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Diesmal überging Decker Davidson einfach und wandte sich direkt an Strapp. Der Captain war Mitte Fünfzig, seit dreißig Jahren dabei, mittelgroß, aber dünn. Er hatte schmale Augen, ein längliches Gesicht, eine scharfgeschnittene Nase und dünne Lippen. Als bedächtiger Mann sagte Strapp nie etwas, ohne vorher genau zu überlegen. Seine abwägende Art machte ihn sowohl für die Leute unter ihm als auch für die oberen Ränge erträglich.
Während Decker ihm nun seine Untersuchungsergebnisse Stück für Stück vortrug, saß Strapp, das spitze Kinn auf die aneinander gelegten Finger gestützt, da und hörte zu. Er machte sich keine Notizen. Das brauchte er nicht. Erst als Decker mit seinem Vortrag fertig war, äußerte er sich.
»Da haben wir ja einiges. Zunächst einmal die große Frage mit Diggs. War sie wirklich schon tot oder nicht?«
»Objektiv gesehen, können wir uns da nur auf den Autopsiebericht berufen. Der Leichenbeschauer hat festgestellt, dass Diggs höchstwahrscheinlich durch Erwürgen gestorben ist, und Ashala hat zugegeben, sie gewürgt zu haben.«
»Und was ist mit Whitman? Hat er sie vielleicht auch gewürgt?«
»Die Fingerabdrücke um Cheryls Hals gehören zu einer Person. Die Würgemale scheinen zu Ashalas Händen zu passen.«
Niemand sagte etwas.
Dann erhob Decker wieder die Stimme. »Aber das ist alles nicht eindeutig. Im Autopsiebericht ist auch von widersprüchlichen Faktoren die Rede. Diggs war bis obenhin voll mit Drogen und Alkohol. Es ist sehr gut möglich, dass sie an einer Überdosis gestorben ist. Vielleicht in Whitmans Gegenwart und vielleicht mit seiner Unterstützung.«
»Bevor Ashala sie erwürgt hat.«
»Genau.«
»Wenn das so wäre«, sagte Strapp, »hätten wir ihn vielleicht für Totschlag rankriegen können … wie bei der Belushi-Sache, stimmt’s?«
Decker nickte.
»Wenn man Whitman also das angehängt hätte, würde er jetzt dieselbe Strafe absitzen.« Strapp faltete die Hände auseinander und fuhr sich damit durch die dünnen Haare. »Es ist überhaupt kein Problem, Ashala die Diggs-Sache anzuhängen. Kalil geht so oder so in den Bau. Das Problem ist Whitman. Ändern Ihre Entdeckungen etwas an seiner Lage? So wie ich das sehe, haben wir mehrere Möglichkeiten.«
Er machte sich ans Aufzählen.
»Erstens können wir Whitman seine Zeit absitzen lassen und diese neuesten Entwicklungen einfach vergessen. Zweitens könnten wir dem Haftaufseher auf Grund der neuen Erkenntnisse eine Strafverkürzung vorschlagen. Drittens können wir Schadensbegrenzung betreiben, bevor Whitmans Winkeladvokaten von der ganzen Sache Wind bekommen. Einfach den Gouverneur bitten, die Strafe umzuwandeln, vielleicht sogar, ihn zu begnadigen.«
Wieder war es still im Raum.
Decker brach das Schweigen: »Eins ist jedenfalls sicher, Captain. Whitmans Anwälte werden Wind von der Sache bekommen.«
»Ja, das werden sie. Und wenn sie es herausfinden, werden sie einen großen Tanz aufführen. Was sehr unangenehm werden kann für das LAPD, wenn die Anwälte sich erst mal darüber auslassen, dass der Fall von Anfang an nicht gründlich genug untersucht worden ist. Gewisse rechtsgerichtete Gruppierungen könnten zum Beispiel behaupten, die Polizei verhalte sich umgekehrt rassistisch und habe den Mord an Diggs bewusst einem Weißen angehängt, um die Minderheiten zu besänftigen.«
»So war es nun nicht.«
»Was wollen Sie denn mit der Wahrheit? Das ist alles eine Frage der Auffassung. Es gibt eine Menge unzufriedene Menschen in unserem Staat. Sehen Sie sich doch nur mal die Wahlvorschläge an, Decker.«
»Sie meinen Proposition 187«, bemerkte Decker.
»Nicht nur die Illegalen. Durchgreifen als Gesamtidee steht unter Beschuss. Und Whitmans Anwälte werden sich nur so darauf stürzen. Die Schwarzen rebellieren vielleicht, aber wir wissen auch, dass die Mafia, anders als alle anderen Gruppierungen, keinerlei Hemmungen hat, es mit irgendjemandem aufzunehmen. Die Sache könnte sich zu einer richtigen Katastrophe ausweiten.«
»Wir hatten ein Geständnis von Whitman, dem Hauptverdächtigen. Zum damaligen Zeitpunkt schien es nicht notwendig, noch nach anderen Möglichkeiten zu suchen.«
»Zum damaligen Zeitpunkt schien es nicht notwendig? Dann erklären Sie mir doch mal, warum Sie drei Monate später Ihren eigenen Fall wieder aufgerollt haben.«
»Ich war mir über einige Punkte nicht schlüssig.«
»Und Sie meinen, dass sich Amerikas größter Verbrecherboss damit abspeisen lassen wird? Ganz zu schweigen davon, wie das bei den Schwarzen ankommt … oder bei den Medien.«
»Mir war klar, dass mein Verhalten missverstanden werden könnte.«
»Das gefällt mir, Decker.« Strapp legte seine Fingerspitzen zum Indianertipi zusammen. »Ihr Verhalten könnte missverstanden werden. Wenn Sie Ihren eigenen Fall wieder aufmachen, sieht das aus, als hätten Sie sich von Donatti kaufen lassen.«
Decker machte ein unbewegliches Gesicht. »Lieutenant Davidson war der leitende Ermittler in diesem Fall, Sir, und er hat eine Entscheidung getroffen. Er hat eine Spur bevorzugt verfolgt. Nach dem, was wir damals wussten, war das eine logische Entscheidung.«
»Aber es war nicht die richtige Entscheidung. Das haben Sie selbst bewiesen.«
»Was soll ich sagen, Captain? Wenn ich in der Diggs-Sache das letzte Wort gehabt hätte, hätte ich erst mal alles überprüft, bevor ich damit zum Staatsanwalt gelaufen wäre. So arbeite ich. Aber das heißt nicht, dass wir alles falsch gemacht haben. Wir hatten Whitmans Geständnis.«
»Ich habe dieses Geständnis noch mal gelesen, Sergeant«, sagte Strapp. »Er hat nie gesagt, dass er es getan hat. Er drückt nur seine Bereitschaft aus zuzugeben, dass er es getan haben könnte. Er hat ausdrücklich gesagt, dass er sich nicht erinnern kann, weder dass er es getan hat, noch dass er es nicht getan hat.«
»Aber er hat sich auf eine Anklage auf Totschlag eingelassen. Alles, worauf wir uns geeinigt haben, ist ohne jeden Druck und aus seinem eigenen freien Willen zu Stande gekommen.«
»Zugegeben.« Strapp hielt einen Moment lang inne.
»Trotzdem. Whitmans Anwälte könnten eine Eingabe machen, das Geständnis für ungültig erklären zu lassen, weil die Verteidigung nicht über die widersprüchlichen Beweismittel informiert wurde. Darüber hinaus stützen wir uns in unserer jetzigen Sache gegen Ashala auch kräftig auf sein Geständnis …«
»Also, da ist nun wirklich alles nach Vorschrift gelaufen.«
»Das ist egal, Sergeant. Er kann einfach behaupten, unter Druck gesetzt worden zu sein. Er hatte keinen Vertreter dabei.«
»Er hat auf sein Recht auf seinen Anwalt verzichtet.«
»Er hat nicht verstanden, was das bedeutet, Decker. Sie wissen doch, wie so was läuft. Außerdem gibt es da eine seltsame Unterbrechung in dem Band. Können Sie dazu etwas sagen?«
Decker zuckte unschuldig die Achseln. »Wir haben eindeutige Beweise, um das Geständnis zu untermauern.«
»Richtig«, gab Strapp zu.
»Also, was will der Anwalt?«, fragte Decker.
»Er bietet uns Diggs und den Auftritt als Kronzeuge gegen seine Schwester Fatima im Fall Green, wenn wir ihm auch etwas dafür bieten. Vorausgesetzt, wir tun das … und er bietet uns Diggs als Teil des Pakets … können wir die Sache mit Whitman in aller Stille klären.«
»Und was sollen Sie ihm im Gegenzug bieten?«
»Totschlag für Diggs und Trupp, nichts für Green …«
»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!«
»Wenn wir damit neue Rassenunruhen abwenden können, doch, dann ist es mein Ernst. Decker, wenn Ashala uns Diggs nicht bietet, können wir die Whitman-Frage nicht klären, ohne dass die Presse etwas davon mitbekommt. Dann könnte uns das Ganze hochgehen.«
»Dieses Schwein hat drei Menschen ermordet. Und auf mich hat der Mistkerl geschossen.«
Strapp schwieg.
Decker sagte: »Ich glaub das einfach nicht.«
»Jetzt halten Sie Ihre Entrüstung mal im Zaum. Sie haben sich das selbst zuzuschreiben. Wenn Sie nicht damit einverstanden waren, wie Davidson die Sache angegangen ist, hätten Sie sofort zu mir kommen sollen.«
Decker nahm sich zusammen und sagte nichts.
»Ich weiß schon«, sagte Strapp. »Sie wollten Ihrem Vorgesetzten nicht in den Rücken fallen. Das respektiere ich. Aber das heißt nicht, dass wir keine Probleme hätten. Nehmen wir doch mal Ihre Beweiskette gegen Kalil Ashala. Die ließe sich mit einem einzigen Pfeil abschießen. Sie haben von Ashala nur durch eine Zeichnung erfahren, und die ist ausgerechnet von Whitman.«
»Von Deanna Green habe ich nicht durch Whitmans Zeichnung erfahren. Ich habe sie durch Polizeiarbeit entdeckt – durch das Programm zur Verbrechensanalyse. Diggs und Green wurden beide auf die gleiche Weise gefesselt und erwürgt. Dazu ist das Vergleichsprogramm da.«
»Whitman hat die Frauen auf dieselbe Weise gefesselt.«
»Aber Whitman kann nicht mit Diggs und Green in Verbindung gebracht werden. Kalil schon!«
»Sergeant, mal ganz unter uns, Ashala hat alle beide auf dem Gewissen. Aber es gibt politische Bedenken bei der Sache, die uns in die Quere kommen können. Wenn wir annehmen, dass Ashala für den Tod von Diggs verantwortlich ist, sind wir moralisch verpflichtet, Whitman aus dem Gefängnis zu holen. Möglichst ohne die nächste Bombe hochgehen zu lassen. Bisher ist noch nichts entschieden. Lassen Sie mir ein paar Tage Zeit, um darüber nachzudenken … was wir mit Whitman machen sollen. Bis dahin haben Sie genug Papierkram, mit dem Sie sich beschäftigen können.«
Das stimmte. Decker sagte: »Jawohl, Sir.«
»Haben Sie Ihre Überstunden schon eingereicht?«
»Ich habe das in meiner Freizeit gemacht, also … nein, hab ich nicht.«
»Dann holen Sie’s nach. Ich werde Ihnen die Stunden genehmigen.«
»Danke, Sir. Es wäre mir sehr lieb, wenn Officer Wanda Bontemps vom Revier Wilshire ihre Überstunden ebenfalls angerechnet bekäme.«
»Kein Problem. Wir reden später. Sonst noch was?«
Decker zögerte lange. Strapp war nicht der Einzige, der erst nachdachte und dann sprach.
»Sergeant?«, fragte Strapp.
»Nein, Sir«, sagte Decker. »Nichts weiter.«
Rina machte vorsichtig die Tür zu Hannahs Kinderzimmer zu. Sie kam zum Tisch zurück und sah, dass ihr Mann seinen Teller nicht berührt hatte. Decker saß da und starrte ins Essen; seine Augen wanderten hin und her, als würde er bei einem Tennismatch zusehen. Er klopfte im Takt seiner wandernden Augen mit einem Teelöffel auf die Serviette.
Ansonsten war der Tisch verwaist. Es war sehr spät. Die Jungen lagen schon seit Stunden im Bett. Peter saß ganz allein da, gefangen zwischen seinem inneren Rhythmus, seinen Gedanken und dem Hackbraten. Rina setzte sich, aber er merkte es gar nicht. Sie stand wieder auf, stellte sich hinter ihn und legte ihrem Mann die Hände auf die Schultern.
»Bist du fertig?«, fragte sie. »Oder hast du noch gar nicht angefangen?«
»Hm?«, Decker sah auf. »Ah, nein, ich hab nicht angefangen. Ich wollte auf dich warten.« Er lud sich die Gabel mit Hackbraten voll. »Sehr gut. Wunderbar.« Er lächelte schräg. »Möchtest du Wein, Liebling? Ich würde gern ein Glas trinken.« Er stand abrupt auf. »Setz dich, Rina. Ich schenke uns ein.«
Er verschwand in der Küche und kam mit Weinflasche und Korkenzieher zurück. Seine aufgesetzte Fröhlichkeit hatte etwas von einem Komiker, der gerade eine Bombe legt und dabei ganz harmlos tut. »Nur noch ein paar … verdämmt, jetzt ist mir der Korken reingerutscht. Mit diesem Mistding klappt das aber auch nie richtig. Ich verdiene zwar nicht viel, aber einen anständigen Korkenzieher können wir uns, glaube ich, gerade noch leisten.«
»Entspann dich. Ein bisschen Korken hat noch niemandem geschadet. Setz dich hin, Peter. Du machst mich ganz nervös.«
Decker schenkte den Wein ein, Korken hin, Korken her, dann setzte er sich.
»Willst du mir sagen, was los ist?«, fragte Rina.
»Was meinst du?«
»Was beunruhigt dich?«
»Ach, das?« Decker lächelte. »Nichts Schlimmes. Das krieg ich schon hin. Was macht Hannahs Erkältung?«
»Sie schnaubt wie ein Warzenschwein, aber sie wird’s überleben.« Rina knabberte an einer grünen Bohne. »Die Frage ist, wirst du das auch?«
»Ich sagte doch schon, es ist alles in Ordnung.«
»Das ist es aber nicht. Du isst nichts. Und mir wäre es lieber, wenn der Grund dafür wäre, ›es bedrückt mich etwas‹, als ›ich mag deinen Hackbraten nicht‹.«
»Dein Hackbraten ist köstlich.« Decker aß schnell drei Gabeln voll. »Ich liebe dein Essen.«
»Wenn du schon nicht mit mir reden willst, sprich wenigstens mit irgendjemand anderem …«
»Ich brauche mit niemandem zu reden. Und abgesehen davon schadet Reden manchmal mehr als alles andere.« Decker nippte an seinem Wein. »Manchmal kann es dich sogar deinen Job kosten.«
Rinas Hand erstarrte in der Luft. »So schlimm?«
»Sagen wir’s mal so«, entgegnete Decker. »Wenn du’s runterschluckst, verbrennt es dir die Eingeweide. Wenn du’s rauslässt, halten dich alle für einen Petzer oder einen Arschkriecher.«
Rina legte die Gabel hin und hielt erschrocken die Hand vor den Mund. Decker sah ihr Gesicht und fühlte, wie ihm das Herz in die Hose sackte. Er fluchte innerlich. Was musste er auch das Maul so weit aufreißen.
»Siehst du. Deshalb mag ich dieses Reden nicht immer. Jetzt habe ich gleich übertrieben. Vergiss es. Mach dir keine Sorgen. Ich komm schon zurecht.«
»Peter, du hast getan, was du für richtig hieltest«, sagte Rina. »Das ist das Einzige, was zählt.«
»Ja, nachdem ich es erst mal versiebt und auf Davidson gehört habe.«
»Hattest du denn eine andere Wahl?«
»Man hat immer eine andere Wahl.«
»Also hast du beim ersten Anlauf die deiner Meinung nach falsche Wahl getroffen. Aber du hast dich korrigiert, und das beweist doch deine Integrität …«
»Du darfst mich heiliger Peter nennen.«
»Juden glauben nicht an Heilige.«
»Ich auch nicht.«
»Peter, wir haben alle schon mal die falsche Entscheidung getroffen. Das heißt aber nicht, dass wir unserem Beruf nicht gewachsen sind oder schlechte Menschen …«
»Ja, ja, plapper di plapper di plapp.«
»Ich kann einfach nicht mit ansehen, wie du dich selbst kasteist.«
»Ich liebe es, wenn du Worte wie kasteien benutzt.«
»Du bist hoffnungslos.« Rina trank einen Schluck Wein. »Übrigens, bevor ich’s vergesse. Detective Martinez von Van Nuys hat angerufen.«
Decker sah auf. »Er hat hier angerufen?«
»Ja.«
»Was wollte er?«
»Ich weiß nicht. Warum rufst du ihn nicht zurück und fragst ihn selber? Die Nummer liegt auf der Küchenablage.«
Decker wollte schon aufstehen, hielt sich dann aber zurück. »Nach dem Essen. Und wie war dein Tag, Liebling?«
Rina sah ihn angeekelt an. »Nun geh schon, Peter, und ruf an.«
Er lächelte, diesmal ganz echt. »Ich weiß schon. Du willst mich loswerden. Ich bin ungefähr so nützlich wie ein Kloß Butter.«
»Ach, Butter kann ich immer gebrauchen.«
Decker lachte und ging in die Küche.
Es war ein kurzes Gespräch. Nicht mehr als fünf Minuten und ein Dutzend Sätze auf beiden Seiten. Aber das war mehr als genug, um Decker wieder in Bewegung zu setzen. Er sagte Martinez, er würde gleich vorbeikommen. Als er aufgelegt hatte, griff er nach seiner Jacke und den Autoschlüsseln, gab seiner Frau einen dicken Kuss auf den Mund und stürzte zur Tür hinaus.
Rina hatte vollkommen Recht. Manchmal hilft es wirklich, die Dinge zu bereden. Es musste nur der richtige Gesprächspartner sein.