31
Ich hatte den Mann noch nie zuvor gesehen, aber ich wusste sofort, wer er war. Er entsprach völlig dem Klischee – der Prototyp des Mafia-Don, filmreif; nur dass der Ausdruck in seinen Augen nicht gespielt war. Sie waren kalt und selbstsicher und gaben mir zu verstehen, dass er nicht zum Spaß da war. Ich wusste, wenn es das jetzt sein sollte, konnte ich absolut nichts tun, um ihn umzustimmen. Mein Herz schlug schneller, und der kalte Schweiß brach mir aus. Er winkte, ich solle beiseite treten. Das tat ich, und er betrat mein Heim und schloss leise die Tür hinter sich. Dann legte er den Riegel vor. Er schnappte ein, und ich zuckte zusammen.
Er war nicht groß, vielleicht einsfünfundsechzig, einsachtundsechzig, aber er war sehr muskulös. Schwere Hände und Handgelenke und ein breiter Stiernacken. Sein Haar war ein dichtes Nest aus Stahlwolle, aber gut geschnitten. Er hatte einen dunklen Teint und Hängebacken, die schon wieder schwärzlich verschattet waren, obwohl er frisch rasiert war. Aber er war sehr gut angezogen – ein schwarzer Anzug aus Wollkrepp mit weißem Hemd und Krawatte.
Er sah sich im Wohnzimmer um, bis sein Blick schließlich an mir hängen blieb.
»Wo sind deine Eltern?«
Seine Stimme klang überraschend sanft. Ich versuchte seine Frage zu beantworten, aber es brauchte einige Zeit, bis ich meine Stimme wieder gefunden hatte. »Bei der Arbeit.«
»Christopher sagte, du hättest eine kleine Schwester.«
»Sie ist nicht hier«, sagte ich schnell.
Er lächelte. »Was? Du denkst, ich bin gekommen, um dir etwas zu tun?« Er lächelte wieder. »Wie im Film, was? Ich ziehe meine Maschinenpistole und verwandle die Wände hier in Schweizer Käse?« Er lachte. »Setz dich. Ich will nur mit dir reden.«
Ich ging langsam zum Esszimmertisch. Dann fragte ich ihn aus reiner Gewohnheit, ob ich ihm etwas zu trinken anbieten könne.
»Eine junge Dame mit guten Manieren.« Er lächelte wieder. Seine Zähne waren weiß überkront. »Das gefällt mir. Nein, danke, ich möchte nichts trinken. Setz dich.«
Ich setzte mich hin.
»Du weißt also, wer ich bin, ja?«
Ich nickte.
»Hast mich erwartet? Christopher muss dir ziemliche Angst eingejagt haben. Der Junge hat mehr Grips im Kopf, als ich dachte.«
Ich schwieg.
»Ich muss mich also nicht vorstellen, oder?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Christopher hat dir alles über mich erzählt?«
»Nehme ich an.«
»Du nimmst es an? Was meinst du damit, du nimmst es an? Das ist eine Frage, auf die man mit ja oder nein antwortet.«
»Er …« Ich schluckte schwer. »Er hat mir ein wenig von Ihnen erzählt.«
»Zum Beispiel?«
Mir schwirrte der Kopf. »Zum Beispiel …« Ich räusperte mich. »Er hat mir erzählt, dass Sie ihn adoptiert haben, nachdem seine Mutter starb. Und dass Sie ihn bei sich aufgenommen haben, als er sonst nirgends hin konnte.«
»Ja, nur das Gute, was?« Er lachte wieder. »Hat er dir auch erzählt, dass ich ein Mistkerl bin?«
Ich schüttelte wieder den Kopf.
»Nichts dergleichen, ja?«
»Nur dass man … dass man sich mit Ihnen besser nicht anlegen sollte. Er liebt Sie wirklich sehr.«
»Du bist eine furchtbar schlechte Lügnerin.«
Ich hielt den Mund und wartete darauf, dass er die Bombe platzen ließ. Aber er schien es nicht eilig zu haben. Er war ganz ruhig und entspannt. Aber natürlich hatte er die Macht. Warum sollte er sich da nicht Zeit nehmen?
Er betrachtete seine Handknöchel. »Sag mir eins, kleines Mädchen. Christopher bedeutet mir alles. Diese ganze Sache mit dem toten Mädchen … wie war noch der Name?«
»Cheryl Diggs.«
»Genau. Cheryl Diggs. Ich kenne meinen Sohn. Christopher hat ihr nichts getan.«
Ich nickte.
»Nicht dass Christopher nicht noch ein bisschen erwachsener werden müsste. Aber warum sollte er eine Nutte wegpusten? Das ist dumm und sinnlos. Aber Christopher ist nicht dumm, und er tut auch keine sinnlosen Sachen. Ich will damit nicht sagen, dass diese Diggs den Tod verdient hätte. Aber es ist nicht Christophers Fehler, wenn die kleine Nutte ein Risiko zu viel eingegangen ist. Ich vergieße also keine Tränen um sie. Weißt du, was ich damit sagen will?«
Ich nickte.
»Irgendein Bulle hatte was gegen den Namen Donatti, und als Nächstes erfahre ich, dass mein Sohn festgenommen, eingesperrt und angeklagt worden ist. Hat mich echt gewurmt, aber ich konnte damit leben. Für so was bezahle ich meine Anwälte. Willst du wissen, was mich wirklich gewurmt hat?«
Ich wartete, wagte nicht, mich zu rühren.
Er sagte: »Was mich wirklich gewurmt hat, war das, was Christopher für dich getan hat. Den ganzen Ärger und die Haftstrafe auf sich zu nehmen, nur um ein paar Zeichnungen zu begraben, auf denen du die Beine breitmachst. Weißt du, was das bedeutet, Engelchen? Das bedeutet, dass ich dich nicht besonders gut leiden kann.«
Ich spürte, wie mir der Schweiß über die Stirn lief. Er winkte mich mit dem gekrümmten Finger näher zu sich heran. Ich folgte der Aufforderung, bis ich nur noch wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt war. Ich hatte mit dem Geruch von Knoblauch oder Zigarren gerechnet. Stattdessen roch er nach einem guten Rasierwasser. Er drohte mir mit dem Finger.
»Du bist mir was schuldig, Teresa. Du hast mir meinen Sohn weggenommen. Das heißt, du hast eine Schuld zu bezahlen.«
Mir wurde langsam schwindelig. Vor meinen Augen tanzten die Funken, und es kostete mich große Mühe, tief durchzuatmen. Wenn er meine Not bemerkte, machte er sich jedenfalls keine Gedanken deswegen. Er betrachtete schon wieder seine Hände. Die Nägel waren kurz und sauber. Kein Ring am kleinen Finger.
Ich wartete ab, weil ich zu verängstigt war, um etwas zu sagen.
Leise sagte er: »Aber ich bin ein anständiger Mann, Teresa. Du hast vielleicht etwas ganz anderes von mir gehört, aber ich bin ein fairer Mensch. Du schuldest mir was. Aber ich bin bereit, Vergangenes vergangen sein zu lassen, um Christophers Willen. Ich liebe meinen Sohn nämlich wirklich.«
Ich leckte mir über die Lippen und wartete, dass er weitersprechen würde.
»Ich möchte, dass Christopher glücklich ist«, sagte er. »Und das wird nicht leicht sein, meine Kleine. Weil er nämlich ins Kittchen geht. Angeblich ist Piedmont ja gar nicht so furchtbar. Aber es gäbe bessere Orte für ihn. Da sind nicht genug Blutsbrüder und viel zu viele Nigger. Ich wollte ihn ja in den Osten verlegen lassen, aber er wollte es nicht. Kinder! Versuch einer, es denen Recht zu machen …«
Er sah mich wieder an.
»Christopher ist ein sehr starker Junge. Nicht unterzukriegen. Er kommt überall zurecht, egal wo er ist. Aber das heißt nicht, dass ich nicht das Beste für ihn will. Und das solltest du auch, wenn du ihn liebst.«
Ich fühlte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen, aber es gelang mir, sie zu unterdrücken. »Ja. Natürlich.«
Er kniff bedrohlich die Augen zusammen. »Mein Sohnemann liebt dich sehr, Teresa. Zu sehr für meinen Geschmack, aber ich kann nicht über sein Herz bestimmen. Und weißt du, was er macht? Er geht für dich ins Gefängnis. Das Mindeste, was wir tun können … wir beide … ist, dass wir versuchen, ihm die Zeit in Piedmont so angenehm wie möglich zu machen. Du kannst mir folgen?«
»Ich tue alles, was Sie wollen.«
Er schien mein Gesicht intensiv zu erforschen. Anscheinend gefiel ihm, was er sah, denn er nickte andeutungsweise.
»Schön, das von dir zu hören. Ich habe nämlich etwas für ihn arrangiert … für dich und ihn. Nur ihr beide. Verstehst du, was ich sagen will?«
Das tat ich nicht, und meine Verwirrung muss sich in meinem Gesicht gespiegelt haben.
»Zeit mit ihm ganz allein, Teresa. Ich erwarte von dir, dass du nett zu ihm bist, Mädchen. Wirklich … wirklich … nett.«
Jetzt ging mir ein Licht auf, aber ich reagierte nicht.
»Du verstehst mich doch, oder?«
»Ich glaube schon.«
Er warf entnervt den Kopf zurück, eine Angewohnheit, die ich auch schon bei Chris gesehen hatte. »Du glaubst schon. Muss ich es dir erst buchstabieren?«
Ich schüttelte hastig den Kopf.
»Gut. Wir verstehen uns also; du weißt, was von dir erwartet wird.«
Ich nickte.
Donatti lächelte. »Also. Das war doch gar nicht so schlimm, oder?«
Ich schüttelte wieder den Kopf.
»Also dann Folgendes, Teresa. Christopher wird in einer Woche verlegt. Wir geben ihm ein, zwei Monate, um sich einzugewöhnen. Wenn es so weit ist, schicke ich jemanden, der dich nach Piedmont bringen wird. Er wird dich ein paar Tage vorher anrufen. Dann hast du genug Zeit, dir etwas für deine Eltern auszudenken. Du sagst ihnen nichts. Das ist eine Sache nur zwischen dir und mir.«
»Ja. Natürlich.«
»Und jetzt habe ich ein paar sehr wichtige Ratschläge für dich. Also hör gut zu.«
Ich wartete.
Donatti fuhr fort. »Ich werde versuchen, dich als Rechtsberaterin einzuschleusen. Vielleicht klappt es, vielleicht auch nicht. Aber so oder so, du bist eine Naturschönheit, und das ist ein großes Problem. Wenn du ins Loch gehst, ziehst du ein weites, dunkles, altmodisches Kleid an, mit langen Ärmeln und hohem Kragen. Keine nackte Haut, kleines Mädchen, nicht einmal an den Füßen. Zieh ein paar alte Slipper mit Kniestrümpfen an oder so. Sie lassen dich nicht rein, wenn du Schnürbänder an den Schuhen hast. Kannst du mir so weit folgen?«
Ich nickte.
»Gut. Kein Make-up, kein Parfüm, und bind dir die Haare hoch. Du machst den Mund nicht auf und klebst mit den Augen am Boden. Wenn ich dir die nötigen Beglaubigungsschreiben besorgen kann, zeigst du sie am Schalter vor, und dann wird dich eine Wache zu meinem Söhnchen führen. Nun ist es zwar richtig, dass ich hier den Ton angebe. Aber um die Wahrheit zu sagen, wirst du einem Wachmann ausgeliefert sein, der von mir bestochen worden ist. Und das heißt, der Mann ist so zuverlässig wie eine faule Rübe. Wenn es ihm einfallen sollte, sich an dich ranzumachen, wenn er dich in eine Ecke drängt, lass ihn machen, was immer er will. Ich sorge dann später dafür, dass er es bereut. Aber das hilft dir erst mal nicht, stimmt’s?«
Ich schüttelte langsam den Kopf.
»Vergiss nicht, dass du an einen Ort gehst, wo es nur rücksichtslose Schweinehunde gibt, die seit sehr langer Zeit nicht mehr mit einer Frau zusammen gewesen sind. Wenn du eine falsche Bewegung machst, ist es aus mit dir, Teresa.« Donatti rückte ganz nahe heran. »Glaubst du, du kriegst das hin?«
Ich flüsterte ein Ja.
»Sieh mich an, wenn du mit mir sprichst.«
Ich brachte es irgendwie fertig, Donatti in die Augen zu sehen. »Ich kriege es hin.« Ich wendete den Blick nicht wieder ab, wir starrten uns gegenseitig in die Augen. »Ich kann es hinkriegen, Sir, und ich werde es hinkriegen. Das ist keine Strafe für mich. Es ist ein Privileg.«
Donatti schürzte die Lippen und stierte mich immer weiter an. »Gute Antwort. Du liebst meinen Sohnemann wirklich, stimmt’s?«
»Ja.«
»Zu schade. Weil er nämlich eine andere heiraten wird.«
»Ich weiß.«
»Pech«, sagte er ohne nennenswerte Gefühlsregung. »Aber so ist das Leben. Manchmal ist es gut zu einem. Und manchmal echt furchtbar. Also, wie ich schon sagte, mein Mann wird dich vorher anrufen. Mach dich darauf gefasst.«
Er stand auf und ich ebenfalls. Aber er winkte mich auf meinen Stuhl zurück. »Ich finde schon selber hinaus. Ich bin nicht so alt, wie ich aussehe.« Dann sagte er: »Unter uns, Teresa. Glaubst du, er hat es getan?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Warum nicht?«
Ich sah zu Boden, aber dann fiel mir ein, dass er ja gern Blickkontakt hatte, wenn man mit ihm sprach, und sah ihm wieder in die Augen. Das war genau wie bei Chris, und es machte mich nachdenklich. Wie verschieden waren Vater und Sohn in Wirklichkeit eigentlich? »Er hat es nicht getan, weil … der Mord so unordentlich war.«
Donatti starrte mich an. »Und das ist ein Grund?«
»Ein sehr guter, wenn man Chris kennt.«
»Willst du damit sagen, dass ich meinen eigenen Sohn nicht kenne?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich wollte nur … Christopher ist halt sehr ordentlich, das ist alles.«
Er nickte langsam. »Du hast ein gutes Auge, kleines Mädchen.« Er steckte die Hände in die Taschen. »Du bist zäh. Aber du weißt es nicht. Das macht dich anziehend. Das und dein Gesicht. Du hast ein verdammt schönes Gesicht. Richtig appetitlich. Wenn das so bleiben soll, sei besser nett zu meinem Jungen. Dass mir keine Klagen kommen, klar?«
»Ja.«
»Du wirst nicht wieder direkt mit mir zu tun haben, es sei denn, irgendwas läuft schief. Sorge dafür, dass das nicht passiert.«
Er machte die Tür hinter sich zu. Ich war unglaublich erleichtert. So als hätte ich überraschend eine Zuflucht vor einem peitschenden Hagelsturm gefunden. Ich betete darum, dass es keine vorübergehende Rettung war.