13

Beim Durchgehen der Liste von Cheryls Freunden machte Decker einen Strich unter den Namen von Steve Anderson, dem Bullen von Kerl mit dicken Titten, mit dem Cheryl ihrer Mom zufolge gegangen war. Der Junge hörte sich ganz nach einem Anabolikabomber an, und es war bekannt, dass die Einnahme von Steroiden unberechenbar macht.

Anders als Foothill, Deckers altes Jagdrevier, war das West Valley eine vorwiegend weiße Mittelklassegegend. Wohnstraßen mit Apartmenthäusern wie die, wo Whitman lebte, waren nichts Ungewöhnliches; ebenso wenig wie ganze Häuserblocks mit vernünftigen Einzelhäusern. Aber der Grundstücksboom in den Achtzigern hatte das Gesicht der Gegend verändert – zu bewachten Wohnkomplexen mit millionenschweren Anwesen geführt, die eine wünschenswertere, sprich begütertere Klientel anlocken sollten.

Anderson wohnte, umgeben von weiten, grünen Rasenflächen, in einem zweistöckigen Haus im Kolonialstil auf einem sanft geschwungenen Hügel. In der langen, leicht abfallenden Auffahrt standen ein Mercedes, ein Jaguar und ein Ford Explorer. Decker parkte am Straßenrand und ging den im Fischgrätmuster gepflasterten Fußweg zwischen weißen Fleißigen Lieschen und rosa Begonien hinauf. Die Türglocke war rechts neben der zweiflügeligen Eingangstür. Decker drückte auf den Knopf, und es ertönte ein dumpfes Läuten im Innern des Hauses. Eine weibliche Stimme fragte, wer da sei. Decker stellte sich vor.

Es trat eine Pause ein. Die Frau sagte: »Einen Moment bitte.«

Ein Klappern von drinnen – das Aufschlagen von Schuhabsätzen auf einer harten Oberfläche. Einen Augenblick später öffnete sich die Tür und gab den Blick auf einen Mann mit braun gebranntem Gesicht, dunklem, lockigem Haar und unsicheren Augen frei. Hinter seinen breiten Schultern war eine zierliche Gestalt mit durchgestylter, platinblonder Frisur zu sehen. Die Dame des Hauses hielt sich im Hintergrund.

»Sie sind von der Polizei?«, fragte der Mann.

Decker nahm Marke und Dienstausweis heraus. »Detective Sergeant Peter Decker. Mordkommission Devonshire. Sind Sie Mr. Anderson?«

»Ja, der bin ich. Sagten Sie Mordkommission?«

»Ja, Sir, das sagte ich. Darf ich reinkommen?«

»Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?«

Decker starrte ihn an. »Nein, Mr. Anderson, ich habe keinen Durchsuchungsbefehl. Brauche ich einen?«

Anderson rieb die Hände gegeneinander, sein massiver Körper blockierte den Eingang. Er trug einen grauen Designer-Trainingsanzug und Laufschuhe ohne Socken.

»Ich würde gern mit Ihrem Sohn Steven sprechen«, sagte Decker.

Die Frau zog die Luft ein. Anderson verschränkte die Arme vor der Brust und wippte auf den Hacken. »Worüber?«

»Möchten Sie dies Gespräch im Eingang fortsetzen, Mr. Anderson? Die Nachbarn könnten das ziemlich merkwürdig finden.«

Widerstrebend gab Anderson den Durchgang frei, sodass Decker in die große Marmorhalle treten konnte, und führte ihn dann ins Wohnzimmer. Es war so hell und kalt wie Vanilleeis. Nicht ein Fleckchen auf dem Teppich. Decker kontrollierte seine Schuhsohlen. Die Dame des Hauses erwischte ihn dabei. Sie war hübsch. Und schwer einzuordnen.

»Machen Sie sich keine Sorgen, Sergeant. Der Berber ist imprägniert.«

»Susan, warum bringst du uns nicht einen Kaffee?«, schlug ihr Mann vor.

»Nein, vielen Dank, keinen Kaffee.« Decker setzte sich auf ein cremeweißes Sofaelement. »1st Steven zu Hause?«

Anderson blieb störrisch. »Was wollen Sie von Steven?«

»Bringen Sie ihn her«, sagte Decker. »Dann werden Sie’s erfahren.«

Anderson knetete seine Hände. »Wird er einen Anwalt brauchen?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen, bevor ich nicht mit Steven gesprochen habe.«

Der Mann drehte sich zu seiner Frau um. »Hol ihn runter.«

Sie gehorchte wortlos. Eine Minute später betrat ein massiger Junge das Zimmer. Er trug ein weites T-Shirt und Shorts. Die Muskeln und Adern an Armen und Beinen ließen die Haut schwellen wie bei frisch gepressten Würstchen. Er sah gar nicht schlecht aus – dunkel gelocktes Haar wie sein Dad, eckiges Gesicht und ein kräftiges Kinn. Aber er hatte einen schlechten Teint. Die Wangen waren von Akne-Narben zerfurcht.

»Setz dich«, befahl Anderson seinem Sohn.

Der Junge rieb sich die Nase und setzte sich.

»Ich bin Detective Sergeant Peter Decker …«

»Er ist von der Mordkommission, Steven. Was, zum Teufel, geht hier vor?«

»Mordkom …« Der Junge machte große Augen. »Dad, ich … ich … ich …«

»Mr. Anderson«, sagte Decker. »Bitte setzen Sie sich und überlassen Sie mir das Fragenstellen.«

Widerstrebend ließ Anderson sich auf einen Sitz fallen. Decker dachte einen Moment lang nach, wie er am besten vorgehen sollte. In diesem Fall wohl am besten geradeheraus. Ohne Steven aus den Augen zu lassen, nahm er die Polaroids heraus und verteilte sie auf dem Couchtisch. Der Junge sah hin, fuhr zurück und wurde aschfahl. Die Dame des Hauses schnappte nach Luft. Der alte Herr erstarrte.

Im Hintergrund hörte Decker trockenes Würgen. Susan war aus dem Zimmer gelaufen. Decker wandte seine Aufmerksamkeit wieder Steven zu. Der Junge hatte seine mächtigen Arme um die Brust geschlungen. »Das ist … das ist … Cheryl, oder?«

»Cheryl wer?«

»Cheryl Diggs.«

Decker betrachtete den Jungen. »Brauchst du ein Glas Wasser, Steve?«

Er nickte. Anderson brüllte: »Susan, Steve braucht ein Glas Wasser. Bring gleich zwei.«

Sie antwortete nicht. Das Ausbleiben irgendeiner Reaktion schien niemanden zu beunruhigen.

Decker nahm seinen Notizblock heraus. »Wann hast du sie das letzte Mal gesehen, Steven?«

»Beantworte das nicht«, unterbrach Anderson.

»Dad, ich habe nichts ge …«

»Halt den Mund!«

»Aber ich hab doch nichts …«

»Ich sagte, halt den Mund!« Er wandte sich Decker zu. »Wir wollen einen Anwalt.«

»Ich brauche keinen Anwalt«, protestierte Steven. »Ich habe nichts getan.«

»Geh auf dein Zimmer, Steven. Sofort!«

»Aber …«

»SOFORT!«, brüllte Anderson.

Der Junge stand auf, ging ein paar Schritte, dann drehte er sich um. »Nein.«

Anderson erhob sich. »Steven, verlass sofort dieses …«

»Nein, Dad, du gehst raus. Du verlässt das Zimmer. Was, zum Teufel, weißt du denn schon von mir? Oder von meinen Freunden oder meinem Leben, du blöder Sack …«

»Steven …«

»Ach Scheiße, lass doch bloß dein Steven! Du warst doch nie da. Nur wenn du mich fertig machen wolltest …«

Anderson rückte näher an den Jungen heran. »Wenn du jetzt nicht den Mund hältst …«

»Du hältst den Mund! Ich bin über achtzehn, Dad. Ich brauche deine Erlaubnis nicht, um zu reden. Halt du also den Mund!«

Der Junge gab seinem Vater einen leichten Schubs. Decker drängte sich schnell dazwischen und breitete die Arme aus. »ZURÜCK! SOFORT! ALLE BEIDE! SOFORT ZURÜCK!«

In der plötzlich eingetretenen Stille im Raum hörte man nur noch schweres Atmen. Decker nutzte den Augenblick. »Ich brauche deine Hilfe, Steven.«

Der Junge schien plötzlich wie in sich zusammengesackt. Er warf seinem Vater einen Blick zu. Das reichte Anderson senior, um sich wieder einzuschalten. »Sie haben keinen Durchsuchungsbefehl, Sergeant. Ich will Sie nicht in meinem Haus haben! Und jetzt machen Sie, was Sie wollen, aber mein Sohn wird nicht mit Ihnen reden, bevor ich mit ihm geredet habe.«

Decker sammelte die Polaroids ein. »Auch gut. Dann nehme ich ihn jetzt mit zur Wache, und Steven kann dann im Gefängnis warten, bis Sie Kontakt mit einem Anwalt aufgenommen haben!«

Steven schrie. »Ich gehe nicht ins Gefängnis! Ich habe nicht das Geringste getan!«

In diesem Moment flötete eine leise Stimme: »Bitte, seid doch vernünftig, alle miteinan …«

»Susan! Raus hier!«, brüllte Anderson.

Die Frau stellte ein Tablett mit drei Wassergläsern ab und huschte davon. Decker sagte: »Komm jetzt, Steven …«

»Warten Sie!«, unterbrach Anderson. »Sie können hier sprechen. Steven, setz dich und lass uns die Sache hinter uns bringen.«

Decker wünschte, er könnte Vater und Sohn voneinander trennen. Und da der Junge achtzehn war, hatte er rechtlich alle Möglichkeiten dazu. Aber heutzutage reichten Anwälte die seltsamsten Klagen ein bei Kindern, die eines Kapitalverbrechens beschuldigt wurden, vorausgesetzt, sie lebten noch zu Hauses. Alle redeten ununterbrochen von Eigen Verantwortung, aber sobald ein Problem auftauchte, schien es so etwas wie Erwachsene nicht mehr zu geben – dann gab es nur noch große Kinder.

Decker sagte: »Bitte, setz dich, Steven.« Der Junge ging langsam zum Sofa zurück. Decker nahm seinen Notizblock heraus und sagte: »Hast du Cheryl gestern Abend gesehen?«

Steven nickte.

»Wann hast du sie zuletzt gesehen?«

»Beantworte das nicht«, fiel Anderson ein.

»Mr. Anderson, wenn Sie nicht aufhören, uns zu unterbrechen, werde ich Sie wegen Behinderung der Justiz belangen!«

»Das können Sie nicht.«

»Dann passen Sie mal auf, Sir.« Zu Steven gewandt sagte Decker: »Wann hast du Cheryl Diggs zum letzten Mal gesehen, Steven?«

»Ich … kann mich nicht erinnern.«

»Du kannst dich nicht erinnern?«

»Nein … wirklich nicht. Ich kann einfach nicht glauben … das ist alles so surreal!«

»Trink einen Schluck Wasser, Steven.«

Der Junge stürzte die kühle Flüssigkeit hinunter. Decker sagte: »Okay, dann gehen wir mal ein bisschen zurück. Wann hast du Cheryl gestern Abend zum ersten Mal gesehen?«

»Irgendwann beim Ball. Der Abschlussball an der Central West Valley.«

»War sie deine Begleiterin?«

»Nein, Sir.«

»Wer war deine Begleiterin?«

»Trish … Patricia Manning.«

»Und weißt du, ob Cheryl einen Begleiter hatte?«

»Ja, Sir. Christopher Whitman.«

»Sie ist mit Christopher Whitman zum Abschlussball gegangen?«

»Ja, Sir.«

»Wann hast du den Ball verlassen, Steven?«

Der Junge pustete die Luft aus. »So gegen …« Er vergrub das Gesicht in den Händen und sah dann auf. »O Gott, ich fürchte, was ich jetzt sage, ist falsch.«

Decker sagte: »Antworte einfach, so gut du kannst, Steven. Wann bist du von dem Ball weg?«

Der Junge sah sterbenselend aus. »Vielleicht kurz nach Mitternacht.«

»Was hast du danach gemacht?«

»Ein bisschen rumgezogen?«

»Was heißt das?«

»Wir sind zu ein paar Partys gegangen.«

»Wie viele Partys?«

Er sah seinen Vater an. »Vielleicht zwei … ja … zwei.«

»War Cheryl auch bei diesen Partys?«

»Ja.«

»Du hast sie bei beiden gesehen?«

»Ja.«

»War sie mit ihrem Begleiter da?«

»Mit Chris, ja.«

»Um welche Zeit hast du die letzte Party verlassen?«

Wieder sah Steven seinen Vater an. Er schloss die Augen.

»Vielleicht so gegen halb zwei, zwei.«

»Bist du dann nach Hause?«

Seine Stimme war kaum hörbar. »Nein.«

»Wohin bist du dann gegangen, Steven?«

Jetzt war es ganz still im Raum. Decker sagte: »Wohin bist du …«

»Ich habe schon gehört.« Steven kratzte sich im Gesicht.

»Ein paar von uns sind noch in ein Hotel …«

»Herrgottnochmal!« Anderson sprang auf, hochroten Gesichtes und schwitzend. »Ihr seid was?«

Decker sagte: »Trinken Sie einen Schluck Wasser, Mr. Anderson.«

Er gehorchte. Es schien ihn zu beruhigen. Decker fragte: »In welches Hotel seid ihr gegangen, Steven?«

»Grenada West End.«

»Ihr habt dort Zimmer gemietet?«

»So ähnlich. Ich habe nicht richtig ein Zimmer gemietet. Aber wir hatten Zimmer. Ich glaube, Cheryl hat uns alle irgendwie eingeschleust. Sie kannte den Nachtportier. Ich glaube, sie hat Sonderkonditionen von ihm gekriegt, weil sie ihm mal einen Gefallen getan hat.«

»Einen Gefallen?«

»Ich glaube, sie …« Er bewegte die Hand auf und ab.

»Sie hat Beziehungen zu dem Nachtportier unterhalten?«

»Irgendwie so was. Cheryl kam ziemlich viel herum.«

»Erinnerst du dich an den Namen des Nachtportiers?«

»Henry Tripp oder Trupp. Oder so ähnlich.«

Decker notierte DIGGS UND TRUPP? Wieder nahm er sich vor, Trupp anzurufen. »Und du hast Cheryl gesehen?«

»Ja, Sir.«

»Erinnerst du dich, bei welcher Gelegenheit du sie zuletzt gesehen hast?«

Der Junge schüttelte den Kopf, dann bedeckte er sein Gesicht mit den Händen. »O Mann, was für ein beschissener Albtraum!«

Anderson wollte etwas sagen, aber Decker hielt die flache Hand hoch. »Steven, erinnerst du dich, wann du Cheryl das letzte Mal gesehen hast?«

»Trish und ich …«

»Nimm die Hand vom Mund«, sagte Decker. »Ich kann dich nicht verstehen.«

Steven setzte noch einmal neu an. »Wir waren unheimlich viele in dem Zimmer – in Cheryls Zimmer.«

»Wer war alles in Cheryls Zimmer?«, fragte Decker.

Er begann es an den Fingern abzuzählen. »Trish, Cheryl, Jo Benderhoff, Lisa Chapman, ich, Blake Adonetti, Tom Baylor und Chris, wir waren alle in dem Zimmer.«

»Um wie viel Uhr war das?«

»Ich denke, so gleich nachdem wir gekommen waren – ungefähr um zwei.«

»Du erinnerst dich also, Cheryl um zwei lebend gesehen zu haben?«

»Soweit ich mich erinnern kann, ja.«

»Was habt ihr in dem Zimmer gemacht, Steven?«

»Ein bisschen getrunken.«

»Mit anderen Worten, sie haben sich sinnlos besoffen«, murmelte Anderson.

Decker drängte weiter. »Ihr habt also getrunken, Steven. Was noch?«

»Vielleicht ein bisschen geraucht.«

»Vielleicht«, grunzte Anderson.

»Was habt ihr noch gemacht?«, beharrte Decker.

Er sah zu Boden. »Rumgefummelt.«

Anderson platzte los. »Ich schufte mir den Arsch ab, damit du losziehen und Orgien feiern …«

»Wir haben keine Orgie gefeiert, Dad. Nur … rumgefummelt eben. Nichts Dolles. Wir haben Spaß gehabt. Keine große Sache.«

»Keine große Sache?«, trompetete Anderson. »Ist Mord etwa keine große Sache, Steven?«

Der Junge zuckte unwillkürlich zusammen und sah Decker Hilfe suchend an. Decker blieb ungerührt.

Der Teenager sagte: »Ich meine ja nur, wir hatten alles unter Kontrolle. Wir haben nichts gemacht, was die Mädchen nicht wollten.«

»Was, zum Teufel, heißt das denn?«, donnerte Anderson.

»Mr. Anderson …«

»Ich weiß, ich weiß. Ich halt ja schon den Mund!« Anderson tigerte auf und ab, dann setzte er sich wieder. »Sie verstehen nicht, wie schwer das für mich ist.«

»Sir, ich versichere Ihnen, ich verstehe es sehr gut.« Decker meinte es ehrlich. »Lassen Sie mich nur meine Arbeit als Detective machen, und dann machen Sie Ihre als Vater.« Er wandte sich wieder an Steven. »Wollen wir mal sehen, ob ich bis jetzt alles richtig verstanden habe. Du, Trish, Cheryl, Jo, Lisa, Blake, Tom und Chris habt da so rumgesessen – und getrunken und ein bisschen gekifft und rumgefummelt. Euch angefasst …«

»Nichts Krankes, Dad, ich schwör’s …« Er schnaufte. »Nur so rumgealbert. Außer dass Chris nicht richtig bei der Sache war.«

Decker überlegte kurz. »Warum sagst du das?«

»Ich meine, er hat getrunken und alles. Aber ich hab genau gesehen, dass es ihm lieber gewesen wäre, wir wären verschwunden.«

»Du kennst Chris Whitman ziemlich gut, Steven?«

»Niemand kennt Chris gut. Der Typ redet nämlich nicht. Aber man weiß schließlich, wie die Typen sind, wenn sie mit einem Mädchen allein sein wollen. Er hat nichts gesagt, aber er wartete nur darauf, dass wir uns endlich verziehen.«

»Wie hat er sich verhalten?«

»Ach, ich weiß nicht. Wie Chris eben.«

»War er nervös, verärgert, feindselig?«

Steven trank wieder einen Schluck Wasser. Über Whitman zu sprechen machte ihn lockerer. »Nein, Chris wird nicht nervös oder feindselig. Er wird überhaupt nie irgendwas. Er ist irgendwie immer gleich.«

»Woran hast du dann gemerkt, dass er euch am liebsten los gewesen wäre?«

»Ich weiß nicht. Er schien … ärgerlich. Andauernd sah er auf die Uhr. Ich hab versucht, Trish abzuschleppen, aber sie amüsierte sich prima. Ich wollte ihr nicht … die Stimmung verderben.«

»Und in was für einer Stimmung war Cheryl?«

»Cheryl war Cheryl. Immer unbeschwert.« Er hielt inne. »Außer gestern Abend … sie konnte die Blicke nicht von Chris lassen. Sie war so … scharf auf ihn. Es war schon fast peinlich.«

»Und war er scharf auf sie?«

»Sehen Sie, Sie kennen Chris nicht. Man kann ihm nicht ansehen, was er denkt. Ich habe ihn noch nie wütend gesehen oder aufgeregt oder traurig, nicht mal, wenn er aufs Äußerste gereizt worden ist.« Steven sah auf seine Hände. »Einmal, das war nach einer Party, da waren wir alle irgendwie in Stimmung. Deswegen sind wir alle mit Tom Baylors Auto ein bisschen rumgefahren. Das Blöde war nur, dass wir getrunken hatten, und Tom war ziemlich zu.«

Der Junge warf einen Blick auf seinen Vater. Dem Mann hatte es inzwischen die Sprache verschlagen. Die Empörung war Enttäuschung gewichen.

Steven fuhr fort: »Die Bullen haben uns wegen zu schnellen Fahrens angehalten. Chris zieht also die Schlüssel aus dem Zündschloss, schiebt Tom vom Fahrersitz und nimmt die ganze Sache auf sich. Sie lassen ihn auf der Linie gehen. Sie lassen ihn blasen. Nichts. Der Typ ist total cool.« Dem Blick des Jungen nach zu urteilen, war ihm die ganze Sache immer noch ein Rätsel. »Er musste natürlich Strafe zahlen wegen der Geschwindigkeitsüberschreitung. Aber eine Anzeige wegen Alkohol am Steuer gab es nicht.«

Decker nickte unterm Schreiben. »Aber heute Nacht hat er bei dem Spaß nicht mitgemacht.«

»Nein. Nur getrunken und zugesehen.«

»Cheryl hat ihn nicht aufgefordert mitzumachen.«

»Nein, das würde sie nie tun. Chris wird nämlich immer irgendwie … gespenstisch, wenn er in seine ärgerliche Stimmung gerät. So ganz still … und kalt. Man wartet die ganze Zeit, dass er gleich platzt, aber es passiert nie.«

Vielleicht doch, dachte Decker.

Steven sagte: »Jedenfalls haben wir vielleicht eine halbe Stunde, fünfundvierzig Minuten höchstens, so in Cheryls Zimmer rumgemacht. Jo und Blake sind als Erste gegangen, dann Tom und Lisa, Trish und ich sind ungefähr fünf Minuten nach Tom und Lisa in unser Zimmer gegangen.«

»Das war also ungefähr … wann?«

»Vielleicht drei. Da hab ich Cheryl zum letzten Mal gesehen, ich schwör’s bei Gott. Ich mach einen Lügendetektor-Test, alles, was Sie wollen.«

»Wie lange bist du im Grenada geblieben«, fragte Decker.

»Das weiß ich nicht mehr«, sagte Steven. »Ich war gegen fünf Uhr morgens zu Hause. Von dort hierher sind es vielleicht zwanzig Minuten. Und ich musste Trish natürlich erst noch absetzen. Ich bin also vielleicht so gegen halb fünf aus dem Grenada weg.« Er zuckte die Achseln und lächelte schwach. »Das ist alles. Ich schwör’s.«

»Du hast Cheryl nicht gesehen, als du gegangen bist?«

»Nein, Sir.«

»Hast du an Cheryls Zimmertür geklopft?«

»Nein, Sir.«

»Hast du Christopher Whitman gesehen, als du gegangen bist?«

»Nein, Sir.«

»Hast du Jo Benderhoff oder Lisa Chapman oder Blake Adonetti oder Tom Baylor gesehen, als du dein Zimmer verlassen hast, um nach Hause zu fahren?«

»Nein, Sir, niemanden. Fragen Sie Trish.«

Decker sagte: »Was hat Cheryl gestern Abend angehabt, Steven?«

Der Junge kniff die Augen zusammen. »Irgend so ’ne Art Tanzkleid. Ich erinnere mich nicht genau.«

»Was hatte Trish an?«

»Ein rotes Minikleid mit Pailletten.«

»Was hast du angehabt?«

»Einen Smoking.«

»Fliege und Kummerbund?«

»Klar.«

»Was hatte Chris an?«

»Auch einen Smoking.«

»Und trug er auch Fliege und Kummerbund?«

»Nehme ich an.«

»Hat Chris seine Fliege und den Kummerbund noch getragen, als du ihn in Cheryls Zimmer gesehen hast?«

»Ich weiß nicht in …« Er schloss die Augen. »Wissen Sie, er hatte die Fliege noch an, aber sie war aufgelöst, nur so um den Hals gehängt.«

»Hast du deinen Smoking von gestern hier?«

»Ja.«

»Kann ich ihn sehen?«

»Klar.«

Der Junge sprintete los und war binnen Sekunden wieder zurück. Und tatsächlich, der Frack war komplett, inklusive Fliege und Kummerbund.

Decker sah seine Notizen durch – ein guter Anfang. Wenn man dem Jungen Glauben schenken konnte, war Cheryl nach drei, aber vor acht Uhr morgens gestorben. »Hat jemand gesehen, wie du nach Hause gekommen bist, Steven?«

»Meine Mom«, sagte Steven. »Sie bleibt immer auf, bis ich zurück bin.«

»Blöde übertriebene Fürsorge«, murmelte Anderson.

»Ich habe sie nicht drum gebeten«, sagte Steven.

Decker erhob sich. »Bleib erst mal, wo du bist, Steven. Noch bist du nicht aus dem Schneider.«

Anderson stand auf. »Mein Sohn hat voll und ganz kooperiert. Was wollen Sie denn noch von ihm?«

Steven sagte: »Ich würde alles tun, wenn ich damit helfen kann. Ob Sie’s glauben oder nicht, Sergeant, ich habe Cheryl gemocht. Ich … mir wird ganz schlecht bei dem Gedanken an das, was passiert ist. Sie hat es oft ein bisschen zu weit getrieben, aber das hat sie nicht verdient.«

Bestimmt nicht, dachte Decker. Er klappte seinen Notizblock zu. »Steven, sprich mit niemandem über diese Unterhaltung. Wenn du anfängst zu reden, wirst du dich in echte Schwierigkeiten bringen, hast du mich verstanden?«

»Klar und deutlich.«

Decker steckte den Notizblock ein und sagte: »Geh jetzt nach oben. Ich möchte noch einen Augenblick mit deinem Dad reden.«

Der Junge zog sich zurück. Decker steckte die Hände in die Taschen. »Ich habe selber Kinder, Mr. Anderson. Ich weiß nicht, ob ich vielleicht genauso reagiert hätte wie Sie.«

Anderson starrte Decker an. Dann nickte er.

»Sie wissen, dass Ihr Sohn Anabolika nimmt«, sagte Decker. »Tut er das mit Ihrer Erlaubnis?«

Anderson antwortete nicht.

»Sagen Sie’s mir nicht. Er ist Ihr einziger Sohn, und Sie wollten nicht, dass er ein Schlappschwanz wird. Um seinetwillen, natürlich, nicht Ihretwegen. Nun, er ist kein Schlappschwanz geworden, Mr. Anderson. Was Sie da haben, ist eine ungesicherte Waffe. Ich möchte nicht in sechs Monaten in offizieller Funktion wieder hier aufkreuzen müssen, weil mit jemandem die Wut durchgegangen ist. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?«

»Ja.«

»Suchen Sie sich Hilfe, alle miteinander.«

Anderson sagte, das werde er tun. Decker glaubte ihm nicht.