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Sie redete mit ihm durch die verschlossene Tür. Und selbst, als sie aufmachte, um Deckers Dienstmarke zu kontrollieren, ließ sie noch die Kette davor. Ein vorsichtiges Mädchen, aber am Ende ließ sie ihn doch herein. Sie hielt sich auf Abstand, die Augen schossen zwischen dem Treppenabsatz oben und der Haustür hin und her. Misstrauisch. Und wer konnte es ihr verübeln, nach dem, was mit Cheryl Diggs passiert war?
Decker betrat Teresa McLaughlins Wohnzimmer.
Whitman hatte sie auf dem Papier vorzüglich wiedergegeben, aber ganz war er ihr nicht gerecht geworden. Denn sie war wirklich eine Schönheit – ein atemberaubendes junges Mädchen, das sich voller Grazie zur Frau verwandelte. Ein offenes, ovales Gesicht, haselnussbraune, schokoladegesprenkelte Augen. Ihr cremefarbener Teint wurde nur von einigen Sommersprossen auf dem Nasenrücken und der natürlichen Rötung unterbrochen, die ihre hohen Wangenknochen erst richtig zur Geltung kommen ließ. Ihr mit einer Plastikspange zurückgenommenes Haar fiel dick und bronzefarben bis zur Taille. Sie trug ein überdimensioniertes T-Shirt mit langen Armen unter einer Brokatweste und schlabberige, verwaschene Jeans.
Als er ihr so ins Gesicht sah, hätte Decker eine Wette darauf abgeschlossen, dass sie es nicht einfach hatte, einen Freund zu finden, denn sie hatte etwas Unnahbares an sich. Ihre Augen waren zwar schön, aber sie wirkten auch wie ein Stopp-Schild mit der Aufschrift: Nicht anfassen … nicht mal an sehen. Diese Zurückhaltung in Kombination mit einer merklichen Verletzlichkeit musste für einen eingebildeten Teenager wie Whitman ein ungeheures Aphrodisiakum gewesen sein.
Decker behielt die Hände in den Taschen und sah sich im Wohnzimmer um. Klein und ordentlich mit der üblichen Ausstattung. Ein Dreisitzersofa mit zwei Sesseln und dazwischen ein Couchtisch. An den Wänden hingen einige unauffällige Blumenbilder, außerdem ein gerahmtes Poster von Monets Seerosen. Der weizengelbe Teppich hatte mehrere große, verblasste Flecke in Amöbenform.
»Ich habe mir gerade Kaffee gekocht.« Ihre Stimme klang leise und verhalten. »Möchten Sie auch eine Tasse?«
»Schwarzer Kaffee wäre großartig, vielen Dank.« Decker lächelte, und sie lächelte zaghaft zurück. »Wo soll ich mich setzen?«
»Vielleicht am Esszimmertisch?« Sie knetete die Hände ineinander. »Meine Stiefmutter mag es nicht, wenn man im Wohnzimmer Kaffee trinkt. Ist schon zu viel aus Versehen auf dem Teppich gelandet.«
»Das Esszimmer ist völlig in Ordnung, Teresa.«
»Terry, bitte.« Sie sah zum Tisch hinüber. Er war mit Schulbüchern und Heften übersät. »Ich räum das sofort weg.« Wieder ein kurzes Lächeln. Dann verschwand sie in der Küche. Sekunden später kam ein Kind von ungefähr sieben Jahren die Treppe heruntergepoltert. Sie blieb wie angewurzelt stehen, als sie Decker sah.
»Ja, guten Tag«, sagte Decker. »Suchst du Terry?«
Das Mädchen nickte und steckte den Daumen in den Mund, um ihn sofort blitzschnell wieder herauszunehmen.
»Sie ist in der Küche. Du kannst zu ihr gehen, wenn du willst.«
Sie antwortete nicht. Einen Augenblick später kam Terry mit zwei Kaffeebechern in der Hand zurück. Sie sah das kleine Mädchen, ließ ein wirkliches Lächeln sehen und stellte die Kaffeetassen auf das Mathematikbuch. Als der Kaffee sicher auf dem Tisch stand, flitzte das kleine Mädchen zu Terry hinüber und schlang die Arme um ihre Taille.
»Es ist alles in Ordnung, Melissa«, erklärte Terry. »Er ist nur ein Polizist – ein Detective mit einem richtigen goldenen Abzeichen.«
Melissa machte große Augen. Sie murmelte etwas. Teresa beugte sich zu ihr hinunter, und das Mädchen legte die Arme um ihren Hals. Dann flüsterte sie der Älteren etwas ins Ohr.
»Wie bitte?«, sagte Terry. »Ich kann dich nicht verstehen.«
Melissa wisperte wieder.
Terry sagte laut: »Nein, er wird mich nicht verhaften. Aber du musst jetzt wieder nach oben gehen, weil ich mich mit ihm unterhalten muss, okay?«
Melissa machte ein verletztes Gesicht.
Terry richtete sich auf und sah Decker an. »Ich mache ihr um diese Zeit normalerweise eine Kleinigkeit zu essen. Ich wollte gerade damit anfangen, als Sie kamen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, zu warten, bis ich ihr etwas hergerichtet habe?«
»Überhaupt nicht«, sagte Decker. »Ich zeige ihr sogar meine Marke.«
Aber Melissa war nicht interessiert. Sie hängte sich an Terry und hielt sich an ihrem T-Shirt-Saum fest, als das junge Mädchen sie widerwillig in die Küche zog. Decker hörte beruhigende Laute, verstand aber keine Worte. Eine Minute später kamen sie zurück, Terry hielt einen Teller mit Obstscheiben und Chips in der Hand.
»Ich will hier unten essen«, sagte Melissa.
»Ich weiß, Liebling, aber das geht nicht«, erwiderte Terry.
»Ich bin ganz lieb. Ganz leise.«
»Du brauchst nicht leise zu sein, um lieb zu sein, kleines Fräulein. Du bist lieb, weil du lieb bist.« Terry beugte sich wieder hinunter. »Ich muss allein mit dem Polizisten reden. Du wartest oben auf mich. Es wird hoffentlich nicht allzu lange dauern.«
Das Mädchen rührte sich nicht.
»Komm schon.« Terry nahm sie bei der Hand. »Ich bringe dich hoch.«
Sie waren etwa fünf Minuten fort, dann kam Terry zurück. Sie machte ein Entschuldigung heischendes Gesicht. »Sie kommt nicht viel raus. Meine Stiefmutter bleibt lange weg. Melissa ist ein bisschen unruhig mit Fremden. Die vielen Geschichten, die sie in der Schule zu hören bekommt.«
»Sie ist deine Schwester?«
»Halbschwester.«
In der Küche schrillte ein Wecker. Terry sah auf die Uhr. »Das ist die Waschmaschine. Könnte ich schnell ein paar Sachen in den Trockner werfen?«
»Nur zu.«
»Danke.« Sie rannte in die Küche zurück, kam dann wieder und begann, ihre Schulunterlagen beiseite zu räumen. »Sie müssen die Unordnung entschuldigen. Ich breite mich gern aus, wenn ich lerne.«
»Da gibt es nichts zu entschuldigen«, sagte Decker. »Lernst du für die Abschlussprüfung?«
»Ja … eigentlich mehr aus Gewohnheit.« Sie sammelte ihre Notizen zusammen. »Im Grunde bin ich schon durch. Wenn nicht irgendeine Katastrophe passiert, gehe ich im Herbst auf die UCLA.«
»Gratuliere«, sagte Decker. »Ich habe gehört, das ist heutzutage sehr schwierig, an der UCLA angenommen zu werden.«
Sie zuckte die Achseln. »Diese Aufnahmegeschichte wird ein bisschen überbewertet. So schwer ist es gar nicht.« Sie warf wieder einen Blick auf die Uhr. »Ich bin ein bisschen spät dran. Kann ich das Abendessen in den Ofen schieben?
Meine Stiefmutter geht nach der Arbeit normalerweise in den Fitnessclub. Und wenn sie dann nach Hause kommt, ist sie ausgehungert und mürrisch. Es dauert nur eine Minute.«
»Ich habe Zeit.«
Wieder flog sie in die Küche. Als sie zurückkam, sagte Decker: »Du bist eine viel beschäftigte junge Dame, was?«
»Ist keine große Sache.«
»Das ist nett von dir, dass du deiner Stiefmutter hilfst.«
Sie zuckte die Achseln, aber ihr Gesicht wirkte angespannt.
Decker sagte: »Oder hast du keine andere Wahl?«
Terry zwang sich zu einem Lächeln. »Ist schon in Ordnung. Meine Stiefmutter arbeitet als Chefsekretärin bei der Filagree Drug Company. Das ist ein harter Job. Große Verantwortung.« Dann murmelte sie: »Sagt sie jedenfalls.«
»Und was ist mit deinem Dad?«
Terry zögerte. »Mein Dad?«
Decker schwieg. Er wusste, dass er einen Nerv getroffen hatte.
Terry sagte: »Ach so, klar, mein Dad arbeitet auch. Natürlich.«
Sehr angespannt. Decker nickte abwartend.
»Er ist Verwaltungsingenieur für einige von den großen Justizgebäuden in der Innenstadt.« Sie wartete einen Moment ab. »Das ist die schöne Umschreibung für einen Hausmeister.«
»Das ist eine ehrliche Arbeit«, sagte Decker. »Daran ist nichts auszusetzen.«
»Es ist besser, als Hamburger zu braten. Das hat er eine Zeit lang auch gemacht.« Terry biss sich auf den Fingernagel, dann setzte sie sich. »Sie haben Recht. Es ist ehrliche Arbeit. Und ich weiß auch, dass mein Dad sehr hart arbeitet. Ich will ihn nicht herabsetzen.«
»Das weiß ich«, sagte Decker. »Du hast wahrscheinlich nur deine eigenen Probleme.«
»Wer hat die nicht?« Sie faltete ihre schmalen Hände, legte sie auf die Tischplatte und hielt den Blick auf ihre verschlungenen Finger gerichtet. »Ist der Kaffee in Ordnung?«
Decker nippte. »Wunderbar.« Dann sagte er leise. »Du weißt, warum ich hier bin, nicht?«
»Ich nehme an, es geht um Chris Whitman. Was machen Sie. Befragen Sie alle aus der Klasse?«
»Nur bestimmte Personen«, sagte Decker. »Du warst mit auf der Liste.«
»Da habe ich aber Glück gehabt.« Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. Sie räusperte sich und sagte dann lauter: »Womit kann ich Ihnen helfen?«
»Erzähl mir von Chris.«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich kenne ihn aus der Schule. Wir sind im selben Jahrgang.«
»Ist er mit dir zusammen in irgendeinem Kurs?«
»Nur im Orchester.«
»Aha …« Decker nahm seinen Notizblock raus. »Und was spielst du für ein Instrument, Terry?«
»Ich spiele Geige.« Sie wartete. »Eigentlich spiele ich mehr auf der Geige. Ich bin furchtbar.«
»Sei bloß nicht zu streng mit dir, junge Dame«, sagte Decker.
Terry lächelte und sah ihn an. Ihre Augen leuchteten warm wie geschmolzene Butter. »Ich bin nur ehrlich. Ich bin eine erstklassige Schülerin, aber auf der Geige bin ich eine Katastrophe.«
»Nicht so gut wie Chris, was?«
»Nein, nicht mal annähernd.«
»Er ist ein bemerkenswerter Musiker«, sagte er.
»Ja, das ist er.«
»Und er ist ein gut aussehender Junge.«
Terry schwieg.
»Ein bisschen distanziert, vielleicht sogar eher abweisend«, sprach Decker weiter. »Aber er kann sich gut ausdrücken … sehr gewandt. Eine Klasse für sich. Soweit ich verstanden habe, war Cheryl ziemlich unternehmungslustig. Was haben die beiden bloß aneinander gefunden?«
Sie lachte leise. »Das fragen Sie mich?«
Decker sagte: »Ja, du kanntest doch Cheryl, oder nicht?«
»Wir kannten uns mit Namen, aber wir waren nicht befreundet.« Sie fing wieder an, ihre Hände zu kneten. »Nicht dass wir verfeindet gewesen wären. Wir waren einfach nicht … wir waren gar nichts.«
»Was hast du über sie gedacht?«, fragte Decker.
»Nichts«, erwiderte Terry knapp.
»Aber du hast doch sicher Gerüchte gehört.«
»Ich versuche mich gar nicht erst um Klatsch zu kümmern.« Ihre Stimme war leise. »Ich war nicht mit Cheryl befreundet … und übrigens auch nicht mit Chris. Wir bewegten uns nicht in denselben Kreisen.«
»Aber du warst eher mit Chris befreundet als mit Cheryl, oder?«
Sie räusperte sich wieder. »Er war mein Schüler … einer meiner Schüler. Ich gebe Nachhilfestunden … vorwiegend in Mathe und Biologie, aber manchmal auch in Geisteswissenschaften und in Sprachen. Chris habe ich eine Zeit lang Nachhilfe gegeben.«
Decker schlug das Deckblatt seines Notizblocks zurück. »Und wann war das?«
»Anfang des Semesters. Vielleicht vor sieben Monaten.«
»Und wie lange hast du ihm Nachhilfe gegeben?«
»Ungefähr drei Monate lang.«
Decker sah auf. »Was ist passiert?«
»Wie meinen Sie das?«
»Warum hast du damit aufgehört?« Decker schnippte seine Kugelschreibermine heraus. »Die Noten, mit denen er abgeschlossen hat, waren nicht gerade berühmt.«
Terry wand sich. »Das weiß ich nicht. Wir haben nicht viel miteinander gesprochen, nachdem er aufgehört hatte.«
»Es war seine Idee, die Stunden zu beenden?«
»Gegenseitig.« Terry wurde unruhig. »Wir waren kein gutes Paar.«
»Ein gutes Paar?«
Sie hielt inne. »Wir waren beide der Meinung, dass er von jemand anderem mehr lernen könnte.«
»Warum?«
»Das ist manchmal so.«
»Also hast du euer Verhältnis beendet.«
»Es war keine Beziehung.« Terry holte tief Luft. »Warum fragen Sie mich das alles? Ich habe Chris im Grunde seit Monaten nicht gesehen.«
»Ja, das glaube ich gern. Aber das heißt ja nicht, dass ihr nicht Freunde geblieben sein könnt, auch als du ihm keine Nachhilfe mehr gegeben hast.«
»Sind wir aber nicht«, sagte Terry.
Decker musterte das Mädchen einen Moment lang. Es schien sie unruhig zu machen. »Du hast Chris also seit Monaten nicht mehr gesehen, sagst du?«
»Im Grunde ja.«
»Was meinst du mit im Grunde?«
»Nur dass … ich meine, ich hab ihn in der Schule gesehen … im Orchester. Aber wir haben nicht richtig miteinander gesprochen.«
»Da ist es ja schon wieder. Wenn du richtig sagst …«
»Ich meine, wir haben hallo gesagt, wenn wir uns auf dem Flur begegnet sind.«
Decker beugte sich vor. »Und das war euer einziger Kontakt, seit du ihm keine Nachhilfe mehr gibst?«
»Im Grunde ja.«
»Schon wieder im Grunde?«, fragte Decker. »Terry, warum sagst du mir nicht einfach, was los ist?«
»Im Grunde ist das schon alles.«
»Zum dritten Mal im Grunde«, sagte Decker. »Weißt du was, Terry. Du bist eine furchtbar schlechte Lügnerin.«
Sie versuchte zwinkernd, die Tränen zurückzuhalten. »Ich lüge nicht. Ich mogle mich unter wohl bedachtem Einsatz von Beschwichtigungsformeln um die Wahrheit herum.«
Decker lachte und sie auch, bis ihr ein paar zarte Tränen über die Wangen liefen. Decker beugte sich zu ihr vor und zog mit der Hand in ihrem Nacken an einer goldenen Kette, bis der ins T-Shirt gesteckte Anhänger vollständig sichtbar war. Er hielt ihn ihr hin.
»Als ich vor zwei Tagen bei Chris in der Wohnung war, trug er genau so ein Kruzifix wie das hier. Heute Morgen aber nicht mehr«, sagte er.
Terry antwortete nicht.
Decker sagte: »Wann hast du ihn zuletzt gesehen, Terry?«
Sie wischte sich die Augen trocken. »Es wäre wohl sehr dumm, zu lügen, stimmt’s?«
»Stimmt.«
»Ich habe Chris heute Morgen gegen sechs gesehen.«
Decker überlegte. Zu dem Zeitpunkt war Whitman überwacht worden. Der Beamte hatte nichts davon erwähnt, dass Whitman mit einem Mädchen zusammen gewesen war. Irgendwas stimmte da nicht. »Du hast Chris heute Morgen um sechs gesehen?«
»Ja.«
»Hast du ihn im Waschsalon getroffen?«
»Waschsalon? Wovon reden Sie?«
Decker zögerte. »Wovon redest du?«
Terry wurde rot. »Ich … ich habe die Nacht in seiner Wohnung verbracht.«
»Ah.« Decker schrieb, während er weitersprach. »Hast du einen Schlüssel zu seinem Apartment?«
»Nein, natürlich nicht. Ich bin gestern Abend hingegangen … hab mich vor die Eingangstür gesetzt und gewartet, bis er von der Polizei nach Hause kommt.«
»Woher wusstest du, dass er auf dem Revier war?«
Sie legte die Hände aufs Gesicht und ließ sie dann wieder fallen. »Ist Ihre offizielle Bezeichnung Detective oder Sergeant?«
»Sergeant. Red weiter.«
Terry sprach sehr langsam. »Ich hatte seit Monaten nicht mit Chris gesprochen. Er redete nicht mehr mit mir, seit ich ihm keine Stunden mehr gab.«
»Warum?«
»Ich weiß nicht, warum. Ich nehme an, er war böse auf mich, weil ich vorgeschlagen hatte, er sollte sich jemand anderen suchen, der ihm Nachhilfe gibt.«
»Warum hast du ihm das vorgeschlagen? Diesmal bitte die Wahrheit, Terry.«
»Unser Verhältnis wurde … unbequem.«
»Ist er aufdringlich geworden?«
»Im Gegenteil.« Sie räusperte sich und trank einen Schluck Kaffee. »Chris war immer unerschütterlich höflich.«
»Wo war dann das Problem?«
»Das war das Problem«, sagte Terry. »Zwischen uns gab es Gefühle, die nicht ausgelebt werden konnten. Weil Chris … also lassen wir’s dabei, dass es mit uns nichts werden konnte.«
Decker sagte langsam: »Er hat dir gesagt, dass er verlobt ist?«
Terry seufzte erleichtert auf. »Genau! Er ist mit einer anderen verlobt. Zuerst habe ich ihm das nicht geglaubt. Er ist ja noch ein Kind. Ich dachte, es wäre nur ein faule Ausrede … dass er vielleicht schwul war oder mich nicht attraktiv fand. Später fand ich dann heraus, dass das beides nicht so war.«
Sie sah zur Decke.
»Irgendwann glaubte ich ihm. Und von da an wurde es ungemütlich zwischen uns. Ich sagte ihm, er solle sich jemand anderen suchen.«
»Wurde er wütend auf dich?«
»Total wütend. Er … redete nicht mehr mit mir. Ich wusste, dass es kindisch war, aber deshalb tat es trotzdem weh.«
»Es hat dir etwas ausgemacht?«
»Natürlich. Ich mochte ihn sehr. Ich wollte, dass wir Freunde bleiben. Er offenbar nicht.« Sie lachte nervös. »Vielleicht wollte er mich leiden sehen.«
Sie wurde puterrot.
»So habe ich das nicht gemeint. Ich wollte nur lustig sein. Chris war wunderbar beim Unterricht. Wissen Sie, Sergeant, ich habe mich nie von gefährlichen Typen angezogen gefühlt. Bei vielen Mädchen ist das so, aber nicht bei mir.«
»Was meinst du mit gefährlich?«
»Ach, Sie wissen schon, diese weißen Möchtegerns, die sich den Kopf rasieren und mit Waffen rumfuchteln, um den Mädchen zu imponieren.« Terry verdrehte ihre goldenen Augen. »Selbst an einer braven Schule wie der Central West High gibt es ein paar von diesen Typen. Sie halten es für cool, andere zu terrorisieren, wissen Sie. Die schließen Wetten ab, wer dieses oder jenes Mädchen als Erster rumkriegt. Einer von denen wollte auch mal Nachhilfe bei mir nehmen. Von wegen! Ich hab mir eine Ausrede ausgedacht und gesagt, ich sei ausgebucht. Aber er hörte nicht auf, mich zu belästigen. Hat mir so unheimlich drohende Blicke zugeworfen. Und dann stand er plötzlich vor unserer Haustür! Da hatte ich wirklich Angst.«
»Und was ist passiert?«
»Zum Glück war das an einem Tag, an dem Chris da war. Das war noch ziemlich am Anfang … vielleicht eine Woche, nachdem Chris und ich mit der Nachhilfe angefangen hatten. Er ging raus und redete mit dem Typ. Ich weiß nicht, was er ihm gesagt hat – ich habe nicht gefragt, und Chris hat es mir nie erzählt –, aber weder dieser junge noch irgendeiner von seinen Freunden hat mich je wieder belästigt.« Sie musterte ihre Fingernägel. »Ich war sehr erleichtert und sehr dankbar.«
Darauf möcht ich wetten, dachte Decker. Und er wusste das ganz genau.
»Ich wusste, dass er litt, selbst wenn er wütend auf mich war.« Sie zuckte die Achseln. »Ich wusste nur nicht, wie ich es wieder zurechtbiegen sollte.«
Decker hob das Kruzifix an und ließ es auf ihre Weste fallen. »Irgendwann war er offenbar nicht mehr böse. Wie kam es dazu?«
»Das kam ganz plötzlich.« Terry dachte einen Augenblick nach. »Eine Minute redeten wir noch kein Wort miteinander; und dann in der nächsten sprachen wir davon, zusammen wegzulaufen.«
Decker schrieb unter dem Reden weiter. »Wann war das?«
»Am Abend des Abschlussballs, stellen Sie sich das bloß mal vor. Und dann passierte diese schreckliche Sache mit Cheryl …«
Stille.
Decker sah dem Mädchen in die Augen. »Terry, hat Chris dich an dem Morgen, als Cheryl ermordet wurde, angerufen? Gib mir eine ehrliche Antwort.«
Terry schüttelte verneinend den Kopf. »Nein, er hat mich nicht angerufen. Aber er ist gestern Nachmittag hier bei mir gewesen.«
»Und was war da?«, fragte Decker.
»Wir haben geredet. Er sagte mir, dass er zur Vernehmung müsse und einen Lügendetektortest machen würde. Und dann sagte er, er sei gekommen, um sich zu verabschieden. Er sagte, wir könnten uns nicht mehr sehen.«
»Er kam hierher, um auf Wiedersehen zu sagen?«
»Anscheinend.«
»Und über Cheryl hat er nichts gesagt?«
»Doch, er hat von Cheryl gesprochen. Er war entsetzt über das, was passiert ist. Er schien wie von Schmerz überwältigt. Als er fort war, fühlte ich mich total ausgelaugt. Völlig leer. Ich weiß, dass ich gestern Abend nicht hätte zu ihm gehen sollen … aber ich wollte wissen, was auf dem Polizeirevier passiert ist. Ich … ich habe ihn immer noch gern.«
Sie schlug die Hände vors Gesicht und sah dann wieder auf.
»Meiner Stiefmutter habe ich gesagt, ich würde bei einer Freundin schlafen. Stattdessen bin ich zu seiner Wohnung. Ich habe so etwas noch nie gemacht. Aber ich musste einfach.«
Decker sah ihr ins Gesicht. Dieser freimütige Ernst erinnerte ihn an Rina. »Wann bist du losgegangen zu Whitmans Wohnung?«
»Ungefähr um fünf Uhr nachmittags. Ich bin zu Fuß gegangen … hatte meine Bücher dabei und gelernt, während ich wartete.«
»Er ist spät nach Hause gekommen.«
»Gegen ein Uhr morgens. Er wollte, dass ich nach Hause gehe … aber nachdem ich ihm die Situation erklärt hatte, blieb ihm nichts anderes übrig, als mich bleiben zu lassen. Also habe ich die Nacht in seiner Wohnung verbracht.« Sie fingerte an dem Kreuz herum. »Er hat mir sein Kruzifix geschenkt. Er sagte, es habe früher seiner Mutter gehört.«
»Hast du noch mehr gemacht, als nur mit ihm zu reden, Terry?«
Das Mädchen wurde rot.
»Hattest du Sex mit ihm?«
»Nein«, sagte sie schnell. »Nein, ich habe nicht … wir haben nicht. Wirklich. Es ist wahr.«
Decker betrachtete ihr Gesicht. »Ich glaube, du mogelst dich wieder um die Wahrheit herum. Terry, es ist wichtig für mich, wie weit eure Beziehung gegangen ist.«
»Warum? Wollen Sie wissen, ob Chris mir gegenüber jemals gewalttätig geworden ist? Die Antwort ist ein schallendes Nein. Nicht einmal eine … eine Andeutung davon. Er war immer wunderbar mit mir … behutsam und sanft und liebevoll.«
Sie sah auf.
»Wissen Sie, es war ganz allein meine Schuld, dass er nicht mehr mit mir reden wollte. Er litt, und ich wollte nichts davon hören.«
Decker ließ sich nichts anmerken, aber innerlich fühlte er sich ausgelaugt. Noch so ein Mädchen, das sich willig für den Mistkerl, den sie liebte, ans Kreuz nageln lassen würde. Das Mädchen konnte sich zwar gut mitteilen, aber sie war noch ein halbes Kind und ihr Blick auf die Realität ein klein wenig verrutscht. Er sagte: »Terry …«
»Nein, wirklich. Es war mein Fehler. Ich hätte es nicht einfach so beenden dürfen. Ich hätte es besser wissen müssen. Ich weiß nämlich, wie das ist, wenn man leidet. Wenn man auf jemanden zugeht und zurückgestoßen wird … wieder und wieder.«
»Ja, Zurückweisungen sind sehr schmerzhaft, aber …«
»All die vielen Male, bei denen ich auf meinen Vater zugehen wollte. Aber mit Mauern kann man nicht reden. Wissen Sie, ich habe richtig hart gearbeitet, um Melissa groß zu ziehen. Es wäre das Allerletzte, was ich wollte, dass sie mal genauso verkorkst wird wie ich.«
»Du bist nicht verkorkst …«
»O doch, das bin ich. Chris hat es sofort gesehen, gleich beim ersten Mal, als wir miteinander geredet haben. Er erkennt einen Knacks sofort, weil er das nämlich auch mitgemacht hat. Wissen Sie, was er für mich getan hat.«
Decker wusste, dass er es gleich erfahren würde. »Was?«
»Er hat mir meine Großeltern zurückgegeben.« Nun strömten dem Mädchen die Tränen übers Gesicht. »Er hat meine Großeltern mütterlicherseits angerufen – die Eltern meiner Mom. Ich hatte zu viel Angst, um mich bei ihnen zu melden. Völlig gelähmt vor Angst war ich. Aber er wusste, wie es in meinem Herzen aussah. Eines Tages war ich bei ihm und wollte ihm Nachhilfe geben. Stattdessen sprach ich über eine Stunde lang mit meinen Großeltern. Er hatte ihre Nummer in Chicago ausfindig gemacht und sie einfach angerufen. Können Sie sich irgendeinen Jungen vorstellen, der das für ein Mädchen macht, ohne irgendetwas dafür zu erwarten?«
Es war eine rhetorische Frage, also antwortete Decker nicht.
»Mein Gott, das war das erste Mal überhaupt, dass jemand etwas für mich tat«, sagte Terry. »Da wusste ich, dass ich Chris mehr liebte als irgendjemanden sonst auf der Welt.«
»Ich verstehe …«
»Ich habe nicht gewusst, dass manche Erwachsene tatsächlich stolz sind auf das, was ihre Kinder leisten. Als ich das National-Merit-Stipendium gewonnen habe, ist mein Dad nicht einmal zur Verleihung gekommen. Er war krank, müde, betrunken – ich erinnere mich nicht mehr. Ich war noch zu jung zum Autofahren, deswegen bin ich allein zu Fuß zur Schule gegangen … und hinterher allein wieder zurück. Ich log und erzählte jedem, dass ich mich später mit meinen Eltern treffen würde, um essen zu gehen. Na klar! Das Einzige, was zu Hause auf mich wartete, war ein Küchenbecken voll mit schmutzigem Geschirr. Das ich dann abgewaschen habe, wie ich vielleicht hinzufügen darf.«
Unvermittelt hörte sie auf zu sprechen und wischte sich über die Wangen. »Nun verstehen Sie wohl, warum ich etwas Besonderes für Chris empfinde.«
»Natürlich.«
»Er hat Cheryl Diggs nicht umgebracht. Sie hat ihm nicht einmal etwas bedeutet. Warum sollte er sie ermorden?«
Decker ließ die Zunge im Mund spielen.
Terry seufzte. »Ja, ich weiß, dass sie schwanger war. Es war nicht von ihm. Da ist er ganz sicher.«
Decker hielt inne. »Wann hat Chris dir das alles erzählt?«
»Gestern.«
Decker schrieb auf seinen Block. »Und du glaubst wirklich alles, was er dir erzählt, Terry?«
Terry starrte ihn an. »Er hat gesagt, dass er den Lügendetektortest bestanden hat. Stimmt das?«
Decker zögerte. Dann nickte er.
»Aber das sagt doch eine Menge aus, oder?«
»Es ist möglich, dass er die Wahrheit sagt.« Decker sah dem Mädchen direkt in die Augen. »Es ist aber auch möglich, dass Chris, anders als du, ein hervorragender Lügner ist.«
»Warum glauben Sie nicht, was Sie sehen?«
»Das Problem ist, dass ich glaube, was ich sehe«, sagte Decker. »Und ich sehe Chris nicht genauso wie du.«
Terry biss sich auf die Lippe und sah zu Boden.
Decker musterte sie eine Weile. »Oder vielleicht doch. Du hast Zweifel, stimmt’s?«
»Er hat Cheryl Diggs nicht umgebracht«, sagte sie voller Überzeugung.
Decker dachte einen Moment nach. Er tat es wirklich nicht gerne, aber es gab keine schonende Methode, eine Bombe abzuwerfen. »Hat Chris sich dir jemals körperlich genähert?«
»Nie. Wenn wir zusammenarbeiteten, hat er nicht mal ein verärgertes Wort zu mir gesagt.«
»Du hast ihn also nie gewalttätig gesehen … oder vielleicht abartig?«
Das Mädchen war entgeistert. »Abartig?«
»Terry, ich glaube dir ja, wenn du sagst, du hattest keinen Sex mit ihm. Aber letzte Nacht seid ihr euch doch körperlich näher gekommen, oder?«
Sie wurde rot und nickte.
Decker ließ sich keinerlei Regung anmerken. »Und es war nicht das erste Mal, dass ihr euch körperlich nahe gekommen seid, oder?«
Mit hochrotem Kopf sah Terry zu Boden. »Nein. Letzte Nacht war das erste Mal, dass wir überhaupt irgendwas gemacht haben.«
»Terry, bitte lüg mich nicht an.«
»Ich lüge nicht.«
»Dann verschweigst du mir etwas.«
»Nein. Tue ich nicht. Ich schwör’s.« Das Mädchen wurde ganz aufgeregt. »Warum glauben Sie mir nicht?«
Decker legte eine andere Gangart ein. »Hat er letzte Nacht, als du bei ihm warst, irgendeine sexuelle Absonderlichkeit gezeigt?«
»Natürlich nicht!«
»Es hat ihn nicht angemacht, grob mit dir zu sein …«
»Mann, liegen Sie daneben!« Sie sah angewidert aus. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich gefährliche Typen nicht mag. So etwas würde ich nie zulassen.«
»Nicht einmal mit Chris?«
»Nicht einmal mit Chris!« Das klang abschließend.
»Und wenn er dich nun um einen ganz besonderen Gefallen gebeten hätte, Terry? Und geschworen hätte, dass er dir nicht weh tun würde?«
In ihren Augen hatte sich Panik ausgebreitet. Decker fühlte sich furchtbar, aber ein Mädchen war ermordet worden, und er war fest entschlossen, ihren Mörder zu finden. Er sprach mit ruhiger Stimme weiter: »Hat Chris jemals mit dir über seine sexuellen Fantasien gesprochen? Fantasien vielleicht, die mit Fesselung zu tun haben?«
Ihre Augen huschten von ihm zur Treppe und zur Haustür. Sie war ebenso verwirrt wie entsetzt. Vielleicht waren diese Bilder wirklich nur in Whitmans Fantasie entstanden.
Decker sagte beruhigend: »Terry, hat Chris je davon gesprochen, Frauen zu fesseln?«
Ihre Augen weiteten sich ganz plötzlich.
Bingo!
Im Flüsterton sagte Decker: »Er hat dich gefesselt, nicht wahr?«
Terry wurde aschfahl. »O mein Gott, die Zeichnungen!« Ihr brach der kalte Schweiß aus. »Ich … mir ist ein bisschen schwindelig. Entschuldigen …«
Sie stand auf. Decker fing sie, bevor sie auf dem Boden aufschlug.