18

Heute war die Schule schon um halb drei aus. Angeblich, um uns mehr Zeit zum Lernen für die Abschlussprüfung zu geben. Aber alle wussten, was der wahre Grund war. Niemand konnte sich auf etwas anderes konzentrieren als diese Nachricht. Die verschiedensten Gerüchte liefen um, und jeder hatte eine andere Meinung dazu. Was mich betraf, sagte ich wenig und ließ mir nichts anmerken. Als die Glocke zum Unterrichtsschluss bimmelte, packte ich meine Bücher zusammen und verließ den Schulhof, ohne auf das Geschwätz der Möchtegern-Experten zu achten.

Melissa war bei einer Freundin, deswegen ging ich direkt nach Hause. Dort war es unheimlich still. Vielleicht lag das an dem Kontrast zu dem aufgeregten Geschnatter in der Schule. Es summte in meinen Ohren, mir dröhnte der Kopf. Ich zog ein paar Bücher aus meinem Ranzen und ging in mein Zimmer.

Chris lag auf meinem Bett.

Ich fuhr unwillkürlich zurück und machte mehrere Riesenschritte rückwärts, bis ich an die Ecke vom Schreibtisch stieß und die Bücher fallen ließ, an die ich mich gekrallt hatte. Sie fielen polternd auf den Holzboden. Eins landete auf meinem Zeh. Ich fühlte den Schmerz, aber ich reagierte nicht, denn ich konnte mich nicht bewegen.

»Ihr habt einen Riegel an der Hintertür«, sagte er. »Hat mich ziemliche Arbeit gekostet. Ich hab ihn nur geknackt, nicht kaputt gemacht.«

Ich schwieg.

Langsam stand er auf, für mich sah er riesig aus. Er sah sich um, bisher war er ja noch nie in meinem Zimmer gewesen. Es war winzig – eine Regalwand mit eingebautem Schreibtisch, ein Bett, ein Nachttisch, für mehr war kein Platz. Ich hatte versucht, das Ganze mit selbst genähten Spitzengardinen und einer Menge Duftmischungen ein bisschen aufzupeppen. letzt wurde mir schlecht von dem süßen Geruch.

Er sah auf meine Bücher und sagte mit ruhiger, leiser Stimme: »Wo ist Melissa?«

Ich dachte daran, zu lügen, aber wozu hätte das gut sein sollen? Ich brauchte eine Weile, bis ich meine Stimme gefunden hatte.

»Sie ist …« letzt merkte ich, dass ich mich immer noch an meinem einsamen Mathematikbuch festhielt. Ich umklammerte es wie einen Rettungsring. »Wir sind allein.«

Er sah mich an, mit einem undurchschaubaren Blick. Dann griff er in die Tasche und holte etwas Dickes, Eingeschlagenes heraus.

»Dein Nachhilfegeld«, sagte er. »Ich habe das Konto heute Morgen aufgelöst. Es waren achthundertsechsundachtzig Dollar und ein paar Zerquetschte. Ich hab’s auf tausend aufgerundet.« Er hielt mir den Geldpacken hin.

Ich stand da wie angewurzelt.

Er ließ den Arm einen Moment lang ausgestreckt, dann warf er das Geld aufs Bett. »Hier sind auch ein paar Briefe von deinen Großeltern.« Drei Umschläge landeten auf dem Geld. »Ich hatte sie schon eine ganze Zeit lang. Tut mir Leid.«

Er steckte die Hände in die Hosentaschen. Die ganze Zeit sah er mir direkt in die Augen.

»Du hast Angst, stimmt’s?«

Ich schüttelte den Kopf, aber meine Haltung verriet ihm das Gegenteil.

Er sah mich weiter prüfend an. »O doch, das hast du. Ich weiß, das ist ganz natürlich … aber es tut trotzdem weh.« Er machte meine Tür zu, dann sagte er: »Also los, frag mich schon, Terry.«

Ich sagte nichts.

Er biss sich auf die Unterlippe. »Du willst es doch wissen. Alle wollen es wissen. Du kriegst ein Exklusivinterview.«

Ich machte den Mund auf, aber es kam nichts heraus.

»Wie bitte?« Er machte einen Schritt nach vorn, und ich wich zurück. Aber mein Schreibtisch war eine unverrückbare Grenze. Ich stand gegen das harte Holz gepresst, weiter zurück ging es nicht. Er kam ganz nah an mich heran. Ich konnte seinen Atem hören, die Schweißperlen sehen auf seiner Stirn.

»Du willst wissen, ob ich es getan habe? Frag mich, Terry.«

Ich stammelte irgendwas, bis ich schließlich einen Satz hervorbrachte: »Ich habe gewartet … und gewartet, dass du anrufst. Warum hast du es nicht getan?«

Er machte ein überraschtes Gesicht. Das war nicht die Frage, die er erwartet hatte. Er ging zentimeterweise rückwärts, bis er an die Zimmerwand stieß. Mit dem Rücken gegen die Wand ließ er sich langsam zu Boden gleiten und den Kopf zwischen die Knie sinken, die Hände an die Schläfen gelegt. So saß er eine lange Zeit da und wiegte sich vor und zurück. Schließlich fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht und sah zur Decke hoch.

»Weil Cheryl mir gesagt hat, dass sie schwanger war.«

Er wartete auf eine Reaktion von mir. Ich hatte ja schon gerüchteweise davon gehört, aber es geht doch nichts über eine Bestätigung aus erster Quelle. Ich hatte gedacht, ich wäre zu betäubt, um noch Schmerz zu empfinden. Aber ich hatte Unrecht.

Er sprach stockend weiter. »Rational gesehen … wusste ich, dass es nicht von mir war. Ich habe immer Kondome benutzt. Aber wenn du das Wort schwanger hörst, denkst du nicht rational. Dann geht einfach das Adrenalin mit dir durch. Ich konnte nicht einfach mit dir fort und ins Niemandsland fliegen, bis ich wusste, was dahinter steckte.«

Er rieb sich den Nacken.

»Cheryl wusste schon lange, dass es zwischen uns aus war, aber sie zog es vor, ihre Spielchen mit mir zu treiben, weil sie mich mochte. Beim Abschlussball, als ich ihr sagte, dass es endgültig aus ist, war sie wirklich traurig. Also sagte sie das Einzige, womit sie garantiert meine Aufmerksamkeit bekommen würde.«

Er kratzte sich am Kopf.

»Und die bekam sie. Ich versuchte sie andauernd allein zu erwischen. Aber sie zog mich hinterher noch zu einer Party nach der anderen. Schließlich war sie ja die Ballkönigin.« Er ließ ein bitteres Lachen hören. »Die Zeitungen berichten über sie, als wäre sie die himmlische Jungfrau. Du weißt doch, wie sie den Titel bekommen hat, oder?«

Es hatte einiges Gerede über sie und Mr. Gobies, den Lehrer für englische Literatur gegeben. Mr. Gobies war der Vorsitzende des Komitees gewesen, das die Ballkönigin und ihr Gefolge wählte.

»Jedenfalls hatte Ms. Jungfräuliche Königin eingeworfen, was sie kriegen konnte«, fuhr Chris fort. »Sie schwebte über allem. Hauptsache, ich war ausgeblendet. Weil sie in Wirklichkeit nicht darüber reden wollte. Ich beschloss, einfach abzuwarten. Ich wollte dich anrufen, aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich dachte, es wäre das Beste, erst mal mit Cheryl reinen Tisch zu machen und mich dann später mit dir auseinander zu setzen.

Irgendwann kamen wir in das Hotel … und ich dachte: ›Prima, jetzt hab ich sie endlich allein.‹ Aber ganz falsch! Plötzlich platzen Bull und Trish mit einem Haufen Pornostreifen rein. Und der Rest der Meute hinterher. Da ging dann plötzlich alles wieder von vorne los. Zu dem Zeitpunkt waren wir alle schon ziemlich hinüber. Du weißt ja, wie es bei den Partys manchmal ist.«

Er rieb sich wieder den Nacken.

»Ich hatte den ganzen Abend hindurch getrunken, einfach nur, um die Zeit totzuschlagen. Und inzwischen war ich ziemlich zu. Ich hätte einfach gehen sollen. Schon lange vorher, einfach weg gehen.«

Er biss sich auf die Lippe.

»Nicht dass ich irgendwas gegen Cheryl gehabt hätte, ich hatte nur keine … Verwendung mehr für sie. Weißt du, Terry, als du mich abserviert hast, habe ich sie abserviert. Eigentlich hatte ich aufgehört, mit ihr zu schlafen. Cheryl war meine Waffe gegen dich. Und als sie dich nicht eifersüchtig machen konnte, wollte ich sie nicht mehr.«

Ich sagte: »Wie meinst du das, du hast eigentlich nicht mehr mit ihr geschlafen?«

»Es kommt ja sowieso raus.« Er blies die Luft aus. »Terry, ich habe mit Cheryl geschlafen … in der Nacht. Um ehrlich zu sein, ich hab es zweimal gemacht.«

Ich starrte ihn an. Was ich fühlte, war irgendetwas zwischen Ekel und Entsetzen. »Nach allem, was du zu mir gesagt hast, nach allem, was wir einander gesagt haben … hattest du Sex mit ihr?« Ich spürte, wie meine Augen feucht wurden. »Du bist ein noch besserer Lügner, als ich dachte.«

»Ich bin ein pathologischer Lügner, aber ich habe an dem Abend nicht gelogen. Ich habe jedes Wort so gemeint, wie ich es …«

»Himmel, hör doch auf, mich für dumm zu verkaufen!«

Er sah auf und merkte, wie wütend ich war. Sein Blick bekam etwas Unheimliches. Ich fürchtete mich plötzlich und hätte mich am liebsten in mich selbst verkrochen. Seine Stimme wurde sanft und beschwichtigend.

»Ich weiß, du hast Angst vor mir, Terry. Wie ich schon sagte, das ist ganz natürlich. Aber bitte, hab keine Angst. Du kannst mir alles sagen. Ich würde dir nie etwas tun, okay?«

Ich antwortete nicht.

»Du willst wissen, warum ich mit Cheryl geschlafen habe?« Chris sprach leise. »Ich hab’s getan, weil ich mir immer nehme, was mir gerade passt, und weil ich kein Rückgrat habe. Hauptsache, es fühlt sich gut an, das ist mein Motto.«

Er biss sich auf den Nagel. »Ich habe keinen Charakter. Hab nie Interesse dran gehabt, einen zu entwickeln. Cheryl wollte mich. Ich war erregt … warum also nicht?«

Ich sah zu den Bronte-Romanen auf meinem Bücherbord hinüber. »Bei mir hattest du jedenfalls nie Schwierigkeiten, dich zurückzuhalten. Oder war ich die Heilige und die arme Cheryl die Hure? Himmel, bewahr mich vor den Katholiken.«

»Weißt du, als du mir das erste Mal beim Orchester aufgefallen bist, da hatte ich vor, dich zu verführen.« Er sah mich an. »Die ganze Geschichte mit der Nachhilfe war ein Vorwand. Eine Methode, um an dich ranzukommen, damit ich besser operieren konnte.«

»Operieren?«

»Um dich flachzulegen, Terry. Ich hatte vor, dich zu nageln … die nächste Kerbe in meinem Colt.« Er sah zur Decke. »Stattdessen habe ich mich in dich verliebt. Ja, selbst pathologische Lügner haben Gefühle. Ob du’s glaubst oder nicht, ich hab versucht mich zu benehmen, weil ich dich nicht verletzen wollte. Ich wusste, dass ich zu Lorraine zurückkehren musste … aber ich dachte, wir könnten das Jahr wenigstens als gute Freunde oder so was zu Ende bringen. Als du mich abserviert hast, war ich am Boden zerstört.«

»Ich habe dich nicht abserviert.«

»Natürlich hast du das. O Mann, ich hab mich gefühlt, als hätten sie mir alle Arme und Beine abgeschlagen an dem Wochenende. Ich muss deine Nummer wohl hundert Mal gewählt haben. Aber dann war ich immer zu feige. Und dann, ich weiß auch nicht … irgendwie bin ich total sauer geworden. Mir diese ganze Scheiße zuzumuten, wo ich dich doch so liebte. Dafür solltest du bezahlen.« Er hielt inne. »Wenn’s dir irgendwie hilft – viel kann’s ohnehin nicht sein – es tut mir wirklich Leid.« Er sah auf die Uhr. »Ich bin spät dran.«

»Wofür?«

»Ich soll mich um halb vier mit meinen Anwälten treffen … um alles durchzugehen. Um fünf muss ich zu den Bullen. Die machen einen Lügendetektortest mit mir. Dürfte interessant werden.«

»Bist du nervös?«

Er sah mich an. »Natürlich bin ich nervös.«

Ganz leise sagte ich: »Wirst du ihn bestehen, Chris?«

»Nette Art, mir die Frage zu stellen.« Er machte die Augen zu und wieder auf. »Bei den zentralen Fragen komme ich durch. Aber wenn sie mich … drumrum fragen, schneide ich vielleicht nicht so gut ab.«

Ich wartete.

Er sagte: »Wenn sie fragen, ob ich jemals jemanden umgebracht habe, mache ich vielleicht keine so gute Figur.«

Wir sahen uns in die Augen. In einer plötzlichen Eingebung wurde mir klar, wovon er sprach.

Der einzige Lichtblick in dem ganzen Schlamassel war, dass ich den Mistkerl hasste. Deswegen war ich irgendwie auch zufrieden, als der Schock erst mal vorbei war.

»Du hast deinen …« Ich schlug die Hand vor den Mund, dieser entsetzliche Gedanke ließ mich zurückfahren.

Chris nickte. »Ja, ich habe meinen Vater umgebracht.«

Jetzt machte alles Sinn. Warum er so tief in der Schuld seines Onkels stand. Ich sagte: »Donatti hat es wie einen Auftragsmord aussehen lassen, oder? Er hat die Sache auf sich genommen.«

»Er wäre bereit gewesen, dafür geradezustehen, aber zum Glück ist es nie dazu gekommen. Technisch gesehen ist die Akte noch immer nicht abgeschlossen – ein ungelöster Fall. Aber Mord verjährt nicht.«

»Du warst noch ein Kind«, sagte ich. »Er hat dich misshandelt. Es war Notwehr.«

»Außer dass es keine richtige Notwehr war. Er hatte mich zwar mit dem Messer verfolgt, aber er hatte längst aufgegeben. Hat sich zugesoffen und ist sturztrunken auf dem Sofa zusammengeklappt.«

Es war lange still.

»Das Ganze war … irgendwie unwirklich«, sagte Chris. »Ich kam wieder aus dem Schrank, schlich ganz leise vorbei, um ihn ja nicht zu wecken, ich wollte einfach … weggehen … so wie sonst immer. Stattdessen … hatte ich plötzlich so ein … Gefühl … ganz komisch … so ein … ganz komisches Gefühl. Und als Nächstes hatte ich auch schon einen Revolver in der Hand … ich weiß nicht mal genau, wie er da hingekommen ist. Mein Dad hatte … Handschellen an. Wie die dahin kamen, weiß ich auch nicht. Ich nahm den Revolver und … zielte genau zwischen die Augen.«

Er räusperte sich.

»Es gab einen Blitz … ein lautes Plopp …« Er sah auf. »Ich muss ohnmächtig geworden sein. Als ich zu mir kam, stieg ich auf mein Fahrrad und holte Onkel Joey. Mein Dad hat immer mal ein paar Aufträge für Onkel Joey erledigt. Joey hielt ihn für einen Idioten, aber er hatte was für meine Mom übrig, deswegen behielt er ihn. Er würde es nie zugeben, aber ich habe ihm einen Gefallen getan, als ich meinen Vater weggepustet habe. Hat ihm die Mühe erspart, es selber zu erledigen. Joey machte nämlich nie mit verheirateten Frauen rum. Das war für ihn Ehrensache.«

Er sah wieder auf die Uhr.

»Du gehst wohl besser«, sagte ich.

»Ich hab’s sowieso vermasselt. Zehn Minuten mehr machen auch keinen Unterschied.« Er sah mich an. »Er war wirklich ein fürchterlicher Mensch, Terry. Er hat … Sachen mit mir gemacht.«

Ich nickte, aber er schüttelte verneinend den Kopf. »Nein, du weißt es nicht. Wie solltest du?« Er hielt inne. »Du warst noch nie mit einem Typ zusammen, Terry? Ich weiß, dass du mit Bull nicht viel gemacht hast … sehr zu seinem Kummer. Aber vielleicht haben du und Reiss …«

Ich antwortete nicht.

»Ich versuche nur herauszufinden, ob du dich mit der männlichen Anatomie auskennst.«

Er wollte irgendwo mit mir hin. Ich sagte: »Ich weiß, wo die empfindlichen Stellen sind.«

Er klopfte auf den Boden neben sich. Ich sollte mich zu ihm setzen.

Bisher hatte ich gar nicht gemerkt, dass ich immer noch mit dem Rücken zum Schreibtisch stand, mein Buch vor die Brust gepresst. Ich war über eine Stunde lang angespannt gewesen wie ein Drahtseil. Plötzlich erlaubte ich mir, mich zu entspannen. Ich lockerte meine Schultern … ließ die Kinnmuskeln locker. Es fühlte sich gut an. Ich ging hinüber und setzte mich neben ihn. Meine Angst war verflogen, aber nicht meine Befürchtungen.

In einer schnellen Bewegung zog er seinen Reißverschluss auf und schob die Jeans und die Unterhose auf die Füße runter. Er hatte ein langes T-Shirt an, das seine Blöße weitgehend bedeckte, aber nicht vollständig. Ich sah weg.

»Gib mir deine Hand«, sagte er.

Ich gehorchte.

Er legte meine Hand in die warme Höhle unter seinem Skrotum. Ich konnte fühlen, wie sich unter meiner Berührung die Haut straffte … sehen, wie er hart wurde. Er merkte, wie nervös ich war.

»Nur eine Reaktion, weil du mich berührst. Ich werde nichts tun.« Er legte sanft meine Finger um einen seiner riesigen Hoden und sagte leise: »Der hier ist echt.« Dann führte er meine Hand zu seinem zweiten Hoden und zwang meine Finger, fest zuzudrücken. Ich versuchte, die Hand wegzuziehen, aber er ließ mich nicht los. »Der hier ist offensichtlich eine Prothese.«

Er legte meine Finger um seine Erektion.

»Ich bin für die dicksten Eier an der ganzen Schule bekannt.« Seine Stimme klang tief und melodisch. »Das stimmt wahrscheinlich auch. Zunächst mal bin ich ein großer Junge und habe das Glück, einigermaßen proportioniert zu sein. Aber weil ich nur einen Hoden habe, wurde er in der Pubertät doppelt so groß wie normal, um den Verlust des anderen auszugleichen.«

»Hypertrophie«, sagte ich.

»Genau«, flüsterte Chris. »Hypertrophie. Er hat sich übermäßig vergrößert. Ich bin zweimal operiert worden, um die Prothese auszutauschen … damit die Sache gleichmäßig wird. Und schließlich wuchs er nicht mehr. Aber eine Zeit lang habe ich ziemlich schräg ausgesehen.«

»Du bist nicht so geboren worden, stimmt’s?«

»Nein.« Er sah mir in die Augen. »Mein Vater hat mich verletzt, als er mal wieder im Suff wütend geworden war. Hat mich festgehalten und immer wieder zwischen die Beine getreten. Es hat furchtbar geblutet.«

Ich zuckte zusammen und versuchte die Hand an den Hals zu legen. Aber er hielt meine Finger um seine Erektion fest. Ich hatte es gar nicht bemerkt – seine hypnotische Stimme hatte mich in ihren Bann geschlagen –, aber wir hatten ihn die ganze Zeit beide gestreichelt. Ich richtete den Blick nach unten. Er war voll erigiert. Ich wandte schnell den Blick ab.

»Sie haben den Schlechteren operativ entfernt und benutzt, um den Besseren damit zu reparieren. Ich weiß nicht, ob mein Vater mich absichtlich so verletzen wollte. Er behauptete, er wollte mir nur eine Lehre erteilen. Und er hat sich hinterher tausendmal entschuldigt. Aber das hat ihn nicht davon abgehalten, eine Woche später mit einem Schlachtermesser auf meine Mutter loszugehen. Nett, was?«

Er ließ meine Hand los, zog die Hose hoch und machte den Reißverschluss zu. Ohne nachzudenken, streckte ich die Hand nach ihm aus. Er zwinkerte mit den Augen, und dann ließ er sich in meine Arme gleiten, mein Busen ein Kissen für seinen Kopf, die Arme ganz fest um mich geschlungen. Er ließ den Kopf in meinen Schoß sinken und sah mit sanftem Ausdruck zu mir auf. Ich strich ihm über das Haar und fragte mich, wer dieser Junge wirklich war.

»Niemand weiß davon. Mein Onkel nicht, Lorraine nicht, niemand. Meine Mom wusste es natürlich. Und meine Tante Donna – Joeys Frau. Jetzt bist du die Einzige.«

»Ich hoffe, da gibt es keine Verbindung«, sagte ich. »Deine Mom und dein Tante sind alle beide tot.«

Sein Lachen klang echt.

Ich sagte: »Hast du einen Arzt?«

»Natürlich. Ja, er weiß auch davon. Und das ist ein Grund mehr, warum ich weiß, dass Cheryls Baby nicht von mir sein konnte. Immer wenn ich zur Routineuntersuchung gehe, zählen sie die Spermien. Ich bin nicht völlig steril, aber da tut sich verdammt wenig. Ich weiß nicht, ob ich jemals Kinder zeugen kann. Das ist schon in Ordnung. Ich würde einen lausigen Vater abgeben.«

»Hast du in der Nacht mit Cheryl Kondome benutzt?«, fragte ich.

»Ja. Nicht, dass Cheryl von der Sorte Ohne-Überzieher-läuft-nichts gewesen wäre. Sie sah das eher locker. Es lag an mir. Ich traute ihr nicht.«

»Hast du die Kondome im Hotel gelassen?«

»Unglücklicherweise ja. Ich habe nicht damit gerechnet, dass Cheryl sterben würde.«

»Also hat die Polizei Beweise gegen dich.«

»Ich würde das nicht Beweise gegen mich nennen. Ja, ich habe sie gef … Ich hatte Sex mit ihr. Na und? Daraus müssen sie mir erst mal einen Strick drehen. Sie haben kein Motiv.«

»Cheryls Schwangerschaft.«

Er küsste meinen Schoß durch die Jeans. »Es war nicht von mir …«

»Chris …«

»Ich weiß, ich weiß. Es sieht nicht gut aus.«

»Du musst mit deinen Anwälten reden. Du bist in Schwierigkeiten.«

»Ja, das bin ich.« Wieder küsste er den Stoff zwischen meinen Beinen. »Ich muss gehen. Aber ich will nicht gehen. Denn wenn ich erst mal gehe, werde ich dich nie wieder sehen.«

»Davon weiß ich nichts.«

Er setzte sich auf. »Teresa. Ich werde an dieser Sache zu Grunde gehen. Egal, was wirklich passiert sein mag, sie werden einen Weg finden, mich einzubuchten. Wegen meines Onkels. Und wenn ich untergehe, will ich nicht, dass dein Name mit mir in Verbindung gebracht wird, verstehst du?«

»Chris …«

»Hör mir zu, Terry. Hör mir zu, denn ich weiß, wovon ich rede. Es ist unwahrscheinlich, dass die Polizei eine Verbindung zwischen dir und mir herstellen wird. Wir sind seit Monaten nicht zusammen gewesen.«

Er nahm mein Gesicht und küsste mich fest auf den Mund.

»Aber wenn sie es tun … mit dir reden … dann warst du meine Nachhilfelehrerin. Ich war dein Schüler. Nichts weiter. Ich habe dir gesagt, dass ich nie wollte, dass du von meinem Dreck beschmutzt wirst. Das habe ich ernst gemeint. Und ich meine es jetzt mehr als je zuvor. Ruf mich nicht an. Komm nicht in meine Wohnung. Schreib mir nicht. Versuch nicht, Kontakt mit mir aufzunehmen. Tu nichts für mich. Vergiss einfach, dass ich je existiert habe!«

»Ich weiß nicht, ob ich das akzeptieren kann«, sagte ich.

»Du musst es akzeptieren, Engelchen, denn für mich bist du tot! Es geht nicht anders!«

Chris verschlang meinen Mund, dann ließ er mein Gesicht los.

»Wenn du anfängst … versuchst, mich zu verteidigen … einen Donatti zu verteidigen … wenn du das tust, werden sie sich wie tollwütige Hunde auf dich stürzen und dich mit ihren messerscharfen Zähnen über den Beton schleifen. Terry, dann kannst du die ganze harte Arbeit … alle deine Träume im Klo runterspülen, nur weil du das Pech hattest, von einem bösen Jungen geliebt zu werden. Das ist das Letzte, was ich will. Lieber gehe ich in den Knast, als dass sie dich fertig machen.«

»Wie sollten sie mich fertig machen?«

»Glaub mir, Terry, die haben da so ihre Methoden!«