14
An seinem zweiten Tag in seiner Heimatstadt Venedig kleidete sich Annibale Cason nicht sorgfältig vor dem Spiegel an. Er ließ die Schnabelmaske darüber hängen, und sie blickte ihm nach, als er die Kammer verließ.
Aber er ging weder aus dem Haus, noch machte er sich auf den Weg zum Campo Santa Maria Nova, um dort bei Tagesanbruch Valnetti zu treffen, wie es ihm nach seiner gestrigen Aufsässigkeit streng eingeschärft worden war. Stattdessen tappte er im Nachthemd nach unten und zog dabei einen kleinen Schlüssel darunter hervor, den er seit sieben Jahren um den Hals trug.
Der kleine goldene Schlüssel an der Goldkette war warm von seiner Haut. Er trug ihn auf der Brust, seit er nach dem Tod der letzten seiner vielen Tanten als vierzehnjähriger Junge nach Padua aufgebrochen war. Erst da hatte ihm der Familiennotar den Schlüssel zu der Cason-Schatztruhe übergeben, dem Vermächtnis des Vaters, den er nie gekannt hatte.
Annibale stieg mit seiner Kerze in den Weinkeller hinunter. Die Kälte der Steine kroch in seine bloßen Füße. Die Weinfässer reagierten knarrend auf die Temperaturveränderung, die Annibales Präsenz im Raum mit sich brachte. Als er als kleiner Junge hier heruntergekommen war, hatte er den Keller für einen verwunschenen Ort gehalten. Damals wie heute konnte er den Kanal draußen gegen die Steine schwappen hören, denn der Keller, in dem die Familie Cason jahrhundertelang ihren Wein und ihr Salz gelagert hatte, lag unterhalb der Wasserlinie.
Die Familie Cason, deren einziger Nachkomme Annibale jetzt war.
Hier unten war er sicher und ungestört, genau wie er es wollte. Es empfahl sich nicht, dass die Diener die Schatulle zu Gesicht bekamen.
Annibale war all die Jahre sehr vorsichtig mit dem Familienvermögen umgegangen. Er hatte das Geld nicht in der Stadt verprasst, wie es seine Kameraden taten, sondern nur für seine Ausbildung sowie für Kost und Logis benutzt und am Ende seines siebenjährigen Studiums sein Ärztegewand davon erstanden. So kam es, dass die hinter dem vierten Fass Valpolicella verborgene Schatulle noch fast voll war.
Er ließ etwas Wachs auf den Boden tropfen, das auf den feuchten Steinen wie eine Katze zischte, und befestigte die Kerze in der Pfütze. Dann beugte er sich vor, um den Kasten aufzuschließen, ohne dabei den Schlüssel von seinem Hals zu lösen – er hatte einst geschworen, ihn niemals abzulegen. Er schob ihn in das Schloss und klappte den Deckel der Eichenholzkassette auf. Die Messingbänder, mit denen er beschlagen war, klirrten leise.
Der Kasten war mit Dutzenden kleiner Goldmünzen gefüllt, die man als Zechinen bezeichnete. Sie lagen in einem kleinen Einsatz, der einen falschen Boden bildete. Unter diesem Einsatz befand sich ein weit größerer Schatz, eine Lage goldener Dukaten. Er nahm einen davon heraus und betrachtete die Gestalten darauf eindringlich. Auf einer Seite kniete der Doge mit seinem auffälligen corno-Hut vor dem heiligen Markus, auf der anderen war Christus abgebildet. Er umschloss die Münze einen Moment lang mit der Hand, bis sie warm wurde, dann ließ er sie wieder zu den anderen in den Kasten fallen und schob den Einsatz an seinen Platz zurück. Es würde reichen und war für seine Zwecke mehr als genug.
Dem Deckel der Kassette entnahm er eine Geldbörse aus Mäuseleder, zählte vier Dukaten hinein und verteilte eine Hand voll Zechinen auf seine Taschen, bevor er den Kasten wieder verschloss. Dann entdeckte er einen alten Messingkelch, der unter die Weinfässer gerollt war, und polierte ihn mit seinem Nachthemd, bis er im Kerzenlicht schimmerte. Annibale nahm ihn gleichfalls mit. In Venedig war es immer ratsam, etwas bei sich zu tragen, mit dem man andere bestechen konnte.
Er ging wieder nach oben und kleidete sich in der Hälfte der Zeit an, die er gestern benötigt hatte. Mit dem Cason-Schatz unter seinem Umhang verließ er beschwingten Schrittes das Haus, aber diesmal hatte seine Zuversicht einen anderen Grund. Annibale mochte die erste Partie gegen die Pest verloren haben, aber das Spiel war noch nicht vorüber.
Es war nicht schwer, an der Fondamenta Nuove ein Boot aufzutreiben. Sowohl der Handel als auch das Reisen waren nahezu zum Stillstand gekommen, und die Bootsführer und Gondolieri, die gesund geblieben waren, standen müßig auf dem Dock herum. Seine Wahl fiel auf einen kräftigen Burschen, der aussah wie ein guter Ruderer. Der Mann hob eine Braue, als er Annibales Anweisungen hörte, aber eine Goldzechine überzeugte ihn.
Als sie auf die Inseln zusteuerten, die er am Abend zuvor gesehen hatte, stand Annibale unbeweglich im Bug. Die Jahre in Padua hatten ihn seiner Seemannsbeine nicht beraubt. Er verfügte noch immer über die allen Venezianern angeborene Fähigkeit, stocksteif und sicher in einem Boot zu stehen. Er war wieder mit seiner Maske angetan, blickte unverwandt nach vorne und wirkte wie eine Galionsfigur. Der redselige Bootslenker bekam aus ihm nicht mehr Worte heraus als aus einer Statue.
Annibale sah zu, wie erst die Insel Murano vorüberglitt, wo die Glasöfen jetzt kalt blieben, dann Burano, wo keine Spitzenstickerinnen mehr in den Türen der bunten Häuser saßen. Auf Torcello läutete die Glocke der Kathedrale klagend, zählte die Toten und verriet ihm, dass die Pest auch dieses Ufer erreicht hatte. Doch als das Boot auf die Lazarette zuhielt, herrschte dort Ruhe. Annibale wies den Bootslenker an, Vigna Murada anzusteuern, die Quarantäneinsel.
Als sie näher kamen, konnte Annibale eine graubraune, von Bäumen gesäumte Einöde und irgendeinen von einer Mauer umgebenen Gebäudekomplex erkennen. Es gab einen langen Anlegesteg, der an einem hölzernen Bootshaus endete. Was die beiden Männer dort sahen, bewirkte, dass der Bootsführer die Ruder einzog und sich den Kragen seines Umhangs über den Mund zog. Auf dem Bootshaus prangte ein mannshohes krakeliges rotes Kreuz.
»Warte hier, wenn dir das lieber ist«, fauchte Annibale, dem nicht entging, dass der Mann davor zurückscheute, noch weiter zu fahren. Der Bootsführer machte sein Boot bei den drei kleinen Stufen fest. Annibale vergewisserte sich, dass die Mäuselederbörse und der Messingkelch noch immer sicher in seinem Ärmel verstaut waren, und sprang an Land, wobei er die Cason-Schatzschatulle auch weiterhin unter seinem Umhang verbarg. Er warf dem Bootsführer eine weitere Zechine zu und befahl ihm kalt, auf ihn zu warten.
Am Kopfende des Piers war ein Torhaus in die große Mauer eingebaut, dessen Tür fest verschlossen zu sein schien. Direkt davor saßen zwei Männer, ein alter und ein junger, und angelten in der Lagune. Der Graubart sah dem näher kommenden Arzt bereits wachsam entgegen, aber der junge Bursche starrte mit glasigen Augen ins Leere. Ein dünner silberner Speichelfaden hing wie eine Angelschnur von seiner Lippe bis auf seinen Schoß hinab. Die Füße des Jungen baumelten ein gutes Stück über der Wasseroberfläche, seine Arme und sein Rumpf waren verkürzt, nur der Kopf hatte eine für einen jungen Mann normale Größe und wirkte auf dem gedrungenen Körper überdimensional. Sein Schädel war eigenartig geformt, die Knochen waren wahrscheinlich bei der Geburt deformiert worden, nahm Annibale an. Er hatte solche Zwerge schon öfter gesehen. Die meisten wurden gleich ertränkt, nachdem sie das Licht der Welt erblickt hatten, andere jedoch als Schauspieler in der commedia eingesetzt, denn manche verfügten über alle normalen Fähigkeiten und konnten sprechen und singen. Annibale hatte ein solches Geschöpf am Hof von Padua gesehen, der Herzog hatte es seinem Kuriositätenkabinett einverleibt und ihm beigebracht, zotige Geschichten zu erzählen. Aber dieser Junge war eindeutig ein Einfaltspinsel. Annibale achtete nicht auf ihn, sondern grüßte stattdessen den älteren Mann.
»Ich bin Doktor Annibale Cason vom Consiglio della Sanità«, log er. »Bist du hier der Torhüter?«
Der Alte zuckte die Achseln. »Das war ich, Dottore, bis die Pesthexe kam. Da machten sich alle davon. Der Consiglio Marittima hat verfügt, dass keine Schiffe in die Stadt hereinkommen oder sie verlassen dürfen, bis wir wieder pestfrei sind. Das letzte kam am Dienstag – während eines fürchterlichen Sturms. Eine Galeere namens Il Cavaliere. Wir haben gerufen und Fackeln geschwenkt, aber sie ließ sich nicht aufhalten.«
»Ja, ja«, versuchte Annibale den unaufhörlichen Wortfluss einzudämmen. »Also sind alle fort? Die Marschälle, die Vierzigtagemänner? Die bastazi und ihre Familien?«
»Ja, Dottore. Alle sind fort, und vor Eurem war nur ein Boot da, das die Briefe vom Consiglio brachte. Sie räuchern die Post jetzt natürlich. Ich habe heute Morgen einen Brief bekommen und konnte ihn kaum lesen, so gelb war er …«
»Natürlich«, unterbrach Annibale. »Demnach ist wirklich niemand mehr hier?«
»Keiner, Dottore. Sie sind alle nach Treporti gegangen. Alle außer mir und meinem Jungen.« Der Graubart hob sein stoppeliges Kinn. »Ich bin der Torhüter, und bei Gott, ich werde das Tor bewachen. Wir leben hier, Dottore, mein Junge kennt es nicht anders.«
Zum Festland geflohen. Annibale nickte, sodass der Schnabel seiner Maske vor seinem Gesicht einen schwungvollen Bogen beschrieb. Die Reichen flohen immer in ihre Villen in Venetien, die Armen nach Treporti. Er musterte den Zwerg, der noch immer angelte und dem Gespräch augenscheinlich keine Beachtung schenkte. »Kann ich mich hier umsehen?«
»Selbstverständlich, Dottore. Ich führe Euch herum. Komm«, rief er dem Jungen zu. Vater und Sohn ließen ihre Angelruten im Stich, und das seltsame kleine Trio begab sich zum Torhaus, wobei der Graubart die ganze Zeit schwatzte und der Junge in einen Trab verfallen musste, um mit seinen kurzen Beinen mit ihnen Schritt halten zu können. An der Tür zog der Mann einen Schlüsselring hervor. Das Haupttor führte zu einem niedrigen Bogen, der Annibale einen verlockenden Blick auf das bot, was dahinter lag. Aber erst galt es, das Geschäftliche zu besprechen. Annibale deutete auf eine Tür in der Mauer links von ihnen.
»Und dies ist deine Unterkunft?«
»Nichts Großartiges, Dottore, nichts Großartiges.« Der alte Mann bat ihn mit einer so übertriebenen Geste herein, als lüde er ihn in den Palazzo Ducale selbst ein, obwohl das Torhaus wenig mehr als einen Tisch, Stühle und eine rauchende Feuerstelle enthielt. »Ich wurde am Tag meiner Hochzeit zum Torhüter der Vigna Murada ernannt, am Matthäustag vor vielen Jahren. Ich kam mit meiner Frau hierher, aber als wir den Jungen bekamen, warf sie nur einen Blick auf ihn und verließ uns. Verschwand, kaum dass sie aus dem Kindbett aufgestanden war.«
Annibale schielte zu dem Jungen hinüber, doch dessen graue Augen waren so ruhig wie die Lagune. »Wie lauten eure Namen?«
»Ich bin Bocca Trapani, und dies hier ist Salve.« Bocca war kein christlicher Vorname, doch Annibale vermutete, dass der Torhüter wegen seiner Geschwätzigkeit so genannt wurde; er redete für seinen stummen Sohn gleich mit. Annibale musste verhindern, dass der Mann ihn herumführte, er wollte in Ruhe nachdenken. Salve war ein Name, den Behinderte oft erhielten, er bedeutete wörtlich »hilf« oder »rette«. Der Torhüter musste ein frommer Mann sein. Annibale kam ein Gedanke.
Er nahm den Kelch und die Börse aus seinem voluminösen Ärmel, legte beides behutsam auf den Holztisch und bedeutete den beiden Männern, sich zu setzen. Er bemerkte, dass der Junge sich sofort in den Schatten der Kaminecke zurückzog, sich dort verbarg und zu ihnen hinüberspähte. »Jetzt hör mir gut zu«, begann Annibale. »Dies hier ist mein Familienschatz.« Er deutete mit seinem behandschuhten Finger auf die Börse. »Kann ich ihn euch beiden ehrlichen Männern anvertrauen, während ich mich im Auftrag des Dogen hier umschaue? Und dies«, er tippte gegen den Rand des alten Messingkelchs, der daraufhin leise summte, »ist ein sehr alter Kelch. Es heißt«, hier senkte er ehrfürchtig die Stimme, »dass Christus selbst aus ihm getrunken hat.«
Der alte Mann starrte den wertlosen Becher überwältigt an.
»Ich bin beim nächsten Glockenläuten zurück.« Mit diesen Worten verließ Annibale das verräucherte Haus und schritt durch den Bogen auf die Vigna Murada.
Er hatte einen nach rein praktischen Gesichtspunkten angelegten Ort erwartet, aber er erblickte eine üppige grüne Rasenfläche und eine herrliche Allee weißer Maulbeerbäume, deren goldgeränderte Blätter sich vom tiefblauen Himmel abhoben. Hier und da zeugten abgebrochene Säulen und große umgestürzte Steine davon, dass dort einst ein altes Gebäude gestanden hatte. Innerhalb der Mauern befand sich eine Reihe niedriger steinerner Armenhäuser mit einer kleinen Kirche an einer Ecke und in der Mitte von allem ein großes überdachtes Bauwerk mit sich nach außen öffnenden Bögen, das die Venezianer als Tezon bezeichneten.
Er hatte viel von diesem Ort gehört und konnte sich jetzt vorstellen, was sich hier abgespielt hatte, wenn ein Schiff kam. Er sah die Szene förmlich vor sich, bevölkerte die Insel im Geist mit Menschen. Erst ging die Besatzung von Bord und stapfte durch eine flache Kalkgrube. Dann luden die Männer die Waren aus, stapelten sie im Tezon auf und markierten die Ladung durch ein Kennzeichen an der Wand. Danach wurde die Besatzung für vierzig Tage in den Armenhäusern untergebracht – der Ursprung des Wortes Quarantäne. Es wurde von ihnen erwartet, dass sie gesund und keusch lebten und den Gottesdienst in der kleinen Kirche besuchten, wenn sie keine Ungläubigen waren. An jedem der vierzig Tage wurden die Waren durch die offenen Bögen vor das Tezon geschafft, über reinigenden Feuern geräuchert, gelüftet und über Nacht wieder unter dem großen Dach gelagert. Sowie Ware und Besatzung für nicht gesundheitsgefährdend erklärt worden waren, durften sie die Insel verlassen, die Stadt Venedig betreten und dort ihre Waren verkaufen.
Annibale wusste, dass es einen Erlass des Rates gegeben hatte, demzufolge alle Handelswaren klar gekennzeichnet werden mussten, weil der Schwarzmarkt auf den Quarantäneinseln blühte. Die Waren, die nach dem Räuchern und Lüften wieder in den Laderaum zurückwanderten, waren mengen- und qualitätsmäßig nicht immer mit dem identisch, was ausgeladen worden war. Annibale fragte sich, wie viel Geld Bocca im Lauf der Jahre dadurch verdient hatte, dass er Luxusgüter gegen billigere Ware ausgetauscht hatte. Nun, bald würde er sich einen Eindruck von der Ehrlichkeit des Torhüters verschaffen können.
Annibale trat durch einen der großen Bögen in das Tezon. Sobald sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er eine große, gähnend leere Fläche, von deren früherer Nutzung nur noch ein paar alte Fässer und eine oder zwei zerbrochene Kisten zeugten. Die Wände jedoch erzählten ihre eigene Geschichte. Auf jede freie Stelle waren Schriftzeichen und Zeichnungen gekritzelt worden, einige venezianisch, andere osmanisch, wieder andere in ihm unbekannten, fremdartigen Hieroglyphen. Alle leuchteten rot, und wenn dies ein Gefängnis gewesen wäre, hätte er gedacht, sie wären mit Blut geschrieben. Er trat näher heran, rieb mit dem Finger über ein Schriftzeichen und schnupperte an seinem Handschuh. Es war Eisenoxyd, dieselbe Mischung, mit der die Fracht gekennzeichnet worden war. Einige von ihrem vierzigtägigen Zwangsaufenthalt im Lazarett offensichtlich gelangweilte Seeleute hatten ihrem künstlerischen Talent freien Lauf gelassen – hier prangte eine Gondel, dort eine perfekte Galeere, hier ein Ritter und dort ein turbanbewehrter Ungläubiger.
Als Annibale an einem Ende des großen Raums angekommen war, blickte er sich um. Jede Maueröffnung bildete eine natürliche Nische, und er konnte Dutzende von Matratzen dort unterbringen. Er würde nur die offenen Bögen verschließen lassen müssen, um die Kranken vor den Elementen zu schützen.
Annibale duckte sich wieder ins Freie und erklomm die mächtige Grenzmauer, die murada, die der Insel ihren alten Namen gegeben hatte. Entlang der Mauer standen in regelmäßigen Abständen torresin, Wachtürme, auf denen die Marschälle standen und die Schiffe im Auge behielten. Er stieg auf einen davon hinauf und blickte über das Gelände hinweg. Jenseits der Mauern lag eine kleine bewaldete Wildnis, und zwischen den Lorbeer- und Schlehdornbäumen hindurch verlief ein Rundweg. Dahinter erstreckten sich bis zur Lagune führende salzige flache Marschen. Sie waren mit kleinen Tümpeln durchsetzt, die sich perfekt für die Forellenzucht oder als Wäscheteiche eigneten. Ganz hinten am Horizont, so klein, wie ihm diese Insel gestern Abend vorgekommen war, lag Venedig, das aus dieser Entfernung zu einer dornigen Zinnkrone inmitten der Lagune zusammengeschrumpft war.
Annibale stieg die steinernen Stufen wieder hinunter, ging hinten um das Tezon herum und stieß auf einen Brunnen, eine ziemlich große Einfassung mit einer dekorativen Rinne. Bei Brunnen dieser Bauart gab es sieben Schichten von Fels und Sand, die das Wasser filterten, sodass es klar und frisch war. Das steinerne Becken war mit einem Relief des allgegenwärtigen geflügelten Löwen verziert, doch hier war das Buch, das er zwischen den Tatzen hielt, geschlossen.
Annibale war einen Moment lang abgelenkt und beugte sich vor, um genauer hinzusehen. Normalerweise war bei derartigen Darstellungen das Buch aufgeschlagen und die Grußformel für den heiligen Markus – Pax tibi, Marce, Evangelista meus – deutlich in den Stein geritzt. Er fragte sich, was das geschlossene Buch zu bedeuten hatte. Vielleicht, dass irgendetwas versiegelt oder versteckt war.
Was ihn an etwas erinnerte. Er sank auf die Knie, grub ein viereckiges Loch in den weichen Boden, versenkte die Cason-Schatulle tief in der Erde neben dem Brunnen und bedeckte sie sorgsam, damit sie nicht gefunden wurde. Doch er spürte die ganze Zeit lang Augen auf sich ruhen und dachte einen atemlosen Moment lang, der Löwe würde ihn beobachten.
Als er sich erhob, kam eine große graue Katze wie von einem Katapult abgeschossen auf ihn zugejagt, verlangsamte ihre Geschwindigkeit, schlich geradewegs auf ihn zu und stupste gegen seine Hand, damit er sie streichelte. Sie würde eine Enttäuschung erleben.
Annibale schritt an der Häuserreihe entlang. Er spähte in eines der leeren Gebäude – zwei Räume, einer über dem anderen, mit Kamin, gutem Licht und ausreichender Belüftung. Es gab wahrscheinlich über hundert dieser Familienunterkünfte. Alle Häuser waren in einem guten Zustand, nur eines an der Ecke wirkte heruntergekommen und baufällig. Annibale nahm an, dass es einst von Kanonenkugeln getroffen worden war. Nicht alle Schiffe, die von den Beamten zu der Insel beordert worden waren, hatten sich bereitwillig den strikten Quarantänevorschriften der Republik unterworfen.
Dort, wo zwei Häuserreihen aneinandergrenzten, stand eine kleine quadratische Kirche mit einem Kreuz darauf. Annibale ging zu ihr hinüber, gefolgt von der Katze, und trat ein. Er hatte nicht viel Zeit für Religion. Er war zwar zur Frömmigkeit erzogen worden, hatte aber in Padua ein paar radikale Untergrundvorträge von jenen gehört, die die Wissenschaft über Gott stellten. Insgeheim hatte er ihnen manchmal recht geben müssen.
Er drehte sich in dem kleinen Kirchenschiff um. Es gab ein schönes Buntglasfenster aus Muranoglas, das vier Schiffe mit den scharlachroten und goldenen Bannern Venedigs zeigte, die über kleine immergrüne Wellen hinwegflogen. Aber ansonsten sah er nichts als ein paar grob geschnitzte Bänke und ein Holzkreuz auf dem schlichten Altar, weder einen Kelch noch ein Buch. Anscheinend hatte Gott diesen Ort schon vor langer Zeit verlassen. Vögel nisteten in den Deckenbalken.
Doch irgendjemand hatte den Boden gefegt, er konnte Reisigspuren eines Besens im Staub erkennen, und dort, wo jemand versucht hatte, den Vogeldreck von den Bänken zu schrubben, war ein weißer Fleck zurückgeblieben. Annibale prägte sich diese kleine Information ein, konservierte sie in seinem Gedächtnis wie eine seltene Spezies in einer Flasche.
Draußen blickte er zu dem Architrav auf, auf dem in Goldbuchstaben San Bartolomeo stand. Sankt Bartholomäus. Ein guter Name für eine Kirche, ein noch besserer für ein Krankenhaus, dachte er.
Er ging zum Torhaus zurück. Der alte Kauz betrachtete den einfachen Kelch auf dem Tisch vor sich, als könne er Wunder vollbringen. Der Einfaltspinsel, der immer noch im Schatten der Kaminecke kauerte, beobachtete seinen Vater.
Annibale griff nach der Mäuselederbörse. Sie fühlte sich leichter an als vorher. »Ich danke euch«, sagte er. »Und als Lohn für eure Mühe schenke ich euch diesen Kelch. Möge er dir und deinem Sohn Segen spenden, denn hat nicht Jesus selbst die geistig Armen geliebt? Meine Dukaten nehme ich natürlich wieder an mich.« Er durchbohrte den Vater mit einem stechenden roten Blick.
Bocca starrte ihn an. Seine Augen waren so rund wie die Dukaten. Annibale sah einen Anflug von Schuldbewusstsein darin aufflackern und wusste plötzlich, wer die Kirche gefegt hatte. Er betastete die Münzen durch das Mäuseleder hindurch – es waren drei, nicht vier.
»Wartet.« Bocca wand sich geradezu vor Scham. Er öffnete seine schmutzige Hand. »Hier ist eine Münze, die ich … auf … dem Boden gefunden habe. Sie muss aus der Börse gefallen sein, als Ihr sie auf den Tisch gelegt habt.«
Annibale stürzte sich darauf und packte sie mit seiner behandschuhten Hand. Er sah, wie der Mann vor seinem Schnabel zurückzuckte. »Ich danke dir, Bocca. So ehrliche Männer trifft man selten. Und um meinem Dank für deine Aufrichtigkeit Ausdruck zu verleihen, mache ich dir ein Angebot. Der Consiglio della Sanità hat mir diese Insel zugesprochen, um hier ein Pestkrankenhaus einzurichten. Deine Hilfe wäre mir sehr willkommen, deswegen kannst du bleiben und für mich arbeiten.«
Bocca kniete nieder und küsste Annibales Handschuh. »O ja, Dottore, lasst uns bleiben. Wir werden Euch bei allem helfen, so gut wir können.«
Annibale war mit seiner raffinierten Vorgehensweise sehr zufrieden. Er brauchte Bocca, der die Insel seit zwanzig Jahren kannte, und der Mann und sein schwachköpfiger Sohn würden sich ihm gegenüber jetzt absolut loyal verhalten und seine Befugnisse nicht anzweifeln.
»Nun gut. Ich werde morgen wiederkommen. Öffne in der Zwischenzeit niemand anderem das Tor. Ab heute wird diese Insel Lazzaretto Nuovo heißen.«
Zufrieden mit der Arbeit dieses Morgens schlang Annibale seinen schwarzen Umhang um sich und wandte sich zum Gehen.
Die graue Katze folgte ihm bis zum Pier und trottete hinter ihm über die Holzplanken zum Boot. Als Annibale stehen blieb, strich sie ihm um die Beine und blickte hoffnungsvoll zu ihm auf. Annibale packte sie am Nackenfell und hob sie auf. Eine der Regeln auf seiner Insel – denn er betrachtete sie bereits als seine Insel – lautete, dass es hier keine Katzen oder Hunde geben würde, die die Pest verbreiten konnten. Die Katze baumelte ruhig in seinem Griff, und er hob sie hoch, um ihr ins Gesicht sehen zu können, bevor er sie ins Meer warf.
Das erwies sich als Fehler. Die roten Glasaugen blickten in jadegrüne, schwarz umrandete, und Annibale las bedingungsloses Vertrauen darin. Fluchend warf er die Katze stattdessen zur Überraschung des Bootslenkers in das Boot und nahm sie den ganzen Weg zur Fondamenta Nuove mit, bevor er sie in den Straßen von Venedig freiließ.
Zum Dank für seine Mühe trug er einen langen Kratzer davon.