21

Als das Verhör in die sechste Stunde ohne jede Unterbrechung ging, verlangte James Moody eine Pause. Decker stimmte zu und ging zum Ausspannen in den Beobachtungsraum. Davidson stand mit zusammengekniffenen Augen hinter dem Einwegspiegel und starrte Whitman und seinen Vertreter an, als würde er feindliche Eindringlinge durch ein Fernglas beobachten. Scott Oliver lag halb auf der Tischplatte, unter seinen Augen hatten sich dicke Tränensäcke gebildet. Zu Deckers Überraschung war auch Elaine Reuter geblieben, obwohl ihr Teil der Arbeit schon lange erledigt war. Sie war normalerweise immer wie aus dem Ei gepellt, aber je später es wurde, desto mehr litt auch ihre Aufmachung. Elaines Haar hatte sich in eine struppige Mähne verwandelt, und sie sah insgesamt etwas zerknittert und zerknautscht aus. Decker fühlte sich selber nicht besonders. Er fuhr mit der Hand über das Nagelbrett in seinem Gesicht. Es war höchste Zeit für eine Rasur.

Er sagte: »Wir haben die letzten vier Stunden hindurch immer wieder dasselbe Feld beackert, Lieutenant. Was denken Sie?«

Davidson leckte sich die Lippen, sagte aber nichts.

Elaine rieb sich die Augen. »Mir gefiel Whitmans erster Ausraster, dass Sex ihm nicht wahnsinnig viel bedeutet. Ziemliches Eingeständnis für einen Achtzehnjährigen.«

»Glauben Sie ihm kein Wort!«, sagte Davidson.

»Verdammt richtig.« Oliver hob den Kopf. »Der Mistkerl ist ein Angeber. Die Über-Macho-Nummer. ›Ich bin so cool, dass ich es nicht brauche.‹ Und gleichzeitig hat er Cheryl Diggs regelmäßig gevögelt. Und andere wahrscheinlich auch.«

Davidson horchte auf. »Haben Sie Namen, Oliver?«

»Klar, ich halt sie nur geheim …«

»Oliver …«

»Nein, ich habe keine Namen, Loo. Die Jungs, mit denen ich geredet habe, wussten nicht viel über Whitman, Punkt. Erst recht nicht über sein Liebesleben.« Oliver sah Decker an. »Und die Mädchen?«

»Genau das Gleiche.« Decker setzte sich. »Aber ich bin mit Scotty einer Meinung. Ich glaube auch, dass Whitman noch andere Partnerinnen gehabt hat. Wäre nett, wenn wir eine davon ausgraben könnten.«

»Ich hoffe, nicht buchstäblich«, sagte Elaine.

»So habe ich das nicht gemeint«, sagte Decker. »Aber es ist eine Möglichkeit.«

»Und ob«, sagte Davidson. »Er sieht danach aus.«

Decker sagte: »Wäre schön, wenn wir eine lebende Partnerin auftreiben könnten. Dann wüsste man, ob er irgendwelche seltsamen Vorlieben hat.«

»Wie Fesseln zum Beispiel?«, sagte Elaine.

»Du sagtest doch, das Gerät hätte ausgeschlagen, als er vom Fesseln gesprochen hat.«

»Ich sagte auch, dass der Ausschlag noch im Normbereich lag«, sagte Elaine. »Wie bereits erwähnt, es ist wahrscheinlich eine alte Fantasie von ihm.«

»Nur dass er sie diesmal Wirklichkeit hat werden lassen«, sagte Davidson.

»Drei, vier Stunden sind bei mir noch gut drin«, sagte Decker. »Aber mal ehrlich, ich bin so weit gegangen, wie ich konnte. Was soll ich Ihrer Meinung nach tun?«

Davidson machte ein schmerzliches Gesicht. »Wollen Sie damit sagen, ich soll ihn laufen lassen, obwohl ich weiß, dass er es getan hat?«

Decker sagte: »Ich sage gar nichts. Das ist Ihre Entscheidung.«

»Ich brauche Beweise, Decker!«

»Verschaffen Sie mir einen Durchsuchungsbefehl, dann bringe ich Ihnen vielleicht seinen Smoking«, sagte Decker.

»Was ist, wenn er einen geliehen und wieder zurückgegeben hat?«, sagte Elaine.

Oliver sagte: »Wenn er einen geliehen hat, dann nicht bei einem Laden in der Region, oder aber er hat nicht seinen richtigen Namen angegeben. Ich habe jeden Kostümverleih im Umkreis von zwanzig Kilometern rund um die Schule angerufen.«

»Der Junge ist groß und Donattis Sohn, ich wette, er hatte einen eigenen«, sagte Decker.

»Wir müssen also nur seinen Smoking finden«, meinte Elaine, »das Gewebe mit der Fliege vergleichen, die wir am Tatort gefunden haben, und schon haben wir einen beweiskräftigen Hinweis.«

»Hört sich ganz einfach an, wenn man es so formuliert«, sagte Decker.

»Es ist einfach«, beharrte Davidson.

»Der Junge ist schlau«, sagte Oliver. »Den Smoking hat er inzwischen wahrscheinlich verschwinden lassen.«

Decker sagte: »Ein Smoking verschwindet nicht so einfach, Scotty. Er hat zugegeben – und das haben wir im Protokoll –, dass er am Abend des Abschlussballs einen trug.«

»Ach deshalb hat er dich so angesehen«, sagte Elaine. »Wegen deiner Bemerkung, dass er noch nicht mal seinen Smoking ausgezogen hat, bevor er eingeschlafen ist.« Sie lächelte. »Mann, der ist dir ja schön in die Falle gegangen.«

»Yep«, sagte Decker. »So ist es.«

»Und er hat’s gewusst«, meinte Oliver. »Was, wenn er schon unterwegs war und einen neuen gekauft hat?«

Decker sagte: »Nicht so einfach, auf die Schnelle was Passendes vom Ständer zu ziehen, noch dazu in der Ballsaison.«

»Dann lässt er sich eben einen schneidern«, sagte Oliver.

»Scotty«, sagte Decker. »Der Mord ist am Sonntagmorgen passiert, als sämtliche Geschäfte geschlossen waren. Heute ist Montag. Er hatte ungefähr sechs Stunden Zeit, um sich irgendwas auszudenken … vorausgesetzt, er wusste, dass ihn der Smoking in Schwierigkeiten bringen könnte. Es ist zwar nicht unmöglich, aber ich glaube, es wäre einigermaßen schwierig, in so kurzer Zeit einen Smoking zu schneidern.«

»Das Einzige, was du dazu brauchst, ist Geld, Rabbi«, sagte Oliver. »Wenn sie heute Maß genommen haben, holt er sich den Anzug morgen ab.«

»Also lassen wir ihn rund um die Uhr überwachen. Mal sehen, ob uns das zu einem Schneider führt.«

Elaine sagte: »Und was passiert, wenn du den Original-Smoking findest, Peter, und er passt zu dem Binder am Tatort? Wenn schon. Whitman hat zugegeben, dass er in dem Zimmer war. Warum soll er nicht einfach sagen, dass er seine Fliege dort vergessen hat?«

»Genau das wird er sagen«, sagte Oliver.

»Wenn wir die Fliege, mit der Cheryls Hände angebunden wurden, Whitmans Smoking zuordnen können, reicht das für eine Anklage«, sagte Davidson. »Alles andere interessiert mich nicht. Mit der Fliege haben wir nämlich die drei wichtigsten Punkte – Gelegenheit, Werkzeug und Motiv, nämlich Diggs’ Schwangerschaft.«

»Seine Verlobte weiß von Cheryls Schwangerschaft, Lieutenant«, sagte Elaine. »Sie hat ihn nicht in die Wüste geschickt.«

»Reuter, ich will Ihnen mal erklären, wie das bei der Mafia läuft«, gab Davidson zurück. »Um der Polizei gegenüber nicht das Gesicht zu verlieren, halten diese Mafiosi zusammen, egal was kommt. Uns sagen sie, dass alles in bester Ordnung ist. Aber wenn Whitman nach Hause kommt, zu Papa Benedetto und Onkel Joey Donatti, werden sie ihm schon die Eier abschneiden.«

»Aua aua!« Oliver hielt sich schützend die Hände vor den Schritt.

»Wir würden dem Jungen einen Gefallen tun, wenn wir ihn einlochen«, sagte Davidson.

»Glauben Sie tatsächlich, dass er Cheryl umgebracht hat, weil ihre Schwangerschaft seine Verlobung gefährdete?«, fragte Elaine.

»Ich weiß, dass das der Grund ist«, entgegnete Davidson.

»Obwohl er bereit ist, uns Blut und Spermaproben als Beweis zu liefern?«, fragte Decker.

»Das sagt er jetzt«, sagte Davidson. »Sie können Ihren Arsch darauf verwetten, dass er sich das noch mal überlegen wird. Und selbst wenn das Kind nicht von ihm war, haben Cheryls Drohungen allein wahrscheinlich schon gereicht, um ihn auf die Palme zu bringen. Es musste noch nicht mal stimmen.«

»Da bin ich anderer Meinung«, sagte Decker.

»Natürlich«, knurrte Davidson. »Es ist gegen Ihre Überzeugung, mit mir einer Meinung zu sein.«

»Wenn er Cheryl ermordet hat, sehe ich darin – selbst angesichts der Fesseln – keine vorsätzliche Tat. Vielleicht ein erotisches Spielchen, das daneben gegangen ist. Könnte doch sein, dass er noch ein bisschen herum experimentiert hat in Sachen Sex, bevor er den großen Sprung wagen wollte. Ich nehme nicht an, dass Papa Benedetto ihn mit offenen Armen aufnehmen würde, wenn er sein Töchterchen am Bett festbindet.«

»Das glaube ich Ihnen nicht«, sagte Davidson. »Whitman gehört zur Mafia, und alle Mafiosi haben Anhängsel.«

»Anhängsel?«, fragte Elaine.

»Mätressen«, sagte Decker.

Oliver ergänzte: »Eine hübsche Mieze am Arm hängen.«

»Nur dass Benedetto einer von den ganz Großen ist«, sagte Decker. »Er ist ein altmodischer italienischer Papa, und seine Tochter ist seine kleine Prinzessin.«

»Aber der Ehemann – der Mann – ist immer noch König«, beharrte Davidson.

»Zugegeben«, sagte Decker. »Er mag es vielleicht hinnehmen, dass Whitman sich eine Freundin zulegt, nachdem er sich die ersten Sporen verdient hat. Aber vorher muss Whitman sich erst mal beweisen. Zum jetzigen Zeitpunkt würde Benedetto es niemals tolerieren, dass so ein Jüngelchen von achtzehn Jahren und noch grün hinter den Ohren auf Kosten seiner Tochter mit anderen herummacht.«

»Na ja, aus welchem Grund auch immer, Diggs ist jedenfalls tot«, sagte Davidson. »Und Whitman hat es – aus welchem Grund auch immer – getan.«

»Und wir haben keinen Haftbefehl und auch nicht genug, um ihn festzuhalten«, sagte Decker. »Was sollen wir also Ihrer Meinung nach mit ihm machen?«

Davidson fuhr sich mit seiner fleischigen Hand übers Gesicht. »Machen Sie noch mal eine halbe Stunde weiter … dürfte mir reichen, um einen Beobachter auf ihn anzusetzen, bis ich den Wisch habe.«

»Die Beobachtung übernehme ich«, sagte Oliver.

»Sie sind halb tot«, sagte Davidson. »Ihnen würde ich nicht mal die Beobachtung meines Goldfischs anvertrauen.«

Decker sagte: »Und wann, glauben Sie, können Sie einen Durchsuchungsbefehl bekommen?«

Davidson sah zur Wanduhr. »Sinnlos, um ein Uhr morgens einen Richter aus dem Schlaf zu holen, wo wir Whitman ohnehin jemanden an die Fersen heften. Ich frage Ronnie Peterson als Erstes morgen früh. Wir kennen uns schon ziemlich lange.« Davidson ließ die Schultern kreisen. »Halten Sie Moody noch eine halbe Stunde fest, und dann lassen Sie ihn gehen. Irgendwelche Fragen?«

Im Raum herrschte Schweigen.

»Dann sind Sie hiermit entlassen«, verkündete Davidson.