7

Mitten in der Nacht schrieb ich Briefe an meine Großeltern und entfernte mich dabei immer mehr von meinem Vater und meiner Stiefmutter. Jean versuchte mit geschmacklosen Vorstößen in meine Privatsphäre, hinter mein Geheimnis zu kommen. Sie dachte offensichtlich, dass ich heimlich einen Freund hatte. Ich antwortete ihr höflich, verriet aber nichts. Mein Vater bemerkte mein verändertes Verhalten nicht einmal. Für ihn war ich wie ein Haustier. Solange ich gesund war und nicht auf den Teppich pinkelte, wurde mir mit wohlwollender Nichtbeachtung begegnet.

Die Schulwoche verging wie im Flug. Jetzt, da Chris fort war, musste ich wieder zu Fuß nach Hause gehen. Am Dienstag wartete Bull – ehemals Steve – Anderson nach dem Unterricht an meinem Spind und bot an, mich mitzunehmen. Der Starstürmer der Schule – neben Chris – war genauso stürmisch mit Sex und Drogen und Alkohol. Steve war ein hübscher Junge und versteckte sich hinter einem verbindlichen Lächeln. In dem Jahr, als ich ihm Nachhilfe gegeben hatte, war er immer freundlich zu mir gewesen. Aber darüber hinaus hatte er mich keines Blickes gewürdigt.

Bei der Heimfahrt spürte ich eine Veränderung – dieser hungrige Ausdruck in seinem Gesicht, wenn er mich ansah. Ich saß stocksteif auf dem Beifahrersitz in seinem Camaro und hörte kaum auf das, was er sagte. Als er vor unserem Haus anhielt, sagte er, ich müsse lockerer werden und auch mal ein bisschen Spaß haben. Er lud mich zu einer Party am selben Abend ein. Ich lehnte dankend ab, ich hätte Hausaufgaben zu machen. Als ich die Haustür hinter mir schloss, schob ich den Riegel vor.

Als Steve mich am nächsten Tag auf dem Schulgelände sah, grüßte er mich so flüchtig, dass es gerade eben nicht unhöflich war. Ich war erleichtert.

Chris rief mich am Freitagmorgen danach an. Beim Klang seiner Stimme lief mir ein Schauer über den Rücken. Er würde nicht in die Schule kommen, aber ich solle bitte am Abend zur üblichen Zeit in seiner Wohnung sein.

Mir zitterten die Knie, als er mir an diesem Abend die Tür aufmachte. Er trug eine ausgewaschene Jeans und dazu ein schwarzes T-Shirt mit schwarzseidenem Jackett. Sein Haar war im Nacken stufig geschnitten, hing ihm aber vorne lang und ungebändigt in die Stirn. An seinem Hals baumelte ein goldenes Kruzifix. Er nahm mir die bleischweren Taschen ab, die ich dabeihatte.

»Willkommen daheim«, sagte ich.

»Danke.« Er wuchtete die Büchertaschen auf die Küchentheke. »Die sind aber schwer. Beim nächsten Mal lass sie einfach im Auto. Dann trage ich sie rauf.«

Er schenkte mir eine Tasse Kaffee ein und sagte, ich solle mich setzen. Ich zog mir einen Hocker heran. »Wie ist es gelaufen?«

»Reibungslos«, sagte er. »Mit der Arbeit habe ich nie Probleme. Und wie steht’s bei dir?«

»Prima. Allerdings ein bisschen nervös.«

»Und warum?«

»Mr. Hedding hat für nächsten Montag eine Orchesterprobe angekündigt.«

»Welches Stück?«

»Brandenburgisches Konzert Nr. 2. Es ist mir peinlich, vor dir zu spielen.«

»Warum?« Er schenkte sich einen Scotch ein. »Ich höre dich doch nicht zum ersten Mal.«

»Schon, aber jetzt ist es anders. Ich kenne dich.«

»Du siehst ständig, wie ich mich mit dem Lernen abmühe. Mir ist das nicht peinlich. Und dir sollte es das auch nicht sein.«

»Aber das ist etwas anderes.«

»Warum?«

Ich stützte die Ellenbogen auf. »Weil es so … entblößend ist, wie schlecht ich spiele. Und es ist so … exponiert … so vor aller Öffentlichkeit.«

»Das hat dir bisher nie etwas ausgemacht.«

»Weil ich dir hinterher nicht in die Augen sehen musste.«

Chris streckte einen Finger in die Luft, verschwand und kam einen Augenblick später mit einem Geigenkasten zurück. Er nahm das Instrument heraus, stimmte es und winkte mich dann von meinem Hocker herunter.

»Spiel für mich.«

Er hielt mir die Geige hin. Ich sah sie an, als wäre sie ein Unheil bringender Talisman. »Ich habe keine Noten dabei.«

Er setzte sich auf seine Ledercouch und nippte an seinem Drink. »Spiel irgendwas, was du auswendig kannst.«

»Ich kann überhaupt nichts auswendig.«

»Dann zieh einfach nur den Bogen über die Saiten. Irgendeinen Ton, okay?«

Ich seufzte. Ich hatte nur deshalb gute Noten in Musik, weil ich immer pünktlich zu den Proben erschien und alle Arbeiten mitschrieb. An meinem musikalischen Können lag es jedenfalls nicht. Mit rot angelaufenem Gesicht fing ich an, die Saiten zu streichen. Mir zitterten die Hände. So ähnlich musste sich eine Katze anhören, der gerade jemand den Hals umdreht. Ich setzte das Instrument ab und kicherte, aber Chris machte ein völlig ungerührtes Gesicht.

»Mach weiter.«

»Ich weiß doch, was du für ein empfindliches Gehör hast. Wie kannst du das aushalten?«

»Spiel weiter.«

Ich spielte mein Prüfungsstück so gut es ging auswendig. Ich verspielte mich andauernd. Es klang furchtbar. Ich war den Tränen nahe, wartete nur darauf, dass er das Gesicht verziehen würde, aber er saß ungerührt da.

»Spiel’s noch mal.«

»Chris …«

»Spiel es noch mal.«

»Das ist Folter!«

»Spiel es noch mal.«

Ich tat es. Jetzt klang es ein wenig besser, und Chris machte mir ein Kompliment in dieser Richtung. »Kann ich jetzt bitte aufhören?«, fragte ich.

Chris erhob sich von der Couch, nahm die Geige.

»Sie hat einen wunderschönen Klang«, sagte ich. »Ich wünschte, ich könnte dem Instrument gerechter werden. Warum spielst du das Stück nicht mal.«

Er zuckte die Achseln, klemmte die Geige unters Kinn und legte ein Concerto hin, das nicht nur fehlerfrei, sondern auch im Klang perfekt war. Ich sagte ihm, dass ich ihn hasste.

Er lächelte, legte die Geige weg und klopfte dann auf seinen Jackentaschen herum. »Wo hab ich denn … ah, da ist es ja.« Er zog ein kleines, in Geschenkpapier gewickeltes Päckchen hervor. »Vielleicht hasst du mich dann nicht ganz so sehr.« Er gab es mir.

Ich sah erst das Päckchen, dann ihn an.

»Für mich?«

»Ja, für dich. Mach es auf.«

Ich riss das Papier auf. In dem Päckchen waren zwei Ohrstecker mit Perlen. Mein Blick wanderte von ihm zu den Perlen und dann wieder zu ihm zurück. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»Ein einfaches Danke reicht. Probier sie an.«

Ich tauschte meine Goldringe gegen milchig-weiße Kugeln ein. »Wie sehen sie aus?«

»Sie sehen sehr schön aus. Oder besser, du siehst wunderschön damit aus.«

»Ich verstehe nicht …«Ich senkte die Augen, dann sah ich ihn an.

»Was soll ich sagen, Terry?« Chris sprach sehr sanft. »Du weißt ja, dass ich mit einer anderen verlobt bin. Aber das Herz geht seine eigenen Wege.« Er kam zu mir herüber und legte den Arm um meine Taille. »Liebst du mich, Terry?«

Ich bejahte, ohne zu zögern.

»Ich liebe dich auch. Und was machen wir jetzt?«

Ich schmiegte mich an seine Brust, ließ mich von seinem Herzschlag beruhigen. »Ich weiß nicht.«

Er sagte: »Wenn zwei Menschen sich lieben, drücken sie das normalerweise durch intime Handlungen aus. Aber ich kann dich nicht bitten, mit mir zu schlafen. Weil ich jemand anderen heiraten werde.«

»Willst du von mir hören, dass das nichts ausmacht?«

Er hielt mich ganz fest. »Macht es denn nichts aus?«

Ich antwortete nicht. Er sagte: »Seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, bist du mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Und das heißt sehr viel. Ich bin nämlich normalerweise ein Meister im Verdrängen. Ich will nicht mit dir schlafen, weil ich dir am Ende damit weh tun werde. Aber es gibt andere Formen, miteinander intim zu sein.«

Ich hob den Kopf und schaute ihm in die Augen. Er sah mir meine Verwirrung an.

»Lass mich dich zeichnen«, sagte er. »Ganz.«

Ganz. Eine Aktzeichnung. Mein Herz fing an zu rasen. Ich schloss die Augen und vergrub mich in seiner Umarmung.

»Sieh mich an, Terry«, sagte er. »Vertraust du mir?«

Ich öffnete die Augen, sagte aber nichts.

»Tust du das?«

Ich lächelte schwach. Er nahm meine Hände und küsste einen Finger nach dem anderen. »Terry, ich weiß, was sie dir beigebracht haben, deswegen weiß ich auch, was du jetzt empfindest.« Er legte meine Hand an seine Wange. »Verwirrung, Scham …«

»Ich bin nicht mehr so fromm, Chris.« Ich zog meine Hand fort. »Ich war seit über einem halben Jahr nicht mehr zur Beichte.«

»Aber der ganze Mist ist noch da, oder?«

»Es ist kein Mist.«

Er wartete. Als ich weiter schwieg, zog er mich an sich und sagte: »Weißt du, die Italiener sind den Iren in Sachen Katholizismus ein Stück voraus. Ich meine, die Italiener haben auch ihre Schuldgefühle, aber sie sind irgendwie … flexibler. Mein Gott, selbst meine Tante Donna, die wirklich eine sehr, sehr altmodische Katholikin war, konnte auch mal fünfe gerade sein lassen. Sie hat mich mal dabei erwischt, wie ich diese Zeichnungen machte.«

Er lächelte bei der Erinnerung daran.

»Wirklich eindeutige Bilder … von Mädchen und Jungen … na, jedenfalls, damals war ich dreizehn und selbstmordgefährdet, weil meine Mutter gestorben war. Was sollte ich sonst tun?«

Ich umarmte ihn ganz fest.

Chris sagte: »Die alte Dame war sehr klug. Weißt du, was sie getan hat?«

»Was?«

»Sie ist mit mir zum Metropolitan gegangen, dem Kunstmuseum, nicht der Oper. Binnen einer Woche haben wir den Laden von oben bis unten abgelaufen. Dabei haben wir uns besonders auf religiöse Kunst konzentriert – die ist gespickt mit Nackten, ob du’s glaubst oder nicht.«

Ich nickte.

Chris flüsterte. »Terry, es hat mein … Bild von dem, was der menschliche Körper ist, völlig verändert. Aus etwas Verborgenem und Peinlichem wurde etwas unglaublich Schönes. Mein Körper ist schön. Dein Körper ist schön. Und ich will ihn.«

Ich reagierte nicht.

»Hör zu, wir machen das Schritt für Schritt. Wann immer du aufhören willst, sag einfach stopp. Ich schwöre dir, dass ich dann aufhören werde. Bitte tu’s für mich.«

Ich biss mir auf die Lippe. »Für dich würde ich alles tun.«

Chris zog mit dem linken Zeigefinger mein Profil nach – ein Vorspiel zum Zeichnen. »Ich weiß, was du mir schenkst. Danke, dass du mir vertraust. Ich verspreche dir, dass ich dich nicht enttäuschen werde.« Er löste sich von mir und sah sich im Raum um. Dann rieb er sich den Nacken. »Hier drin ist das Licht wahrscheinlich besser, mit den Strahlern und so.« Er sah mich an. »Aber ich würde dich lieber im Schlafzimmer malen. Das ist persönlicher.«

Er nahm mich bei der Hand und führte mich in das andere Zimmer. Hier gab es ebenfalls einen Panoramablick und eine Menge Einbauschränke. Kein noch so kleiner Gegenstand, der nicht an seinem Platz gewesen wäre. Nicht weiter überraschend. Chris war zwanghaft ordentlich.

Er hängte seine Jacke in den Schrank und zeigte auf ein breites Doppelbett, das mit einem schwarzen Überwurf bedeckt war. »Setz dich einfach mal dort hin. Die Decke wird den perfekten Hintergrund abgeben. Ich möchte noch ein bisschen zusätzliche Beleuchtung holen.«

»Willst du Fotos machen?«, fragte ich.

»Nein. Nur ich und meine Kohlestifte.«

»Was wirst du damit machen?«

»Den Zeichnungen?« Chris grinste. »Ach, mein kleines Mädchen, du ahnst es nicht. Ich werde sie mir ansehen, wenn ich allein und einsam bin … was häufig vorkommt. Für den Rest des Jahres werden sie sicher verstaut und unter Verschluss sein. Ich schwöre dir, sie sind nur für meine Augen bestimmt. Bin gleich wieder da.«

Eine Minute später kam er mit mehreren Lampen, einer Staffelei, einem Zeichenblock, Malutensilien und einer Flasche Chivas Regal bepackt zurück. Er lud alles auf dem Boden ab und goss sich erst mal den nächsten Drink ein. »Kriegt Jean einen Anfall, wenn du nicht zu einer bestimmten Zeit zu Hause bist?«

»Nein«, sagte ich. »Meine Eltern sind heute Abend aus. Melissa schläft bei einer Freundin. Lass dir nur Zeit.«

»Gut.« Er brauchte ungefähr eine halbe Stunde, um alles vorzubereiten. »Soll ich ein bisschen Musik auflegen, bevor wir anfangen?«

»Das wäre schön.«

Chris zog eine Schublade auf und nahm einen CD-Kasten heraus. »Mal sehen, was ich anzubieten habe – Pearl Jam, Spin Doctors, Metallica, Crash Test Dummies, Greenday, Eric Johnson, Joe Satriani, Nicholas Gage, Yo Yo Ma, Jacqueline DuPres, Vivaldis Vier Jahreszeiten …« Er sah auf. »Das ist leicht und angenehm. Wie wär’s damit?«

Ich nickte. Er legte die Musik auf und forderte mich auf, in die Mitte des Bettes zu rücken.

»Lass deine Sachen erst mal an. Bleib einfach so wie jetzt sitzen, Terry. Die Knie so vor die Brust gezogen und die Schultern nach vorne gebeugt. Aber lass den Kopf oben und sieh mich an … jetzt nach links … perfekt. So bleiben, okay?«

Nichts leichter als das. Er musterte mich eingehend, dann begann er mit schwungvollen Bewegungen Striche aufs Blatt zu werfen.

»Darf ich reden, während du mich zeichnest?«, fragte ich.

»Auf jeden Fall.« Er sah mich an, dann wieder zurück auf seine Staffelei. »Sag, was immer du auf dem Herzen hast.«

»Hast du Lorraine getroffen, während du im Osten warst?«

Er war beschäftigt und antwortete nicht. Dann blätterte er das Blatt mit der Zeichnung um und fing von vorne an. »Ja, ich habe Lorraine gesehen.«

»Habt ihr euch gut verstanden?«, fragte ich.

»Gut verstanden?« Er schaute mit zusammengekniffenen Augen aufs Papier. »Willst du wissen, ob ich mit ihr geschlafen habe? Ja, ich habe mit ihr geschlafen.«

Ich sagte nichts.

»Sieh mich an, Terry.«

Ich gehorchte.

»Ah, welche Qual in diesen wunderschönen Augen.« Chris fing ein neues Blatt an. »Ich habe es getan, weil es von mir erwartet wurde. Hab die Augen zugemacht und mir dich vorgestellt. Sie bedeutet mir nichts. Ich heirate nicht Lorraine, ich heirate ihre Familie. Mein Onkel hat das Ganze arrangiert, als ich vierzehn war.« Sein Blick ging von mir zu seiner Zeichnung. »Glaub mir, wenn ich könnte, würde ich die Geschichte beenden. Aber man muss schon sehr gute Gründe haben, um sich mit meinem Onkel anzulegen.«

»Aber du liebst sie nicht.«

»Das zählt nicht als guter Grund.« Er trat zurück und musterte seine Arbeit. »Es ist kalt hier drin. Ich werde mal die Heizung aufdrehen. Solange kannst du dich bis auf BH und Slip ausziehen, ohne dass ich dir dabei zusehe. Und dann setz dich bitte wieder genauso hin wie jetzt. Wenn du kalte Füße hast, lass deine Strümpfe an.«

Er verschwand. Langsam zog ich Pullover, Jeans und Schuhe aus. Ich fröstelte in meiner spärlichen Bekleidung und rieb mir die Arme. Als er wieder hereinkam, warf er mir einen Blick zu, sah, dass ich schlotterte. Ohne mich anzusehen, legte er mir eine Decke über die Schultern.

Ich weiß, was sie dir beigebracht haben, also weiß ich auch, was du jetzt empfindest.

Er wusste genau, was ich empfand. Tat alles, was er konnte, um es mir leichter zu machen, mir das Gefühl zu geben, ich sei schön. All die Schuldgefühle, die Scham … er hatte Recht. Das war Unsinn. Ich musste das alles überwinden. Ich würde nicht mit mir selber weiterleben können, wenn ich ihn enttäuschte.

»Du kannst die Decke abnehmen, wann du möchtest.« Chris rieb sich die Hände und sah seine Zeichnungen durch.

»Darf ich mal sehen?«

»Wenn wir fertig sind.«

Ich ließ langsam die Decke über meinem Oberkörper hinabrutschen, bis sie nur noch die Beine bedeckte.

Chris ließ den Blick über meine nackten Schultern gleiten. »Hübsch.« Er fing eine neue Zeichnung an. »Wirklich hübsch. Sieh hoch, Ter.«

Ich hob den Kopf. Da war nichts Lüsternes in seinen Augen, und ich fühlte mich gleich besser. Ich sagte: »Warum ist ›Du liebst sie nicht‹ kein guter Grund?«

Er begann mit dem Daumen die Konturen zu verwischen. »Schon mal was von Joseph Donatti gehört?«

Ich legte die Stirn in Falten und versuchte den vertraut klingenden Namen mit irgendeinem Ereignis in Zusammenhang zu bringen.

»Vor ungefähr vier Jahren waren sämtliche Zeitungen voll von seinem Mordprozess.« Chris’ Finger waren schwarz. »Davor war er schon wegen Erpressung, Schutzgelderpressung, Bestechung … äh, Kuppelei und Drogenhandel … und Geldwäsche verhaftet worden. Sie haben ihm nie etwas anhängen können. Die Beweise gingen irgendwie verloren.«

Ich starrte ihn mit offenem Mund an.

»In dem Mordprozess wurde er übrigens freigesprochen. Die Zeugen erzählten entweder eine andere Geschichte, oder sie verschwanden auf mysteriöse Weise.«

Ich schwieg und überlegte, ob er mir einen Bären aufbinden wollte.

Chris spuckte in die Hände, rieb die Handflächen gegeneinander und fing an, die Feuchtigkeit in das Papier einzuarbeiten. »Mein Onkel gehört zur Mafia, Terry. Und ich rede nicht von kleinen Gangstern, die witzige Chargen beim Film abgeben würden. Ich meine die richtige Mafia. Lorraine ist ein Mafia-Kind. Sie gehört zu einer rivalisierenden Familie. Unsere Verlobung hat beiden Familien einen Waffenstillstand und eine Menge Geld eingebracht. Wenn dir jetzt warm genug ist, wirf die Decke auf den Boden.«

Ganz automatisch tat ich, was er sagte. Ich war wie vom Donner gerührt. Es lag an der Art, wie er erzählte – so selbstverständlich, als redete er von einem Nachmittagsausflug.

Chris schlug das Blatt um und fiel mit neuer Verve über das jungfräuliche Papier her. »Ich möchte, dass du weißt, dass ich nichts mit den Aktivitäten meines Onkels zu tun habe. Alles, was ich will, ist ein nettes, ruhiges Leben als klassischer Cellist. Unglücklicherweise bin ich aber ein Unterpfand in einem Kriegsspiel, das von zwei sehr gefährlichen Männern ausgetragen wird. Wenn ich die Verlobung platzen lasse, werden Köpfe rollen. Zuallererst mein eigener.«

Ich stotterte: »Dein Onkel würde dich … umbringen?«

Chris zeichnete weiter. »Nee, du hast Recht. Mich würde er nicht umbringen.« Seine Augen trafen meinen Blick. »Ich wäre ja nicht das Problem.«

Mein Gehirn nahm sich Zeit, seine Worte zu verarbeiten. Ich fühlte, wie mir schwindelig wurde. Chris hörte auf zu zeichnen, legte die Decke um meinen zitternden Körper und hielt mir einen Scotch vor die Nase. »Trink.«

»Ich will keinen …«

»Trink!«

Ich nahm einen Schluck und fing sofort an zu husten. Er klopfte mir den Rücken. »Noch einen Schluck.«

»Mir wird übel dav …«

»Trink es, Terry.«

Ich schlürfte die rauchige Flüssigkeit in den Mund. Ich hatte noch nie verstanden, warum Leute Alkohol trinken, um einen klaren Kopf zu bekommen. Mir wurde davon nur schlecht. Ich wickelte mich in die Decke und stützte meinen hämmernden Schädel in die Hände.

»Alles in Ordnung? Du bist ganz weiß.«

Ich flüsterte, es gehe mir gut.

Er ließ ein leises Lachen hören. »Ehrlichkeit ist wahrscheinlich nicht immer so ganz das Richtige. Terry, dir wird nichts passieren. Meinem Onkel ist es völlig egal, was ich tue, solange ich zur Hochzeit erscheine. Weißt du, ich könnte meinem Onkel von dir erzählen, jetzt, in diesem Moment …«

»Tu das bitte nicht.«

»Werde ich nicht, aber ich könnte.« Er legte den Arm um mich. »Wahrscheinlich würde ich ihm Leid tun. Ein Mädchen lieben und ein anderes heiraten. Er weiß, wie das weh tut. Er hat seine Freundin nämlich sehr geliebt.« Er nahm mir die Decke von den Schultern. »Möchtest du noch einen Schluck Scotch?«

»Nein.«

»Kannst du deinen BH für mich ausziehen?«

Ich schloss die Augen. »Chris, ich fühle mich nicht sehr gut.«

»Möchtest du aufhören?«

Ich öffnete die Augen wieder und schaute in seine – undurchdringlich. »Nein.« Meine Stimme schwankte. »Nein, ist schon in Ordnung.«

»Bist du sicher?«

Ich antwortete ihm, indem ich meinen BH auszog. Er starrte lange auf meine Brüste, bevor er wieder zu seiner Staffelei zurückging. »Beug dich vor, wie du’s vorhin gemacht hast.«

Dem kam ich gerne nach, denn so verhüllten meine Knie den größten Teil meiner Nacktheit.

Er fing eine neue Zeichnung an. »Du bist sehr, sehr schön.«

»Danke.«

»Du darfst dich nie dessen schämen, was Gott dir mitgegeben hat, hörst du?«

Ich nickte.

Er machte eine Zeichnung, dann noch eine und noch eine. Während er sich durch den Block arbeitete, um ihn dann schnell durch einen neuen zu ersetzen, redeten wir kein Wort. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Mir ist heiß«, sagte er. »Ich ziehe mein Hemd aus.«

Ich zuckte die Achseln. Er arbeitete mit nacktem Oberkörper weiter. Sein Körper war hart und durchtrainiert, aber nicht übermäßig. Kein Anabolika-Schlucker: zu viele Haare auf der Brust und eher sehnig als mit Muskeln bepackt. Ich musste an Bull Anderson denken, wie er einmal nach dem Unterricht in der Badehose durch die Schule stolziert war, mit geölter, haarloser Hünenbrust, von Akneinseln gerötet.

Chris trat einen Schritt zurück und fummelte an seinem Kruzifix herum. Er sah mich an. »Du hast wieder Farbe im Gesicht. Also geht’s dir bestimmt besser.«

Ich nickte.

»Gut.«

Ich sagte: »Du hast in der Vergangenheitsform von der Geliebten deines Onkels gesprochen. Was ist mit ihr passiert?«

»Sie ist gestorben.«

»Hat er sie umgebracht?«

Chris’ Kopf schnellte hoch. »In gewisser Weise stimmt das wohl.«

Ich wartete auf mehr, aber er fügte keine Erklärung an. Er zeichnete mit wilden Bewegungen. »Du kannst jetzt deinen Slip ausziehen.«

Ich erstarrte.

Chris sagte: »Wenn dir das zu viel ist, Teresa, vergessen wir das Ganze. Diese Sache soll uns einander näher bringen, nicht Mauern zwischen uns aufbauen.«

Er sprach sanft und beruhigend, so als ginge es ihm nur um meine Gefühle. In diesem Moment hätte ich wahrscheinlich auch Gift für ihn getrunken. Stattdessen zog ich meinen Slip aus, die Knie immer schön angewinkelt und die Beine zusammengepresst.

Chris kam zu mir herüber. Er muss gespürt haben, wie klein und unbedeutend ich mich fühlte, während er so über mich gebeugt dastand, also kniete er sich hin und sagte sehr leise: »Tu’s mir zuliebe, mein Engel. Du kannst mir vertrauen, ich schwör’s.«

Ich konnte mich immer noch nicht rühren.

Er legte die Hände auf meine Knie und schob meine Beine auseinander, bis die Füße ungefähr sechzig Zentimeter Abstand hatten. Sein Gesicht war so nah, dass ich die warme Luft auf der Innenseite meiner Oberschenkel spürte. Seine Haut war gerötet, die Augen geweitet. Ich konnte seinen Atem hören. Er verharrte so lange in dieser Position, dass es mir wie eine Ewigkeit vorkam.

Schließlich ließ er ein gepresstes Lachen hören. »Ich schwöre bei Gott, dass ich nicht aufstehen kann. Ich kann mich nicht bewegen. Ich bin … zu geschwächt.«

Ich lächelte.

Er schloss die Augen, bekreuzigte sich und stand schließlich auf. Dann warf er den Kopf zurück und brach in unbändiges Gelächter aus. »Na, das war ja mal was Neues.« Er ging langsam zu seinem Zeichenblock zurück. »Bleib so.«

Er lachte wieder. Es wirkte ansteckend, und ich begann mich zu entspannen. Nach einer Weile wanderten meine Augen zu der unübersehbaren Wölbung in seinem Schritt. Ich spürte ein Kitzeln in den unteren Regionen und fragte mich, ob er es wohl bemerkte. Einen Augenblick später bedachte er mich mit einem wissenden Lächeln.

»Du böses Mädchen! Halt den Blick nach oben und nicht auf meine Lenden.«

»Du darfst doch auch gucken, warum ich nicht?«

»Es stört mich nicht, wenn du mich ansiehst«, erklärte er. »Aber ich muss deine wunderschönen Augen sehen.«

»Du siehst mir nicht in die Augen. Christopher.«

Wieder lächelte Chris. »Du bist eine ganz Schlimme, Teresa. Natürlich sehe ich dir in die Augen.« Er blätterte zu einer neuen Seite um. »Wenn du gar so neugierig bist, kann ich meine Hose ausziehen.«

»Ich passe. Mehr als einen Schock pro Tag verträgt mein Herz nicht, und ich habe noch genug mit den Todesdrohungen von deinem Onkel zu tun.«

»Terry, dir wird nichts passieren.« Er musterte erst mich, dann seine Zeichnung. »Ich … ich würde mich eher selber umbringen, bevor ich zuließe, dass dir etwas zustößt. Du bist ja vielleicht nicht groß, aber du hast einen einsneunzig großen und hundertachtzig Pfund schweren Killer-Roboter zu deiner Verfügung. Immer zu Diensten. Verlässlicher als ein Bullterrier, und ich stinke nicht mal aus dem Mund. Halt still.«

»Chris?«

»Ja?«

»Wie ist die Geliebte deines Onkels gestorben?«

Er antwortete nicht. Ich hakte nicht nach. Er zeichnete eine halbe Stunde lang schweigend. Schließlich legte er die Zeichenkohle hin und zog sein Hemd an. Dann nahm er die Decke vom Boden auf. Er legte sie mir um die Schultern.

»Sie ist an Brustkrebs gestorben. Sie war schon lange krank, aber sie hatte Angst, zum Arzt zu gehen. Sie fürchtete sich davor, ihre Brust zu verlieren und den Körper zu entstellen, den er so sehr liebte. Sie kümmerte sich nicht darum, bis es zu spät war. Vollkommen blöd. Später hat er mir gesagt, das Aufregendste an ihrem Oberkörper wären gar nicht ihre Brüste gewesen, sondern ihr Herzschlag.«

Er strich mit dem Finger an meinem Kinn entlang.

»Du hättest meine Mom gemocht. Sie war schön, aber richtig bodenständig. Genau wie du.«

»Deine Mom?« Ich sah ihn mit großen Augen an. »Dann ist dein Onkel Joey nicht wirklich dein …«

»Nein. Als mein Dad ermordet worden war, nahm meine Mom eine Stellung als Haushälterin bei Joey an. Er mochte sie vom ersten Augenblick an; sie wurden ein Liebespaar. Joey’s Frau – die Frau, die ich Tante nenne – war immer ganz Dame. Sie sah einfach … weg. Nachdem meine Mom gestorben war, haben sie mich adoptiert. Sie konnten nie eigene Kinder bekommen, deswegen schien das die beste Lösung.«

Er hörte auf zu sprechen, seine Augen schauten in die Ferne.

»Meine Tante hat ihre Rache an meiner Mutter bekommen. Sie hat mich vereinnahmt. Ich durfte nach ihrem Tod nie mehr von meiner Mom sprechen. Meine Tante hätte es nicht erlaubt. Ich war nicht mehr das Kind meiner Mutter. Ich war das Kind meiner Tante. Die einzigen Überbleibsel meines vorherigen Lebens sind ein paar Narben und mein Name.«

»Du musst wütend darüber sein.«

»Eher traurig. Ich wusste, was sie da tat, aber ich war ihr trotzdem dankbar. Sie und mein Onkel hätten mich auch rauswerfen können. Und das hätte fünf Jahre in Pflegefamilien bedeutet. Ich konnte nirgends hin, nachdem meine Mom tot war.«

Ich sagte: »Jetzt verstehe ich, warum du zugestimmt hast, Lorraine zu heiraten.«

Sein Lachen klang bitter. »Ich habe nicht zugestimmt, Terry. Ich habe einem Befehl gehorcht.«

Es wurde still im Raum.

»Nur einmal habe ich Joey nicht bedingungslos gehorcht, wegen der Schule«, fuhr Chris fort. »Er wollte, dass ich Lorenza heirate, sobald ich …«

»Lorenza?«

»Lorenza ist ihr richtiger Name. Er wollte, dass ich sie heirate, sobald ich achtzehn bin. Ich hab gesagt, dass es sinnvoller wäre, wenn ich erst mal die Schule hier drüben abschließe und dann in den Osten zurückgehe und sie heirate. Irgendwann hat er schließlich nachgegeben, aber er war nicht glücklich darüber. Er wird erst wieder glücklich sein, wenn ich fürs Leben gebunden bin und ein paar Söhne produziert habe … ganz gewöhnliche Enkelkinder.«

Er küsste meine Hand und legte sie an seine Wange.

»Können wir das nächsten Freitagabend wiederholen? Ihn zu unserem ganz besonderen Abend machen?«

Ich sagte ja.

»Danke.« Er küsste wieder meine Hand und ließ sie dann los. »Hör mir zu, Terry. Alles, was wir hier gesagt haben, ist absolute Privatsache. Wenn wir am Montag wieder in der Schule sind, ist alles wie vorher. Du hältst dich an deine Freunde, ich mich an meine. Verstehst du, warum?«

»Du willst nicht, dass dein Onkel von mir erfährt.«

»Ja. Außerdem habe ich früher ein paar Sachen angestellt – ein paar Verurteilungen wegen Drogen und einigen Einbrüchen. Was ich halt so gemacht habe, um mich meinem Onkel zu beweisen. Hab nur Prügel bezogen für meine Mühe, aber das war mir egal. Ich wollte, dass mein Onkel mich als harten Typ sieht.«

»Ich verstehe.«

»Joey hat einen Haufen Geld in mich investiert, Terry. Er hat die richtigen Leute bestochen. Jetzt habe ich ein blütenreines polizeiliches Führungszeugnis. Das war der eigentliche Grund, warum er mich überhaupt hierher geschickt hat. Ein neuer Anfang. Aber man kennt mich trotzdem noch als Joey Donattis Sohn. Wenn mein Onkel jemals untergeht, ersaufe ich mit ihm. Besser, die andern denken, dass du nur meine Nachhilfelehrerin bist. Es ist spät. Zieh dich an, dann bringe ich dich nach Hause und passe auf, dass du heil ankommst.«

»Das ist gar nicht nötig.«

»Doch, ist es«, flüsterte Chris. »Wenn du einen Schatz hast, beschützt du ihn auch mit deinem Leben.«