen Auftrag ausgeführt und von einem Tempel außerhalb der Stadt einen entsprechenden Kasten besorgt. Die weißen Eunuchen werden dafür sorgen, dass die Fracht um Mitternacht zum Dock geschafft wird. Du wirst mit einem der venezianischen Schiffe segeln, die wir bei Lepanto erbeutet haben. Es heißt Il Cavaliere.«

Aus dem Tonfall des Sultans hätte man schließen können, dass er selbst dabei gewesen war. Tatsächlich war es aber Timurhan, der an der Schlacht teilgenommen hatte, in deren Verlauf diese spezielle Galeere erobert worden war. Der Reiter. Der Name hatte für Timurhan eine ebenso große Bedeutung wie für Murad. Der Sultan, der mit allen Einzelheiten der Geschichte seiner Mutter vertraut war, fand ihn erheiternd. Er mochte Zufälle und glückliche Fügungen – sie verliehen ihm das Gefühl, dass Gott auf seiner Seite stand. »Du bringst das Schiff nach Venedig und wartest.«

Er erhob sich von seinem Thron, schritt geräuschlos über die Karte und zeichnete die Route des Schiffs mit seinen goldenen Pantoffeln nach. Als er die marmorne Darstellung von Venedig erreichte, stampfte er absichtlich über die ganze Stadt. Es gefiel ihm, sie mit seinen Füßen zu besudeln. »Wenn du die Mündung der Lagune erreichst«, er blieb an der entsprechenden Stelle stehen, »wartest du auf einen Sturm. Im Schutz eines Unwetters und an Bord eines venezianischen Schiffs hast du gute Chancen, an der Quarantäneinsel vorbeizukommen.« Er deutete auf eine kleine Landmasse, unter der Vigna Murada stand. »Dort werden sie dich, wenn sie dich fassen, vierzig Tage lang festhalten, und alles wäre verloren. Die Seeleute werden in Armenhäuser gesperrt und die Fracht abgewaschen und geräuchert, damit ihr kein Gift mehr anhaftet. Ich muss dir ja nicht sagen, dass unser Unternehmen zum Scheitern verurteilt ist, wenn das geschieht. Bring die Fracht stattdessen zum Markusbecken direkt vor dem Palast des Dogen. Genau hier«, er tippte mit der Spitze seines Pantoffels auf die Stelle, »wirst du deine Last abliefern.«

Der Sultan wartete lange genug, um sicher zu sein, dass er keinen Widerspruch hören würde. Der Kapitän war ihm gehorsam gefolgt, dieser Schwächling. »Dann segelst du zur Leeseite dieser Insel, sie heißt Giudecca. Dort findest du ein sicheres Haus, hier, an dem Ort namens Santa Croce.« Der Sultan glaubte nicht, dass Timurhan die Bedeutung dieses heiligen Namens verstand, verschluckte aber trotzdem vorsichtshalber die Silben ein wenig. »Dort findest du Leute, die dir Unterkunft gewähren, dir helfen und dich mit Proviant versorgen. Dann kannst du sicher in die Türkei zurücksegeln.« Er brachte die Lüge glatt über die Lippen.

Der Kapitän blickte stumm auf die Karte hinab. Der Sultan war daran gewöhnt, dass in seiner Gegenwart geschwiegen wurde, aber dieses Schweigen hielt so lange an, dass es ihn ärgerte. Dann ging ihm auf, dass dieser Mann, der häufig mit seinem Vater, aber noch nie zuvor mit ihm zu tun gehabt hatte, von seiner Macht und seiner Ausstrahlung eingeschüchtert wurde. Er freute sich darüber. Seine Mutter, mochten ihre Gebeine in der Hölle verrotten, behauptete immer, er sei das genaue Gegenteil seines Vaters. Natürlich fürchtete sich dieser Mann vor ihm. Er war nicht wie sein Vater Selim, ein schwacher Mann, gütig und barmherzig und ein Weichling. »Du darfst sprechen«, forderte er den Kapitän großzügig auf.

Timurhan bin Yunus Murad fürchtete den Sultan ganz und gar nicht. Er hielt ihn für einen bösartigen jungen Gecken, nicht würdig, seinem Vater auch nur die Stiefel zu küssen. Er schwieg nur, weil er versuchte, diesen letzten Schlag zu verarbeiten, den das Schicksal ihm versetzt hatte.

Timurhan war an Verluste gewöhnt. Er hatte eine Frau gefunden, die er liebte und die ihn liebte, und sie an den Vater dieses Sultans verloren. Er hatte sich der Seefahrt verschrieben, war bei Lepanto zu Ruhm und Ehre gelangt und hatte seine Flotte verloren. Das Einzige, was er in seinem Leben hatte behalten können, war Feyra, und nun würde er sie auch noch verlieren. Die Ironie des Ganzen entging ihm nicht. Nach der Geburt seiner Tochter hatte er im Gegenzug dafür, sie mit nach Hause nehmen und in Frieden in der Stadt großziehen zu dürfen, Selim und seinen Erben die Treue geschworen. Und genau dieser Schwur hatte zur Folge, dass er jetzt und hier in diesem Raum stand und sich auf eine Mission begeben musste, die ihn für immer von Feyra trennen würde. Endlich ergriff er das Wort, stellte die Frage, um die alle seine Gedanken kreisten.

»O Licht meiner Augen und Freude meines Herzens, was wird mit Feyra geschehen?«

»Ah, deine kluge Tochter. Ja, sie ist sehr klug.« Der Sultan dachte an seine aufschlussreiche Unterredung mit dem Kislar Aga zurück. »Sie weiß bereits einiges, was sie nicht wissen sollte.«

Timurhan streckte beide Hände vor, als wolle er einen Schlag abwenden. »Herr, ich weiß, dass sie zu gebildet ist, aber wenn Ihr sie gütigerweise in den Diensten Eurer Mutter belassen wollt …«

Der Sultan schnitt ihm das Wort ab. »Meine Mutter hat ihre Seite in diesem Krieg gewählt, und deswegen braucht sie deine Tochter nicht mehr.«

»Herr …«

»Beruhige dich. Ich missbillige das medizinische Wissen deiner Tochter nicht, das ich nur weiterempfehlen kann. Nein, eine kluge Frau kann sehr hilfreich sein. Aber sie ist auch schön, eine Tatsache, die sie, wie ich bemerke, um jeden Preis zu verbergen versucht.«

Timurhan stellte die nächste Frage voller Angst. »Wie meint Ihr das?«

»Ich meine, dass ich mich zum Dank für den Dienst, den du meinem Reich erweist, persönlich um sie kümmern werde. Ich habe beschlossen, Feyra die große Ehre zuteilwerden zu lassen, sie als meine Kadin in meinen Harem aufzunehmen.«

Timurhan saß in der Falle. Wie konnte er dem Sultan gestehen, dass Feyra seine Halbschwester war; dass er, ein einfacher Schiffskapitän, einst bei Murads Mutter gelegen hatte? Er würde an Ort und Stelle niedergestreckt und Feyra höchstwahrscheinlich ebenfalls ermordet werden. Sollte er sich verneigen, die Ehre annehmen, sich auf die Todesmission begeben und hinnehmen, dass Feyra zwar in Sicherheit wäre, sich aber täglich ihrem Bruder würde hingeben müssen?

Die Wahl war eigentlich gar keine. Er verbeugte sich.

Als er zur Tür ging, sah ihm der Sultan lächelnd nach. Timurhan hatte ihn unterschätzt, wie es so viele Menschen taten. Feyra war nicht die Einzige, die etwas wusste, was sie nicht wissen sollte.

Er wusste, dass Feyra seine Schwester war, und es störte ihn nicht.

Timurhan ging durch die Gänge und Höfe des Topkapi-Palastes, wohl wissend, dass er das alles nie wieder sehen würde. Als er am Harem vorbeikam, fragte er sich wie so oft, ob sie sich darin aufhielt. Die Tür war stets geschlossen und wurde von schwarzen Eunuchen bewacht.

Nur heute nicht.

Sowohl die äußeren als auch die inneren Türen standen offen. Zögernd, als wäre schon der Blick eines Mannes an diesem Ort ein Eindringling, spähte er quer über einen kleinen Hof zu einer weiteren geöffneten Tür. Hinter dieser zweiten Tür lag eine Frau in ihren Kissen. Sie regte sich nicht, ihre Haut war fleckig, und sie schien tot zu sein. Aber während er sie ansah, schlug sie die Augen auf. Augen, die so blau waren wie das Meer.

Plötzlich befand er sich einundzwanzig Jahre in der Vergangenheit, auf einem Maskenball in Paros, wo ebendiese Augen ihn verzaubert hatten. Diese Augen hatten in die seinen geblickt und ihn überredet, sie fortzubringen, mit ihr zu seinem Schiff zu reiten und nach Konstantinopel zu segeln. Jetzt blickte er wieder in diese Augen, einen letzten Moment lang, und dann, als er erkannte, dass er Zeuge eines Endes und nicht eines Anfangs war, wandte er sich ab.