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In der Zeitung fehlten die Seiten sieben und acht. Die Landesnachrichten, insbesondere die landesweiten Kriminalfälle. Decker legte das dünne Blatt nieder. Sein Magen hatte sich zu einem festen, säuerlichen Knoten zusammengezogen. »Rina, wo ist der Rest der Zeitung?«

Rina bearbeitete das Rührei weiter mit der Gabel. »Ist nicht alles da?«

»Nein, es ist nicht alles da.«

»Hast du nachgesehen?«

»Ja, ich habe nachgesehen.«

»Vielleicht hat Ginger es in die Fänge bekommen«, sagte Rina leichthin. »Du weißt ja, wie sehr der Hund Zeitungspapier mag. Ich glaube, sie benutzt es gegen Mundgeruch …«

»Rina …«

»Peter, könntest du Hannah bitte vom Geschirrspüler loseisen und in ihr Stühlchen setzen, damit ich sie füttern kann? Und nimm die Pflaumen aus dem Besteckkorb, wenn du schon dabei bist.«

Decker starrte seine Frau an, stand auf und nahm seine zweijährige Tochter, die noch im Schlafanzug war, hoch. Sie hielt in jeder Hand eine Pflaume.

»Daddy Pflaule will?«

»Ja, Hannah Rosie, ich möchte gerne eine Pflaume.«

»Abbeiß?« Sie stopfte ihrem Vater die Frucht in den Mund. Decker tat wie gewünscht und biss ab. Der Saft spritzte aus der überreifen Pflaume, tropfte von seinem kürbisfarbenen Schnurrbart und lief ihm in violetten Spuren am Kinn hinunter. Er setzte seine Tochter in ihren Hochstuhl und wischte sich den Mund ab.

»Du abbeißen will, Daddy?«

»Nein, danke, Hannah.«

»Du abbeißen will, Daddy?«, sagte Hannah mit Nachdruck.

»Nein.«

»Du abbeißen will, Daddy?« Hannah war den Tränen nahe.

»Beiß noch mal ab, Peter«, sagte Rina. »Iss die ganze Pflaume.«

Decker nahm die Pflaume und aß sie. Hannah hielt ihm die zweite hin. »Schätzchen, wenn ich noch mehr Pflaumen esse, kann ich den Rest meiner Tage im Badezimmer verbringen.«

Rina lachte. »Ich nehme die Pflaume, Hannah.«

»Nein!«, schrie das Baby los. Ihr Gesicht war rot vor Aufregung. »Daddy Pflaule essen soll.«

Decker nahm ihr die zweite Pflaume ab. »Warum kaufst du andauernd Pflaumen?«

»Weil sie immer wieder welche haben will.«

»Das bedeutet nicht, dass du sie auch kaufen musst.«

»Als ob gerade du ihren Wünschen widerstehen könntest. Neulich habe ich gesehen, wie sie mit deinen Manschettenknöpfen gespielt …«

»Sie mag glitzerige Sachen«, unterbrach Decker. »Gefällt mir, wie elegant du das Thema gewechselt hast, Liebling. Was ist mit der Zeitung passiert?«

Rina stellte einen Teller mit Ei vor Hannah hin und goss Orangensaft ein. Sie zuckte hilflos die Achseln. »Was soll ich sagen?«

Decker fühlte die Übelkeit in sich hochsteigen. »Das Schwein hat wieder zugeschlagen.«

Rina nickte.

Decker sagte nichts. Aber Rina sah, wie seine Kinnlade Überstunden einlegte. Sie sagte: »Cindy hat heute Morgen angerufen. Sie bat mich, es vor dir geheim zu halten. Ich hätte es nicht tun sollen. Aber sie klang so, als hätte sie eine Verbündete sehr nötig. Es war einfach zu viel für sie, beides gleichzeitig, du und dazu noch die Hysterie ihrer Mutter. Und es kann ja auch niemand etwas tun …«

»Was soll das heißen, ›es kann niemand etwas tun‹?«, fuhr Decker sie an. »Ich kann etwas tun. Ich kann sie nach Hause holen, raus aus diesem Höllenloch.«

»Los Angeles ist auch keine Insel der Seligen …«

»Immer noch besser als New York.«

»Nicht ganz New York ist wie Columbia, Peter.«

»Na, dann ist ja alles in Butter, nur dass Cindy rein zufällig auf die Columbia-Universität geht.« Decker stand vom Esstisch auf und ging in die Küche hinüber, um auf seine mehrere tausend Quadratmeter Farmland hinauszusehen. Im Reithof stand der Schlamm knöchelhoch; die Stallungen waren von den jüngsten Stürmen durchgerüttelt worden. Von den Foothills hinter der Grundstücksgrenze ergoss sich der feuchte Lehm. Sein Haus war bisher verschont geblieben, der Morast war noch mindestens fünfhundert Meter entfernt. Aber, wer weiß? Er hatte hier schon mit genug Schrott zu tun, er brauchte nicht auch noch Probleme in über viertausend Kilometer Entfernung.

»Habt ihr denn überhaupt geredet?«, fragte Decker.

»Ein paar Minuten«, antwortete Rina.

»Wie geht es ihr?«

Rina warf einen Blick auf Hannah. »Möchtest du ein Video sehen, Spätzchen?«

Das kleine Mädchen nickte und leckte sich die eiverschmierten Finger. »Mickymaus.«

»Schon gebongt.« Rina schob die Kassette in den Rekorder und ging dann in die Küche. Ihrem Mann flüsterte sie zu: »Wie es ihr geht? Sie ist natürlich verstört.«

»Diese verdammte Polizei! Das ist jetzt der dritte Fall, und sie scheinen einer Verhaftung dieses Irren keinen Schritt näher zu sein. Was, zum Teufel, machen die eigentlich?«

»Klingt irgendwie seltsam, wenn du das sagst.«

»Ich erkenne Unfähigkeit, wenn ich sie sehe.«

»Und, was schwebt dir vor, Peter? Nach New York fahren und die Untersuchung selber in die Hand nehmen?«

»Ich habe ernsthaft darüber nachgedacht. Ich habe über ein Jahrzehnt lang Sexualverbrechen bearbeitet …«

»Peter!«

»Vielleicht rufe ich mal den Ermittlungsleiter an.«

»Hast du hier noch nicht genug zu tun?«

»Diesen Monat war nicht viel los.«

»Boruch Haschem«, sagte Rina und dankte dem Herrn dafür.

»Boruch Haschem«, wiederholte Decker ihre Worte. »Übrigens sprechen wir von meiner Tochter. Ich möchte sicher sein, dass alles getan wird, was getan werden kann.«

»Ich bin sicher, dass sie Überstunden machen. Genau wie du es auch tun würdest.«

»Ganz genau. Überstunden bei Doughnuts.« Decker verzog das Gesicht. »Ich weiß, dass ich unfair bin. Und offen gesagt: Es ist mir egal.«

Rina seufzte. »Peter, warum besuchst du Cindy nicht einfach? Ich bin sicher, sie würde sich riesig freuen, ihren Einsneunzigmann von Bullenvater wieder zu sehen. Sie und all die anderen Mädchen im Studentenheim auch. Aber fahr als besorgter Vater hin, nicht als Cop.«

Decker fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Himmel noch mal! Sich auf diese Art über junge Mädchen herzumachen. Gott, ich schwör’s dir, Rina, wenn ich das Schwein zu Gesicht kriege, schieße ich ihm seine Du-weißt-schon-was ab.« Er sah seine Frau an. »Ist die Letzte verletzt worden? Natürlich wurde sie verletzt. Ich meine, wurde sie geschlagen oder so?«

»Nein. Derselbe MO.«

Der Modus Operandi. Der Mistkerl schlich sich an die Mädchen heran, brachte sie von hinten zu Fall, stülpte ihnen eine große Papiertüte über den Kopf und vergewaltigte sie von hinten. Die Opfer hatten die Vergewaltigung als brutal und schmerzhaft, aber gnädig kurz beschrieben. Das Monster war auf ihnen, bevor sie papp sagen konnten. Und er schien ebenso schnell wieder im Dunst zu verschwinden. Cindy war ein großes Mädchen, an die einsfünfundsiebzig und gut in Form, weil sie regelmäßig trainierte. Aber ein Mann von einsachtzig, der ebenso gut in Form war, konnte ein Mädchen von einsfünfundsiebzig spielend überwältigen. Töchter. Dem Herrgott sei Dank, dass seine beiden anderen Teenager jungen waren – Rinas Söhne. Nicht, dass er sich um sie etwa keine Sorgen machte. Mit knapp fünfzehn war Sammy schon groß, aber immer noch schmal, fake musste noch ein bisschen wachsen, aber er war auch erst dreizehn.

Decker tat der Kopf weh. Er bekam immer Kopfschmerzen, wenn er an die Kinder dachte. »Ich muss hin, Rina.«

»Ich verstehe das. Ich liebe Cindy auch. Ich finde, es ist eine prima Idee.«

»Komm mit.«

»Ich glaube, es ist besser, wenn sie dich ganz für sich allein hat.«

»Na, dann zieh los und besuch die Verwandtschaft in Borough Park. Die Jungen haben ihre Großeltern seit über einem Jahr nicht mehr gesehen.«

Die Großeltern der Jungen, dachte Rina. Die Eltern ihres verstorbenen Mannes. Ein Besuch bei ihnen war immer schmerzlich. Aber die Jungen bedeuteten ihnen so viel. Und außerdem waren da noch Peters jüngst entdeckte Halbgeschwister. »Sie werden dich alle sehen wollen. Wenigstens um hallo zu sagen.«

»Schlag dir das aus dem Kopf!« Decker ging auf und ab.

»Du wirst ihnen eben erklären müssen, warum ich nicht dabei bin. Ich kann es nicht gleichzeitig mit Cindy und deinem kleinen religiösen Haufen aufnehmen.«

»Es sind deine Verwandten.«

»Aber sie waren deine Freunde, bevor sie zu meinen Verwandten wurden. Dräng mich nicht in dieser Sache, Rina. Ach, vergiss es. Bleib einfach hier.«

Wieder starrte er aus dem rückwärtigen Fenster, die Hände gegen die Küchenkacheln gestützt. Willkommen in Deckers Schlammbädern. Er sollte mal wieder Sandsäcke auslegen, damit die Feuchtigkeit aufgenommen wurde. Zu allem Übel sah auch noch der Himmel bedrohlich aus.

Sieben Jahre Dürre, gefolgt von zwei Jahren Regengüsse. Ganz zu schweigen von Erdbeben, Feuersbrünsten und Aufständen. Decker fragte sich, welche Plage sie als nächste heimsuchen würde. Diese Stadt wurde verdammt noch mal zu biblisch für seinen Geschmack.

Rina ging zu ihrem Mann hinüber, schlang die Arme um seine Taille und lehnte den Kopf an seinen Rücken. »Was möchtest du, Peter? Sag es mir.«

»Den Regen aufhalten.«

»Nichts zu machen. Weiter?«

Er drehte sich um. »Was möchtest du?« Er nahm die Hände seiner Frau und küsste sie. »Ich möchte, dass du mit mir kommst. Ich vermisse dich schrecklich, wenn ich nicht bei dir bin, und lange Flüge deprimieren mich. Komm mit nach New York. Und wenn wir dort sind, lass mich in Ruhe, damit ich mit meiner Tochter und meinen eigenen Ängsten fertig werden kann.«

»Ich soll also deine therapeutische Begleitung spielen.«

»Und eine verdammt hübsche dazu.«

Rina lachte. »Ich komme mit.«

»Danke«, sagte Decker, »und … wenn ich es hinkriege … also, wenn ich die Kraft dazu aufbringe … dann komm ich vorbei und besuche die Verwandtschaft.«

»Du machst ein Gesicht, als hättest du auf eine Zitrone gebissen.«

»Der Morgen ist mir ganz schön sauer geworden.«

Rina strich ihrem Mann über die Wange. »Es tut mir Leid, dass du das alles durchmachen musst, dass wir das durchmachen müssen. Ich mache mir auch große Sorgen. Kinder. Da ist man zu lebenslanger Angst verurteilt, wenn man erst drüber nachdenkt. Ich freue mich, wenn ich dir helfen kann. Und die Jungen haben ihre Großeltern tatsächlich schon lange nicht mehr gesehen. Es ist sehr aufmerksam von dir, an sie zu denken.«

»Ich bin halt ein Heiliger.«

»Ich glaube, die angemessene Antwort auf ein Kompliment ist ein schlichtes Dankeschön.«

Decker lächelte. »Können die Jungen in der Schule fehlen?«

»Natürlich. Wie wär’s, wenn wir nächsten Mittwoch fahren. Eine Woche im Voraus kann ich immer noch Billigtickets bekommen.«

»Bestens.«

»Rufst du Cindy an?«

»Ja.«

»Und sag Jan auch gleich Bescheid«, sagte Rina. »Nur damit sie weiß, dass du fährst.«

Decker machte ein gequältes Gesicht. »Muss das wirklich sein?«

»Peter, sie ist Cindys Mutter. Sie ist krank vor Sorge.«

»Ich weiß, ich weiß. Sie ist furchtbar wütend auf mich, weil ich nicht darauf bestanden habe, dass Cindy nach Hause kommt. Als ob sie es getan hätte. Sie will einfach nur, dass ich mal wieder der Böse bin. Ach, zum Teufel damit! Wenn sie meint …«

»Peter!«

»Schon gut, schon gut. Ich rufe Jan an. Ich werde sogar höflich sein.«

»Ist das so schwer, Liebchen?«

»Sehr schwer, mein Schatz.«