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Sie sah bedrückt aus, aber irgendwie machte sie das nur noch schöner. Sie sah älter und weiser dadurch aus. Ihre Haut war blasser, als Decker sie vom letzten Mal in Erinnerung hatte, die Wangen ein wenig schmaler. Sie trug ein weites Kleid, ein Muster mit Hunderten von Rosen. Ihr langes, rotbraunes Haar war mit einer Blumenspange im Nacken zusammengenommen. Sie hätte eine Adlige aus viktorianischer Zeit sein können.

Decker zeigte auf einen Stuhl neben seinem Tisch. »Du bist nicht mit ihm gegangen, Terry?«

»Sieht ganz so aus.«

»Bist du an der UCLA?«

Sie nickte. »Im Augenblick ja.«

»Bist du böse auf mich?«

Die Frage überraschte sie. »Darüber habe ich nie nachgedacht. Vielleicht.«

Decker lächelte leise, aber sie lächelte nicht zurück. Ihre Augen wurden feucht. »Ich dachte, das hier interessiert Sie vielleicht«, sagte sie. »Ich habe es gestern mit der Post bekommen.«

Sie reichte Decker einen Zeitungsausschnitt.

Gesellschaftsseite.

Ein Schwarzweiß-Bild. Die Braut war ein übergewichtiges Mädchen mit einem runden, durchschnittlichen Gesicht. Aber irgendwie überstrahlte die Freude in ihrem Ausdruck die ganze Unansehnlichkeit, die ihr von Gott mitgegeben war. Der Bräutigam sah alles andere als begeistert aus, aber auch nicht übermäßig unglücklich. Mehr erleichtert als alles andere. Als wenn er nun den Tiefpunkt erreicht hätte und jetzt einfach alles besser werden musste.

Decker las:

DONATTI UND BENEDETTO TAUSCHEN DIE RINGE.

Er überflog den Artikel und las laut: »Christopher Sean Donatti …« Er hielt inne. »Chris hat seinen Namen geändert?«

»Wahrscheinlich. Er ist schließlich Joseph Donattis Sohn.« Terry nahm ihm den Artikel wieder ab und steckte ihn in ihr Portemonnaie. »Chris’ subtile Art, mir zu sagen, dass ich hingehen soll, wo der Pfeffer wächst.«

»Ich glaube nicht, dass er überglücklich ist, Terry.«

»Wer weiß? Er hängt mehr der Rache an als der Liebe. Das hat er mir mal gesagt. Jetzt glaube ich ihm.«

»Für dich ist es viel besser so.«

»Da bin ich mir nicht so sicher. Ich bin schwanger.«

Decker ließ sich nichts anmerken, aber innerlich verdrehte sich ihm der Magen. Er wartete, dass sie etwas sagen würde, aber sie tat es nicht. Also fragte er: »Hast du es deinen Eltern gesagt?«

»Als Erstes«, sagte Terry. »So bin ich eben. Verantwortungsbewusst bis zum Letzten.«

»Und?«

»Na ja. Ich habe verschiedene Möglichkeiten. Ich kann es zur privaten Adoption freigeben – das Lieblingsmodell meiner Eltern. Sie sind katholisch und betrachten eine Abtreibung als Todsünde. Und wenn ich es privat mache, können sie die zu erwartenden Adoptiveltern für meine medizinische Betreuung zur Kasse bitten.«

Sie sah zu Boden, dann wieder hoch.

»Ich kann es natürlich auf eigene Kosten abtreiben lassen. Aber dazu bin ich wieder zu katholisch. Und wenn Chris das herausfindet, dann würde er mich, glaube ich, wirklich umbringen. Die letzte Möglichkeit lautet: Ich behalte es und ziehe es groß. Aber dann wäre es aus mit dem Vollzeitstudium. Weil ich ja arbeiten müsste. Meine Eltern haben mir rundheraus gesagt, dass das Ganze mein Problem ist. Also soll ich am besten gleich von Anfang an selber sehen, wie ich damit zurechtkomme.«

Niemand sagte etwas.

Schließlich fuhr sie fort. »Natürlich würden sie mir einen Preisnachlass für Zimmer und Verpflegung geben, wenn ich bei ihnen bleibe.«

»In welchem Monat bist du, Terry?«

»Ungefähr in der zwölften Woche.« Sie sah ihn mit trockenen Augen an. »Inzwischen habe ich mir eine eigene Lösung ausgedacht, schließlich bin ich ja kreativ. Ich ziehe nach Chicago, wenn das erste Vierteljahr an der Uni rum ist … also kurz vor Weihnachten. Meine Großeltern mütterlicherseits leben dort. Wir haben im vergangenen Jahr ziemlich viel miteinander gesprochen. Sie sind wunderbare Menschen … pensioniert, aber noch gar nicht so alt … Ende fünfzig.«

Sie wischte sich die Augen.

»Ich habe ihnen die Situation erklärt. Sie haben darauf bestanden, dass ich zu ihnen ziehe, und gesagt, sie würden mir helfen, wenn ich es behalten will … Babysitten, während ich teils zur Uni, teils zur Arbeit gehe. Sie sagten, sie würden es gerne tun. Ich hoffe, sie meinen das auch.«

Sie presste die Lippen aufeinander und schnalzte.

»Ich werde es also behalten, ich denke, ich bin wohl vorbeigekommen, um mich zu verabschieden.«

Decker schwieg.

Terry lachte leise. »Es ist doch wirklich eine Ironie. Den Kontakt zu meinen Großeltern hat ursprünglich Chris hergestellt. Man weiß nie, was das Leben noch für einen bereithält. Ich komm schon zurecht. Ich bin intelligent. Ich kann hart arbeiten, und ich wachse an Widerständen. Und obwohl Chris kaputt ist, hat er ein paar beeindruckende, brachliegende Talente. Zwischen all dem psychopathologischen Zeugs sind auch ein paar gute Gene versteckt. Ich werde ein wundervolles Baby haben.«

»Da bin ich ganz sicher.«

»Wenigstens werde ich von dem ganzen Ausgehquatsch nicht abgelenkt sein. Ich glaube, Jungs sind erst mal für lange Zeit weg vom Fenster.«

Wieder wurde es still im Raum. Dann sagte Decker: »Wirst du es ihm sagen, Terry?«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe daran gedacht, aber es steht außer Frage. Wir sind nicht gerade freundschaftlich auseinander gegangen. Ich habe Angst vor ihm … was er mit mir machen würde … und mit dem Baby. Manche Dinge behält man besser für sich.«

»Er hat dir den Artikel geschickt, Terry. Er hat dich nicht vergessen.«

»Das war nur aus Bosheit, um mir zu sagen, dass er mich nicht braucht. Ein Messer in den Rücken. Wenn Chris von etwas nichts mehr wissen will, kann er vollkommen loslassen. Ich weiß noch gut, wie er mich in der Highschool völlig ausgeblendet hat. Es gab nicht mal ein Nicken, wenn wir uns auf dem Flur begegnet sind.«

»Meinst du?«

»Ich war dabei, Ser … Sie sind jetzt Lieutenant, stimmt’s?«

»Stimmt.«

»Na jedenfalls glaube ich nicht, dass Chris noch einen Pfifferling für mich gibt.«

»Da bin ich mir nicht so sicher, Terry. Er hat mir erzählt, dass er von dir besessen war, und dich nicht aus den Augen gelassen hat, wenn du nicht hingesehen hast.«

Sie sagte nichts.

»Terry, er wird es herausfinden. Vielleicht wäre es besser, wenn es direkt von dir käme.«

Sie sah zur Decke. »Er wird es nicht herausfinden.«

Decker antwortete nicht.

Sie zuckte die Achseln. »Und wenn er es tut, que será, será – ich kann mich wohl kaum gegen einen Profikiller schützen.«

Decker spürte ihre Seelenpein. Sie lächelte, als ob sie es fühlen könnte.

»Irgendwie werde ich diesen ganzen Schlamassel überstehen – mein Baby aufziehen … eine Ausbildung machen. Ich bin clever. Und ich bin zäh.«

»Da widerspreche ich nicht«, sagte Decker.

Sie lachte unter Tränen. »Danke, dass Sie mich empfangen haben. Ich habe von Ihnen gelernt, wissen Sie?«

»Von mir?«

»Von Ihnen. Ich habe gelernt, dass man Fehler … sogar große Fehler machen … und dann trotzdem noch das Richtige tun kann. Sie haben Chris aus dem Gefängnis geholt, obwohl Sie wussten, wer er war. Weil Sie an etwas Höheres geglaubt haben.«

»Das ist eine sehr wohlwollende Auslegung«, sagte Decker. »Aber ich nehme das Kompliment trotzdem an.«

Sie stand auf. »Ich gehe jetzt besser.«

»Brauchst du irgendetwas, Terry?«, fragte Decker. »Ich könnte dir bei der Fürsorge weiterhelfen.«

»Nein, danke. Ich schlage mich schon auf meine Weise durch. Darf ich Ihnen von Zeit zu Zeit einen Brief schreiben?«

»Selbstverständlich.«

»Glückwunsch zu Ihrer Beförderung.«

»Danke.«

Sie winkte Decker zaghaft zu, dann ging sie und versuchte, die Tür hinter sich zuzumachen.

»Lass nur«, sagte Decker. »Die ist kaputt.«

Terry schenkte ihm ein berückendes Lächeln. »Sind wir das nicht alle?«

Decker lachte und folgte mit den Augen ihrem schwingenden Kleid, während sie durch den Einsatzraum ging. Er seufzte. Ein willensstarkes Mädchen, Rina nicht unähnlich, und Cindy auch nicht. Mit ein bisschen Hilfe würde sie schon zurechtkommen.

Wenn Whitman sie nicht vorher umbrachte.