28

Decker konnte auch in der folgenden Nacht nicht richtig schlafen, weil ihm dieses eine Beweisstück nicht aus dem Kopf gehen wollte, und so erschien er schon gegen sieben Uhr wieder zur Arbeit. Er hatte sich aus dem Haus geschlichen, noch bevor Rina aufgestanden war. Damit hatte er sich einen ihrer Vorträge ersparen wollen – vor allem, weil er wusste, wie Recht sie hatte. Seinen ersten Termin hatte er um zehn vor Gericht.

Davidson war noch nicht im Büro. Decker nahm seinen Notizblock heraus und dazu die Diggs-Akte. Er blätterte die inzwischen wohl vertrauten Seiten schnell durch. Binnen Sekunden hatte er gefunden, wonach er suchte. Er schrieb die Telefonnummern der drei namentlich bekannten männlichen Schwarzen ab, die in der Mordnacht im Grenada West End gewesen waren. Außerdem suchte er Whitmans Zeichnung von Henry Trupp heraus und schrieb sich Adresse und Telefonnummer des Nachtportiers auf.

Scott Oliver hörte auf zu telefonieren und drückte sich mühsam aus dem Stuhl hoch. Er kam mit schlurfenden Schritten zu Deckers Schreibtisch herübergeschlappt. »Sag mir, dass du dich mit deinem jungen Täubchen gestritten hast. Würde mir echt helfen.«

»Lass mich in Ruhe, Scotty«, bellte Decker. »Ich bin nicht in Stimmung.«

Oliver schaltete sofort um. »Woran arbeitest du, Rabbi?«

»Diggs. Diese unidentifizierten Schamhaare lassen mir keine Ruhe. Ich muss einfach wissen, von wem sie stammen.«

»Vielleicht von Whitman«, sagte Oliver. »Vielleicht hat er eine Schwarze gevögelt, bevor er sich an Cheryl gemacht hat, und dabei hat er sie dann übertragen.«

»Es sind männliche Haare.«

»Der Junge war sternhagelvoll. Wer sagt denn, dass es eine schwarze Frau gewesen sein muss? Warum fragst du ihn nicht gleich danach? Er wartet auf dich.«

»Whitman ist hier? Lieber Gott, was will er denn?«

»Vielleicht Gnade von dem Beamten, der ihn verhaftet hat.« Oliver verschränkte die Hände. »Bitte, lassen Sie mich gehen. Ich bin noch so jung und habe so viel zu geben. Ich bin ein Musiker, ein Künstler, und ich bin ein Experte im Knotenbinden.«

Decker verdrehte die Augen. »Warum ich?«

»So steht’s im Drehbuch. Der Junge wartet draußen.«

Decker ließ die Hände auf die Tischplatte klatschen und stemmte sich hoch. Er ging durchs Schreibzimmer an der Tafel mit dem Dienstplan vorbei. Ja, es stimmte, Marge war immer noch im Urlaub. Er stellte sich vor, wie sie auf Hawaii in der Sonne lag, und verspürte einen leisen Anflug von Neid. Dann fiel ihm ein, dass er sowieso nie braun wurde und höchstens einen Sonnenbrand bekam. UV-Strahlen waren der böse Fluch im Leben eines Rothaarigen. Außerdem hasste Decker Sand, weil er immer im Schritt hängen blieb. Und Poi und Papayas mochte er im Übrigen auch nicht.

Er ging nach vorne, wo Gerrard und Beiding heute Morgen Dienst hinter der Barriere machten. Sie warfen einen Blick auf Whitman und sahen dann Decker fragend an. Decker erwiderte ihre stumme Frage mit einem Schulterzucken.

Whitman hatte sich neben dem Süßigkeitenautomaten niedergelassen. Er trug ein in die schwarze Jeans gestecktes, gestärktes weißes Hemd, einen schwarzen Wollpullover und schwarze Lederschuhe. Er wirkte angespannt, seine Augen waren unergründlich. Als er Decker sah, stand er auf, blieb aber stehen, wo er war. Decker marschierte zu ihm hin und sah ihm in die Augen.

»Was ist los, Chris?«

Whitman hielt dem Blick stand. »Ich dachte, wir hätten einen Deal gemacht. Ein Geschäft – Beweis gegen Beweis.«

»Wäre mir neu.«

Whitmans Augen waren wie tot. »Ich habe gestern Abend mit den Mädchen gesprochen. Sie haben mir gesagt, dass sie mit Ihnen geredet haben.« Er senkte die Stimme, bis sie nur noch ein Flüstern war. »Sie sagten, sie hätten Ihnen alles gesagt. Vom Blow Job bis zum Fesseln. Sie wissen, dass sie die Wahrheit sagen. Sie haben sie noch vor mir gefunden.«

Decker sagte nichts.

»Sie haben eidesstattliche Aussagen, Decker. Das ist viel belastender für mich als ein Haufen blöde Zeichnungen. Ich habe geliefert. Jetzt tun Sie, was richtig ist, Decker, und lassen Sie sie vom Haken.«

»Das ist nicht meine Entscheidung, Chris.«

»Das ist doch Scheiße!«, platzte Whitman los.

Gerrard und Beiding reckten die Köpfe. Beiding sagte laut: »Alles in Ordnung, Sergeant?«

»Alles bestens.« Zu Whitman flüsterte Decker: »Du bist auf dem besten Weg, dir eine einzufangen, Söhnchen. Halt dein Temperament im Zaum.«

Whitman machte die Augen zu und wieder auf. »Wollen Sie mir weismachen, dass Sie keinen Einfluss darauf haben, wie die Staatsanwaltschaft die Sache angeht?«

»Whitman, die Zeichnungen sind bereits als Beweismittel registriert …«

»Dann de-registrieren Sie sie, verdammt!«

»So läuft das nicht.«

Whitman biss die Kiefer zusammen und formte seine langen Finger zu Fäusten. »Wozu braucht die Staatsanwaltschaft Zeichnungen, wenn sie belastende Aussagen hat?«

»Aussagen von Huren …«

»Beeidete Aussagen von Huren.« Verzweiflung hatte sich in die Stimme des Jungen geschlichen. »Sie wissen, dass sie die Wahrheit sagen. Sie haben vor mir mit ihnen gesprochen. Sie haben eine Menge Dreck gegen mich, auch ohne die Bilder. Wozu Terry fertig machen, wenn Sie sie doch gar nicht brauchen?«

»Die Staatsanwaltschaft braucht die Zeichnungen, Chris.«

»Ach, hören Sie auf damit!« Whitman drehte sich halb ab und wieder zurück. »Diese Oberscheiße können Sie doch nicht glauben?«

»Nie gehört, dass ein Bild tausend Worte sagt?«

Whitman funkelte Decker an. Seine Nasenflügel bebten, die Adern am Hals waren geschwollen. »Sie haben Sie gesehen. Ich kann nicht glauben, dass Sie sie einfach so erledigen wollen.«

Decker blieb stumm. Sein Schweigen brachte Whitman nur noch mehr auf. »Sie waschen Ihre Hände in Unschuld – in ihrem Blut. Fühlen Sie sich gut dabei?«

Decker durchbohrte den Teenager mit den Blicken. »Chris, du fauchst wie eine in die Ecke gedrängte Katze. Mach erst mal einen Spaziergang und lass Dampf ab.«

Whitman warf den Kopf zurück und starrte zur Decke hoch. Dann sah er Decker mit einem gespenstischen Lächeln an. »Mann, ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe, Ihnen diese Namen zu geben.«

»Komm in die Gänge, Junge. Lauf dich aus. Und zwar jetzt!«

Und obwohl Decker damit gerechnet hatte und vorbereitet war, war Whitman immer noch zu schnell. Decker gelang gerade noch ein kräftiger Sprung rückwärts, sodass der Schlag ihn nicht mit voller Wucht traf. Aber er landete immer noch hart genug auf dem Solar plexus, und Decker beugte sich krampfartig vor. Er schnappte nach Luft und sagte sich, dass dieses glitzernde Sternenmobile und die zwitschernden Vögel vor seinen Augen verschwinden würden, wenn er wieder normal atmete.

Als er schließlich wieder sehen konnte, lag Whitman überwältigt am Boden, die Hände auf dem Rücken, um ihn herum ein ganzer Schwarm Uniformierte und Beamte in Zivilkleidung, die ihm Handschellen und Fußfesseln anlegten. Drumrum standen Zivilisten und betrachteten das wilde Schauspiel, das das LAPD heute bot – eine Latina mit Tätowierung und einem sabbernden Baby auf dem Arm, zwei vollbusige, übergewichtige Motorradbräute in Jeans und Bustiers und schließlich zwei Teenager, die eine schwarz und schwanger mit abgeschnittenen Shorts und Rastazöpfen, die andere weiß und sehr schwanger mit abgeschnittenen Shorts und Rastazöpfen.

Decker war nicht nur überrascht, dass er sprechen konnte, sondern geradezu schockiert, dass seine Stimme sogar trug. »Lasst ihn los!«, rief er.

Die Uniformierten sahen ihn entgeistert an.

Decker richtete sich auf. Mann, tat das weh. »Lasst ihn in Ruhe«, befahl er. »Mit dem Mistkerl werde ich schon selber fertig.«

Langsam schälte sich eine Schicht in Blau nach der nächsten zur Seite, und Whitman kam in Sicht. Als der Durchgang frei war, ging Decker hin, griff den Jungen an der Jacke und riss ihn auf die Füße. An einem Knöchel rasselte eine Kette, der andere war noch frei von Metall.

Decker sagte: »Wer hat den Schlüssel zur Fußfessel?« Er holte tief Luft und atmete ganz langsam wieder aus. Der scharfe, stechende Schmerz war jetzt stumpf und hämmernd geworden. »Nehmt ihm die Ketten ab, aber lasst die Handschellen dran.«

Sobald Whitmans Füße befreit waren, drehte Decker Whitman den Kragen im Nacken hoch und zerrte ihn nach hinten, wo er den Jungen so heftig in einen der Vernehmungsräume stieß, dass er gegen die Wand prallte.

»Setz dich!«, befahl er und schlug die Tür hinter sich zu.

Whitman gehorchte.

»Na, das war ja wirklich schlau, Chris. Jetzt sitzt du bis zum Hals in der Scheiße.«

»Tut mir Leid.«

»Es tut dir Leid?« Decker tigerte beim Sprechen im Raum auf und ab. »Glaubst du etwa, eine Entschuldigung kann mich davon abhalten, dich ins Loch zu stecken? Glaubst du, die Entschuldigung wird bei deinem Bürgen besonders gut ankommen? Oder bei deinem Onkel, der gerade erst fünfzig Riesen Kaution für dich locker gemacht hat? Ich will dir mal was sagen, Whitman. Mit einer Entschuldigung ist es nicht getan. Ich dachte, du wärst clever. Ich dachte, du wärst ein schlauer Kopf. Jetzt merke ich erst, dass ich es mit einem handelsüblichen Blödmann zu tun habe.«

Whitman sagte nichts. Er war so still wie ein eingeschüchterter Welpe.

Decker blieb stehen und fuchtelte mit den Armen in der Luft. »Ich habe dir gesagt, dass ich nichts versprechen kann. Wenn du was anderes gehört hast, hast du dich geirrt! Dein Mädchen geht den Bach runter, und das ist verdammt noch mal einzig und allein dein Fehler! Hör auf, dich nach Bösewichtern umzusehen. Sieh stattdessen in den Spiegel.«

»Werden Sie mich jetzt wegen tätlichen Angriffs verhaften?«

»Worauf du wetten kannst, Freundchen, und das ist eine Beschuldigung, die an dir kleben wird wie Pech.«

Whitmans Augen schossen kreuz und quer durch den Raum. »Rufen Sie den Staatsanwalt an. Er soll kommen. Ich will einen Handel abschließen.«

»Einen Handel?« Decker konnte es nicht glauben. »Einen Handel?! Whitman, hast du toten Stein zwischen den Ohren? Du hast nichts, womit du handeln könntest.«

Whitman versuchte ihm in die Augen zu sehen, hielt aber nicht durch. Er zwinkerte wieder. »Ich … ich will … ein Geständnis ablegen. Ich will wissen, was er mir für ein Geständnis bietet.«

Decker zögerte. Er bezweifelte, dass er eben richtig gehört hatte. Es surrte ihm immer noch in den Ohren von dem Schlag in den Bauch. In seinem Schädel hämmerte es. Er senkte die Stimme. »Sagtest du gerade, dass du gestehen willst?«

Whitman nickte. »ja.«

»Was gestehen, Chris?«

»Cheryl …« Whitman ließ das Bein auf der Fußspitze wippen. »Den Mord an Cheryl Diggs.«

»In Ordnung.« Decker spürte selber, wie er schnaufte, und gemahnte sich, normal zu atmen. »In Ordnung. Nichts dagegen. Ich habe dich tatsächlich richtig verstanden. Du sagtest, du willst den Mord an Cheryl Diggs gestehen. Ist das korrekt?«

Whitman leckte sich über die Lippen und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Ich will mit dem Staatsanwalt verhandeln. Wenn ich bekomme, was ich will, bekommen Sie, was Sie wollen.«

Decker sagte: »Okay, Chris. Ich bereite das vor, so schnell ich kann. Willst du deinen Anwalt anrufen?«

Whitman schüttelte den Kopf. »Der würde mich das nicht durchziehen lassen. Er … mein Onkel … nein. Nein, ich will meinen Anwalt nicht dabeihaben.«

»Du verzichtest auf einen Anwalt?«

»Ja.«

»Und du unterschreibst eine Verzichtserklärung?«

Wieder nickte Whitman.

»In Ordnung, Chris«, sagte Decker. »Vergiss bloß nicht, was du sagen wolltest, bis ich alles arrangiert habe.«

»Werden Sie mich immer noch wegen des Schlags verhaften?«

»Ja«, sagte Decker leise. »Ja, das muss ich tun. Aber wer weiß, was bei dem Handel für dich herausspringt? Vielleicht können wir den tätlichen Angriff unter den Tisch fallen lassen. Aber ich habe nichts versprochen, klar?«

»Klar«, flüsterte Whitman.

Decker sagte: »Ich bring dich jetzt runter zur Hafteinweisung, bis ich alles auf der Reihe habe, und dann hole ich dich wieder, sobald es so weit ist.«

Er nickte.

»Du willst mich doch wohl hoffentlich nicht verarschen, oder?«, sagte Decker. »Denn wenn du das tust, werde ich verdammt böse werden.«

Whitman schüttelte mechanisch den Kopf. »Ich mache keine Spielchen. Ich will handeln. Ich will … ich gebe Ihnen, was Sie wollen. Vorausgesetzt ich bekomme, was ich will.«

»Das ist der Sinn bei einem Handel«, sagte Decker. »Ich bring dich jetzt runter. Keine sportlichen Einlagen mehr, okay?«

Er nickte. »Tut mir Leid, dass ich Sie geschlagen habe.«

»Schon in Ordnung. Nichts passiert.«

»Wenn es Sie irgendwie tröstet, meine Hand tut ziemlich weh.«

Decker packte Whitmans Arm mit eisernem Griff und half dem Jungen auf die Füße. »Chris, das tröstet mich nicht im Geringsten.«

 

Da der Fall Diggs nicht nur in die Nachrichten, sondern auch in die Zeitungen gelangt war, war Erica Berringer nicht die alleinige Vertreterin der Anklage; sie kam mit ihrem Boss, Morton Weller. Er war ein klapperdürrer Mann in den Fünfzigern, der auf mehr als zwei Jahrzehnte Erfahrung im Büro des Bezirksstaatsanwalts zurückblicken konnte.

Über seinem langen Gesicht mit der Hakennase und den tief liegenden Augen thronte ein weißer Haarschopf. In dem langen, vogelartigen Hals hüpfte ein großer Adamsapfel. Weller hatte eine tiefe Stimme.

Sie hatten eine Videokamera mitgebracht. Decker setzte die Staatsanwälte in einen kleinen Vernehmungsraum, damit sie Zeit hatten, alles vorzubereiten. Davidson kam ein paar Minuten später dazu. Er hatte Wind von der Sache bekommen und darauf bestanden, dabei zu sein. Und wenn Davidson dabei war, dachte Decker, hatte Scott Oliver auch das Recht zu erfahren, was vor sich ging.

Als schließlich alle so weit waren, war der Raum gut gefüllt. Decker hoffte, die Menschenansammlung würde Whitman nicht abschrecken. Er holte ihn aus der Zelle, und nachdem er alle vorgestellt hatte, fragte er Whitman, ob er immer noch auf sein Recht, einen Anwalt hinzu zu ziehen, verzichten wolle. Whitman nickte und unterzeichnete eine Verzichtserklärung.

Dann sagte Decker: »Ich werde einen Kassettenrekorder mitlaufen lassen, Chris. Außerdem wollen wir das Gespräch auf Video aufnehmen. Irgendwelche Einwände?«

»Nein«, sagte Whitman. »Aber da wird es nichts aufzunehmen geben, wenn ich nicht kriege, was ich will.«

»Und das wäre?«, mischte Davidson sich ein.

Weller sagte gereizt: »Lieutenant, wir wollen doch nichts überstürzen. Also bitte.« Er sah Erica Berringer an. »Sind Sie so weit?«

Erica drehte noch ein bisschen an der Kamera herum. Sie schaltete sie ein und warf einen Blick durch den Sucher. »Kann losgehen.«

Decker stellte seinen Kassettenrekorder an und gab Namen und Persönlichkeitsangaben aller Beteiligten zu Protokoll. Schließlich lehnte Weller sich im Stuhl zurück und sagte: »Sagen Sie mir, was Ihnen vorschwebt, Mr. Whitman.«

»Ich bekenne mich des Totschlags zweiten Grades, drei bis sechs, schuldig. Dafür will ich, dass die Anzeige wegen tätlichen Angriffs fallen gelassen wird, außerdem müssen alle Beweise unberücksichtigt bleiben, die Sergeant Decker bei seiner Hausdurchsuchung gefunden hat.«

Es wurde still im Raum. Weller warf ihm einen stählernen Blick zu. »Sie haben sich das lange überlegt, nicht wahr, Mr. Whitman?«

»Sehr lange.«

Weller sah Whitman in die Augen. »Sir, ich weiß nicht, wo Sie Ihre juristischen Kenntnisse her haben … ich nehme mal an, dass es die elektronische Schule der Fernsehgerichte war … aber irgendetwas oder jemand hat Ihnen die falsche Richtung angezeigt. Ich kenne nämlich die Beweise gegen Sie. Und ich weiß, was ich damit machen kann. Mord kommt nicht in Frage.«

Whitman entgegnete: »Mr. Weller, wenn die Sache vor Gericht geht, werde ich höchstens wegen fahrlässiger Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt.«

»Glauben Sie?«, blubberte Davidson los.

»Lieutenant, ich weiß es. Mit der Zeit, die ich schon vor der Verhandlung abgesessen habe, sitze ich keinen einzigen Tag länger im Gefängnis. Und das nur, falls ich verurteilt werde, was ausgesprochen fraglich ist. Ich mache es nicht nur für Sie billiger, sondern auch für die Steuerzahler von L.A.«

Weller und Berringer sahen Decker von der Seite an. Er versuchte, sich sein Schulterzucken nicht ansehen zu lassen.

»Und wie wollen Sie sich verteidigen, Sir?«, fragte Weller. »Missbrauch im Kindesalter oder verminderte Schuldfähigkeit?«

»Eins davon oder beides.«

»Sagen Sie’s mir nicht«, warf Erica ein. »Ein kleines Vögelchen hat Ihnen gezwitschert, dass Sie sie erdrosseln müssen.«

»Kein Vögelchen, nur die Stimmen in meinem Kopf. Und glauben Sie mir, Frau Staatsanwältin, das wird funktionieren. Denn anders als gewisse reiche Söhnchen dieser Stadt, die beinahe mit Mord davongekommen wären, obwohl sie nichts vorzuweisen hatten, kann ich alles belegen – ich habe eine solide Krankengeschichte voll mit psychischen Störungen, und zwar vor dem Mord an Cheryl Diggs.« Weller warf erst Berringer, dann Decker einen Blick zu.

»Warum sehen Sie Sergeant Decker an?« Whitman schien verärgert. »Er weiß nichts. Das gehört schließlich nicht zu den Sachen, die man an die große Glocke hängt. Aber ich werde es wohl müssen.«

Wieder legte sich Stille über den Raum. Oliver durchbrach sie. »Sind Sie auf die Weise früher schon mal ums Loch rumgekommen, Whitman?«

»Also diesmal läuft das jedenfalls nicht«, sagte Davidson.

»Mein Vorstrafenregister ist blitzeblank.« Whitman betrachtete seine Hände. »Sie haben es also mit einem missbrauchten Kind mit psychischen Problemen und ohne jeden Hinweis auf sozial unverträgliches Verhalten in der Vergangenheit zu tun.« Er sah auf und grinste.

Keiner erwiderte etwas darauf, bis Decker schließlich sagte: »Erzähl mir deine Geschichte, Chris.«

»Suchen Sie sich ne Spalte aus, Sergeant … etwas aus Spalte A, etwas aus Spalte B. Wenn Sie die Stimmen in meinem Kopf verifizieren wollen, schicke ich Ihnen meine Unterlagen aus dem Northfolk County Psychiatric Hospital. Als ich zwölf war, war ich drei Monate in der geschlossenen Abteilung dort.«

Niemand sagte etwas.

Whitman sprach weiter: »Oder wie wär’s mit Depressionen und Verzweiflungszuständen? Ich nenne Ihnen die Daten meiner zwei Selbstmordversuche und dazu die Namen der jeweiligen psychiatrischen Kliniken, in die ich danach eingewiesen wurde. Jeweils für einen Monat.«

»Der Junge ist ein Irrer!«, sagte Davidson.

Whitman schenkte ihm einen wütenden Blick aus seinen stechenden blauen Augen. »Sie sagen es, Lieutenant! Und ich wette, die Geschworenen werden das genauso sehen.« Er sah Erica an. »Nehmen Sie das alles auf Band?«

Sie sagte nichts.

»Wo wir schon beim Beichten sind, kann ich Ihnen ebenso gut auch gleich von meinem früheren Alkohol- und Drogenproblem erzählen«, fuhr Whitman fort. »Sechs Wochen geschlossene Abteilung im Clinic Care Hospice in Upstate New York. Ich habe mich, kurz bevor ich nach Los Angeles gekommen bin, freiwillig einweisen lassen. Unglücklicherweise hatte ich Rückfälle. An dem Abend, als Cheryl ermordet wurde, haben mich eine Menge Leute trinken sehen. Ich selber kann mich natürlich kaum an etwas erinnern.«

»Darauf möchte ich wetten«, murmelte Davidson.

»Welchen Einsatz, Lieutenant?«, entgegnete Whitman. »Wenn Sie knapp bei Kasse sind, nehme ich auch was anderes als Sicherheit.«

»Halt die Klappe, Whitman«, sagte Decker.

»Jawohl, Sir!«

Wieder wurde es totenstill im Raum.

Dann sagte Whitman: »Es gibt massenweise Aufzeichnungen über meinen psychischen Zustand. Kein schönes Bild. Sieht so aus, als würde ich nie für das Amt des Präsidenten kandidieren. Es sei denn, es ist irgendwann besonders politically correct, wenn man nicht ganz richtig im Kopf ist.«

»Ist das alles?«, sagte Decker.

In Whitmans Augen erlosch jedes Feuer. »Reicht Ihnen das nicht, Decker?«

Decker verdrehte die Augen. »Whitman, ich versuche nur, das Bild zu vervollständigen.«

»Sie wollen was über den Missbrauch hören?«

Decker ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Ja, das will ich.«

»Das Übliche. Verbrennungen von Zigaretten am Rücken und auf dem Hintern, dazu Narben vom Verprügeln auf Gesäß und Oberschenkeln. Ja, und dann, dass ich keine Milz mehr habe. Das ist richtig gut. Hab ich einem überraschenden Boxhieb meines alten Herrn zu verdanken. Damals war ich acht. Gab ’ne nette kleine Notoperation am Lenox Hill in Manhattan. Ich bin sicher, dass die ihre Akten sehr ordentlich ablegen. Mein Vater hat dafür gesessen. Ich wurde für ein paar Monate zu Pflegeeltern gebracht. Dann hat mein alter Herr geschworen, er hätte sich gebessert, und … was soll ich sagen? Alte Gewohnheiten lassen sich schwer ablegen.«

Whitman lehnte sich im Stuhl zurück und blies den Atem aus. Aber sein Gesichtsausdruck war alles andere als selbstgefällig. Decker bemerkte, dass er sich verkrampft hatte, ja, sogar zusammengezuckt war, während der Junge seine Geschichte erzählte. Und wenn das die spontane Reaktion eines erfahrenen Bullen mit über zwanzig Dienstjahren war, konnte er sich nur allzu gut vorstellen, wie die Geschichte auf die Geschworenen wirken würde.

»Sie sagten, ich sei ein Irrer, Lieutenant? Da haben Sie vollkommen Recht.«

Wieder war es still im Raum.

»Reden Sie mit mir, Herr Staatsanwalt«, sagte Whitman. »Ich werde langsam sehr nervös.«

Weller sagte: »Voraussetzung für jede Absprache, die wir vielleicht treffen mögen, ist natürlich, dass Sie die Wahrheit sagen. Und das ist höchst fraglich, da Sie ja als krankhafter Lügner bekannt sind.«

»Klar«, sagte Whitman. »Überprüfen Sie’s. Da habe ich nichts zu befürchten. Ich nehme Ihre Bedingungen an. Dann reden wir doch mal über ein Geständnis. Sie haben mein Angebot gehört. Sind wir uns einig?«

Weller antwortete: »Wenn Sie die Wahrheit sagen – und das ist höchst fraglich –«

»Sie wiederholen sich, Weller.«

Der Staatsanwalt sagte: »Für ein Geständnis vor Gericht biete ich Ihnen Totschlag, sechs bis zwölf. Mehr ist nicht drin, Whitman.«

»Das ist doch Scheiße.«

»Das oder gar nichts.«

»Das ist Scheiße.«

»Und wer wiederholt sich jetzt?«

Whitman vergrub das Gesicht in den Händen und sah dann auf. »Mal sehen. Selbst wenn ich die Höchststrafe … bei den überfüllten Gefängnissen und Straferlass wegen guter Führung bin ich dann wann draußen? In etwa sechs, sieben Jahren?« Er sah Decker an. »Stimmt das ungefähr?«

»Etwas in der Art.«

»Dann bin ich fünfundzwanzig …« Er nickte. »Damit kann ich leben. Aber die Anzeige wegen tätlichen Angriffs müssen Sie fallen lassen. Und ich will meine Zeichnungen zurück, bevor ich eingelocht werde, das ist das Wichtigste überhaupt.«

»Wenn Sie das Geständnis haben, brauchen Sie die Zeichnungen nicht«, sagte Decker zu Weller.

»Auf wessen Seite sind Sie eigentlich«, mischte sich Davidson ein.

Decker sagte: »Wozu sollen die Bilder noch gut sein, wenn wir uns geeinigt haben? Wollen Sie wissen, was mir wichtig ist? Cheryl Diggs ist mir wichtig. Bevor etwas verhandelt wird, will ich seine Geschichte hören.«

»Zu schade«, sagte Whitman, »denn ich werde nichts erzählen, solange wir nichts vereinbart haben.«

»Wie sollen wir verhandeln können, wenn wir gar nicht wissen, was passiert ist?«, entgegnete Decker.

»Das ist Ihr Problem«, sagte Whitman. »Und wenn wir reden, will ich, dass es nicht aufgezeichnet wird.«

»Wozu soll irgendwas gut sein, wenn wir keine Aufzeichnung davon haben?«, sagte Davidson.

»Damit ich die Sache für mich abschließen kann«, sagte Decker. »Was halten Sie davon, Mr. Weller? Wir hören uns Whitmans Geschichte erst mal so an. Wenn sie plausibel klingt, können wir über den Handel nachdenken. Wenn nicht, ziehen wir uns auf das zurück, was wir sowieso haben. Wo kein Schaden ist, ist auch kein Geschädigter.«

»Nichts zu machen«, sagte Whitman. »Erst das Geschäft, dann das Geständnis.«

Es wurde still im Raum. Für einen kurzen Moment hörte man nichts als das Sirren der Videokamera.

Weller tappte mit dem Fuß. »Die Decker-Lösung gefällt mir. Wir hören Sie erst mal ohne Protokoll. Wenn Sie nicht reden, gibt es nichts zu verhandeln.«

Whitman schlug mit der Faust auf den Tisch. »So eine Scheiße! Ich glaub’s einfach nicht!«

»Glauben Sie’s«, sagte Davidson.

»Ach, leck …«

»Chris!«, sagte Decker.

»Und Sie mich auch!«

Davidson fauchte: »Bringen Sie ihn zurück. Wir sind fertig.«

»Ich bin nicht fertig«, sagte Decker.

»Sie fallen mir in den Rücken, Decker?«, sagte Davidson.

»Sieht so aus«, meinte Whitman.

»Whitman, halten Sie Ihr verdammtes Maul!«

Der Junge verstummte. Decker setzte sich neben ihn. Er beugte sich zu ihm und sagte leise: »Willst du, dass deine Freundin in diesen ganzen Mist mit reingezogen wird, Chris?«

Whitman schwieg.

Decker berührte beim Sprechen fast das Ohr des Teenagers. »Du kannst sie retten, Junge. Aber zuerst musst du mir deine Geschichte erzählen. Nur wir zwei, okay?«

»Ja, nur wir zwei, und die anderen Aasgeier gucken hinter dem Einwegspiegel zu.«

»Nein. Nur du und ich und die Videokamera?«

Whitman war still.

»Wir reden unter vier Augen«, sagte Decker laut. »Hinterher spiele ich Mr. Weller und Ms. Berringer das Videoband vor.«

»Und dann?«

Decker sah Weller an. »Wie wär’s damit, Morton? Wenn uns die Geschichte gefällt … und sich die Vorgeschichte des Jungen bestätigt … wenn er also beide Tests besteht … stimmen Sie Totschlag ersten Grades, sechs bis zwölf Jahre zu. Außerdem keine Tätlichkeit und keine Bilder.«

Weller schluckte. Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab wie ein unentschlossenes Thermometer. »In Ordnung.«

»Whitman?«, sagte Decker.

Der Junge vergrub den Kopf in den Händen, dann sah er auf. »Warum sollte ich Ihnen trauen?«

»Wem möchtest du denn gerne trauen, Chris?« Decker lächelte. »Deinem Anwalt? Deinem Onkel? Sag mir, was du willst.«

Der Junge atmete aus und nickte.

»Ist das ein Ja?«, fragte Decker.

»Es ist ein Ja.« Whitman schüttelte den Kopf. »Wenn Ihnen gefällt, was ich sage, kommen wir ins Geschäft. Also, bringen wir’s hinter uns.«

»Sie lassen sich besser was Gutes einfallen. Whitman«, sagte Davidson.

»Keine Sorge, Lieutenant. Es wird gut sein. Denn es wird die Wahrheit sein.«