Der Zufall enthob Alkibiades der Mühe des Nachdenkens, was er den Athenern jetzt bieten könne. Im Frühjahr 415 — Alkibiades, Nikias und Lamachos waren wieder zu Strategen gewählt worden — , im April 415 kam ein Hilferuf aus Sizilien, wo die zwei, drei großen Städte gerade dabei waren, die kleineren zu schlucken. Nichts Lebensgefährliches, aber, wie immer in der Welt, Aufreizendes. Die großen Vögel waren dorische Siedlungen und hielten auch jetzt noch zu Sparta; die kleinen hatten sich aus Selbsterhaltungstrieb »logischerweise« Athen zu Füßen gelegt. Logisch ist das eigentlich nicht, dafür aber ein in der Geschichte immer wieder zu beobachtender Automatismus.
Athen hatte sich lange Zeit nicht mehr um die Griechen Siziliens und Unteritaliens gekümmert, es hatte den Blick nach Ionien gewandt. Nikias gab sich alle Mühe, der Volksversammlung klarzumachen, daß man nicht auf hundert Hochzeiten tanzen könne; er wollte in dem Dilemma lieber die sizilianischen Freunde im Stich lassen, als den Frieden mit Sparta gefährden.
Das war das Stichwort für Alkibiades! Er kletterte aufs Podium und feuerte eine Rede in das Volk, die tatsächlich zum Kriegsbeschluß führte. Die Ansprache muß ich Ihnen unbedingt, wenigstens zehn Zeilen lang, vorführen; es gab nichts Aufschlußreicheres für diesen charmanten Verbrecher:
»Athener! Ich habe mehr Anspruch auf das Amt eines Feldherrn als jeder andere! Aber nicht nur das: Ich glaube auch, dessen würdig zu sein. Ich bin verschrien, verschrien um Dinge willen, die dem Vaterlande in Wahrheit nur Nutzen gebracht haben. Mir natürlich auch! Denn der Prunk, mit dem ich in Olympia aufgetreten bin, gerade der war es, der die Griechen gelehrt hat, die Größe Athens richtig einzuschätzen. Ich habe auch gesiegt! Mag sein, daß das alles im eigenen Kreise neidischen Ärger erregt; bei den Fremden — und das ist wichtig — erscheint es als Ausdruck der Kraft! Ich dünke mich mehr als andere, jawohl! Ist das Frevel? Will man mit mir teilen? Ja? Wird man, wenn ich im Unglück sein sollte, auch mit mir teilen? Spätere Geschlechter werden einmal mit mir prahlen! Fürchtet euch nicht vor meinem jugendlichen Sturm. Was nun das Unternehmen gegen Sizilien betrifft: Durch solche Taten sind wir zur Herrschaft gelangt!«
Ja, zur Herrschaft wollten sie alle gelangen; und werden. 134 Trieren mit über 25 000 Mann wurden startfertig gemacht und die drei Strategen mit der gemeinsamen Führung beauftragt.
Das Aufgebot war enorm, es schien erklärlich, daß drei Generäle mitgingen. Tatsächlich aber war der Grund ein anderer: Man mißtraute Alkibiades; man roch, daß er das ganze Abenteuer dazu mißbrauchen könnte, sich in Sizilien ein privates Königreich zu schaffen. Ein phantastischer Plan, eben deshalb bei ihm so naheliegend.
Nikias und Lamachos waren gute Wadihunde, aber sicherer schien es den Besorgten, die ganze Expechtion zu vereiteln. Beachten Sie, zu welch modernen Mitteln diese Zeit bereits griff: Als die Athener am Morgen vor dem Auslaufen der Flotte erwachten, sahen sie, daß unbekannte Täter über Nacht den Hermen in der Stadt die Köpfe verstümmelt hatten! Ein Sturm der Entrüstung erhob sich; so weit reichte die Achtung vor den Göttern noch immer. Schwer wog auch die schlimme Vorbedeutung, die in dem Frevel lag. Er schien allen ein böses Omen für den Feldzug.
Sofort begann ein fieberhaftes Suchen nach den Tätern oder dem Täter. Die Prytanen, der Regierungsausschuß, setzten eine hohe Belohnung für die Auffindung des Schuldigen aus und sicherten dem Anzeigenden Geheimhaltung seines Namens zu. Da tauchte auch schon das Gerücht auf, Alkibiades sei der Täter gewesen. Daß es in der Nacht ein Abschiedsgelage gegeben hatte, bei dem es nicht nur hoch hergegangen war, sondern auch niedrig, das stand fest. Auch sollte er halb trunken Gottesdienstriten karikiert haben.
Der »junge Löwe« schäumte vor Wut. Er ging sofort vor Gericht und verlangte eine öffentliche Anklage gegen sich. Die Philologen haben bis vor kurzem diesen Schritt für einen Schachzug gehalten und an Alkibiades’ Schuld geglaubt. Man ist davon abgekommen. Das Ganze war ein Querschuß, und er saß.
Der Rat der Fünfhundert sah sich in einer prekären Lage. Lehnte er den Antrag ab, so sprach er Alkibiades blanko frei; setzte er eine Verhandlung an, mußte die Expechtion ohne ihren Initiator und Kopf starten. Man fand einen Ausweg, der allen gleich unangenehm war: Der Feststellungsprozeß sollte sofort nach Beendigung des Feldzugs durchgeführt werden.
Unter diesem bedrückenden Vorzeichen stach also die Flotte in See, mit der zwittrigen Schicksalsfigur an Bord. Das Geschwader war kaum vor Sizilien angekommen, da erschien ein Schnellsegler mit dem Befehl, Alkibiades nach Athen zurückzubringen — die Anklage war erhoben! Die »Querschießer« hatten die Tarnkappe fallen lassen; ans Licht trat Tessalos, der Sohn Kimons, Enkel des Miltiades!
Welche Beweise er in der Hand hatte, erfuhr die Welt nie. Das Kurierschiff kehrte zwar zurück, aber ohne Alkibiades. Der »junge Löwe« war bei einer Zwischenlandung an der Küste des Peloponnes von Bord gesprungen und mit langen Beinen gen Sparta gelaufen.
Das athenische Gericht verurteilte ihn als Landesverräter zum Tode und zog seinen gesamten Besitz ein. Binnen Minuten zerfetzte das Volk seinen bisherigen Heros.
Athen hatte sich einen Schlangenkopf, aber immerhin den Kopf, abgeschlagen. Es hätte sich sofort noch die gierigen Hände abhacken müssen. Das aber tat es nicht, und die Quittung folgte auf dem Fuße. Das gesamte Expechtionsheer, 5 000 Soldaten und 20 000 Matrosen und Troßknechte, nahm ein wahrhaft entsetzliches Ende. Es fiel so, wie es ging und stand, in die Hand der Feinde — Unfähigkeit der Führer, Feigheit der Masse. Die Syrakuser warfen die Gefangenen in die Steinbrüche. Dort verhungerten, starben und verdarben sie. Die Strategen wurden, obwohl der spartanische Abgesandte sie retten wollte, hingerichtet.
Athen war wie betäubt. Schrecklich hatte Hermes den Frevel und furchtbar Zeus den Friedensbruch gestraft.
In dieser Situation kam die Kunde, daß ein spartanisches Heer unter König Agis auf dem Wege nach Attika sei.
Ja, die Götter rührten sich! Apoll stieg herab, den Köcher mit den roten Pfeilen über die Schulter gehängt, wie es einst Homer gesehen hatte. Ares schürte die Esse des Krieges an. Es ging wieder los; der zweite Teil des Peloponnesischen Krieges begann.
*
Der böse Geist der Zeit, der Alkmaionide Alkibiades, flüsterte nun den Spartanern ein. Ein kluger Geist, aber ein satanischer. Die Spartaner haben versäumt, ihn sofort einen Kopf kürzer zu machen.
»In Sparta erregte er durch die Art, wie er jetzt sein Leben einrichtete, allgemeine Verwunderung«, schreibt Plutarch. »Er verstand, das Volk, vor allem das einfache, ganz für sich einzunehmen und blendete es durch die Art, wie er zum Spartaner wurde, wie er sich das Haar kurz schnitt, sich in kaltem Wasser badete, mit Gerstenklößen vorlieb nahm und großen Gefallen an der Schwarzen Suppe fand; man traute den Augen kaum und fragte sich, ob dieser Mann jemals von Leibköchen betreut gewesen sei, jemals einen eigenen Parfümberater gehabt oder jemals einen milesischen Purpurmantel auch nur anzurühren, geschweige denn anzuziehen gewagt habe. Er änderte sich schneller als ein Chamäleon. Aber«, fährt Plutarch fort, »hinsichtlich seiner Tücke nicht. Er schwängerte die Gemahlin des Königs Agis, während dieser auf dem Feldzug war, und erklärte zynisch, er habe weder den König beschimpfen noch seine Wollust befriedigen, sondern auf diese angenehme Weise lediglich erreichen wollen, daß über Sparta einst seine eigenen Nachkommen herrschen würden. Dennoch muß man gestehen, es gab nicht leicht irgendeinen Menschen, der sich durch den Charme, den Alkibiades zeigen konnte, nicht hätte fangen lassen.« Nach diesem gynäkologischen Ereignis wurde Alkibiades der Boden in Sparta wohl etwas zu heiß, auch wühlte sein Borgiageist zu ruhelos in ihm, um ihn tatenlos Zusehen zu lassen, wie die griechische Welt wieder einmal brannte. Er gebar daher einen Plan, der seine überragenden diplomatischen Fähigkeiten ebenso wie seine wahrhaft fürchterliche Natur zeigt: Er wollte nach Kleinasien gehen, die Perser auf die spartanische Seite ziehen und dann... und dann... es waren phantastische Gedanken, die er den Ephoren Vorspann. Auch wenn die Spartaner kein Wort davon glaubten, schickten sie ihn los und machten drei Kreuze hinter ihm.
Er verwirklichte alle Pläne. Er brachte die unglaublichsten Dinge zustande; Persien, sowieso wütend über eine Vertragsverletzung der Athener, kündigte den »Kimonischen Frieden«, trat in das spartanische Lager über und erklärte sich bereit, laufend Hilfsgelder zu zahlen. Es war das Werk von wenigen Wochen, da schlug Alkibiades dem als Griechenhasser berüchtigten Satrapen bereits freundschaftlich auf die Schulter und trank mit ihm Brüderschaft. Den braven Ephoren gingen die Augen über.
Auch ganz Ionien gingen sie über; sozusagen über Nacht hatte sich ihre Lage ins Gegenteil verkehrt: Der Perser drohte zu kommen, und Athens Flotte war vernichtet! Die ionischen Städte stellten also wieder einmal die Zahlungen ein und traten in Scharen aus dem Attischen Seebund aus.
So war die Situation, als König Agis in Attika einmarschierte. Wie in Trance nahm das Volk von Athen die stündlich neuen Schreckensmeldungen hin. Sein gesamter Machtbau war zusammengekracht, Ionien abgefallen, die Geldquelle versiegt, fast die ganze Flotte vor Sizilien vernichtet, 25 000 Mann tot, die Spartaner vor der Tür! Wieder einmal strömten die Bauern und Dörfler in die Stadt, die Staatssklaven von den Gütern und aus den Bergwerken flohen in hellen Haufen zu den Spartanern — konnte das alles wahr sein? Man schloß die Augen. Und vor allem natürlich die Tore.
Agis ließ sich zwanzig Kilometer vor Athen häuslich nieder.
Die Stadt war gefangen. Das »regierende« Volk rannte ratlos durch die Straßen. Wo war wenigstens ein Kleon? Athen war zum erstenmal führerlos. Das ist schlimm. Schlimm? Das ideale Schicksal, meine Herren, das ideale Schicksal! Denn wenn eine überragende Persönlichkeit sich der Massenherrschaft zur Verfügung stellt, so ist die Situation eigentlich schon verfälscht. Angenehmer für die regierende Masse ist freilich, wenn sie Persönlichkeiten verschleißen kann!
Der Kleinmut ergriff die Herzen, und in diesem schäbigsten Kleinmut kam das Volk auf den Gedanken, die Macht wieder aus den Händen zu geben!
Aber an wen vergibt man sie, wenn niemand sie haben will? Man berief also zunächst eine Kommission von zehn alten Männern, die Rat wissen sollten. Sie wußten keinen. Sie gaben den Schwarzen Peter weiter an dreißig, und die gaben ihn weiter an vierhundert, und so wäre es wohl fortgegangen, wenn den Vierhundert nicht eine Idee von einmaliger Naivität gekommen wäre: Sie fanden, daß man jetzt, wo die »Lumpendemokratie« (neuester Lieblingsausdruck von Alkibiades) beseitigt war, eben diesen Alkibiades zurückrufen solle.
Ich hoffe, daß Sie hier nicht die abwegige Frage stellen, was Alkibiades bewegen sollte, nun wiederum Sparta zu verraten! Nein, an dergleichen scheiterten die Vierhundert nicht, sondern daran, daß sie zu spät kamen. Inzwischen hatten sich nämlich die Matrosen der vor Samos liegenden athenischen Schrumpfflotte mit Alkibiades in Verbindung gesetzt; ihr Vorschlag unterschied sich von dem der Vierhundert nur durch die Kleinigkeit, daß Alkibiades die »Lumpendemokratie« nicht endgültig austilgen, sondern — wiederaufrichten sollte. Nach dem trefflichen Sprichwort »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst« blieben die Matrosen in dem edlen Wettlauf um den herrlichen jungen Löwen Sieger.
Der junge Löwe (inzwischen vierzig Jahre alt geworden) kümmerte sich zuvörderst nicht um Athen, er gedachte erst einmal irgendeinen glänzenden Sieg zu erfechten. Daß für das »über« begreiflicherweise nur die Spartaner in Frage kamen, störte ihn wenig. Am Hellespont wollte er mit der Wiedergewinnung Ioniens für Athen beginnen; dort kreuzte auch, wie er ja am besten wußte, die kleine peloponnesische Flotte.
Im Mai 410 stieß er bei Kyzikos überraschend auf den »Feind«. Die Überraschung lag allerdings vollständig auf seiten der Spartaner. Ihr Gastfreund Alkibiades mit athenischen Schiffen — das war das letzte, was sie erwartet hatten!
Mehr Zeit als zu dieser verspäteten Einsicht blieb ihnen auch nicht; sämtliche Schiffe wurden in Grund gebohrt oder gekapert, der Admiral fiel im Kampf, die Besatzungen retteten sich mit Mühe und Not schwimmend an das Ufer.
Das war, fand Alkibiades, das richtige Entree für Athen. Von den Wellen seines neuen Ruhms als »Retter des Vaterlandes« getragen, kam er heim, und die Athener bereiteten dem immer noch zum Tode Verurteilten einen brausenden Empfang. Wie Schillers Isolani konnte er sagen: »Wir kommen auch mit leeren Händen nicht!« Er wies seine Hände vor, und siehe, da klebten, außer dem Blut seiner Gastfreunde, zahllose geraubte Schätze aus den Hellespontstädten und einige hundert von den Ioniern erpreßte Talente. Dann erschien er vor Gericht, den Auftritt zu einer großen Szene gestaltend. Er schilderte dem gebannt lauschenden Volke, wie entsetzlich er unter den Verdächtigungen gelitten, wie er mit den Göttern gehadert habe und wie schrecklich die Zeit der Heimatlosigkeit gewesen sei. Er konnte, von seinen eigenen Worten überwältigt, sich der Tränen nicht erwehren. »Doch«, schreibt Plutarch, »doch machte er dem Volke nur wenige und gelinde Vorwürfe...«
Die Athener setzten ihm einen goldenen Kranz aufs Haupt, gaben ihm seinen Besitz zurück und wählten ihn zum »Uneingeschränkten Befehlshaber zu Wasser und zu Lande«. Wenn Sie, verehrter Leser, an dieser Stelle noch einmal kurz überschlagen, was sich im Alkibiadischen Abschnitt des Peloponnesischen Krieges ereignete, und sich vielleicht freundlicherweise der Hauptstichworte erinnern: sizilianische Expechtion, Einschließung Athens, persisch-spartanische Verständigung, Auflösung des Attischen Seebundes, neue Schwenkung Alkibiades’ und Sieg am Kyzikos, ich sage: Wenn Sie dieses Resümee ziehen und zugleich beim Vorblättern festgestellt haben, daß der Abschnitt auf der nächsten Seite endet, so werden Sie sich kaum vorstellen können, daß ich bei der Faustregel den Alkibiadischen Kriegsabschnitt als unterschieden kennzeichnete. Auch die Athener konnten es sich nicht vorstellen. Und doch ging die Sache ganz einfach vor sich. Alkibiades, ohne einen Blick auf den immer noch vor Athen liegenden König Agis zu werfen, machte sich nun auf, Ionien zurück zum Gehorsam zu bringen. Hundert Trieren, alles, was Athen besaß, stachen in See; am Bug des Admiralsschiffes träumte der Alkmaionide von seiner Sternstunde.
Er hat Athen nie wiedergesehen.
Die Spartaner bereiteten ihm eine böse Überraschung. Als er bei Ephesos landen wollte, fand er den ganzen Hafen vollgepfropft mit neuen Kriegsschiffen!
Sie ahnen, was jetzt kommt. Sie ahnen falsch. Es folgt etwas ganz Banales. Die Flotte legt sich in der Nähe an den Strand, und Alkibiades macht zwecks Gelderpressung einen mehrtägigen Abstecher; die Spartaner stoßen einmal kurz zu und versenken fünfzehn Schiffe; Kapitän Konon eilt nach Athen und verpetzt die »Niederlage«; das Volk, nun endgültig auf dem Wege zum reinen Jakobinertum, setzt den »Retter des Vaterlandes« sofort ab; Alkibiades hört das, packt seine sieben Sachen, sagt den Matrosen Adieu und fährt mit seinem Flaggschiff für immer und ewig davon.
Dümmer und belangloser konnte sich dieser Mensch nicht verabschieden. Er, von dem man erwartet, daß er in einer grünen Stichflamme verzischen würde, trat ab wie ein Zauberer, der mit bürgerlichem Namen Meier heißt, sang- und klanglos.
Ein einziges Mal noch werden wir und die Athener ihn wie einen Schimmelreiter vorüberhuschen sehen. Dann verschwindet er im dunkeln. Ein paar Jahre später wird sein Tod gemeldet: Irgendwo in Asien ist er »auf Wunsch der Athener« ermordet worden.
Das Spiel ist aus, und wir bleiben mit einem schalen Gefühl vor der leeren Bühne zurück. Obwohl mir die Gestalt des Alkibiades (zu spät in der Geschichte, viel zu spät, um unserem Urteil zu entgehen) von Herzen zuwider ist — er war ein Grieche, er hätte vor Troja liegen können, Klytemnästra hätte ihn geliebt und Homer ihn besungen. Er war, wie es sich für einen Griechen gehört, ein Sohn der Unvernunft, ein Enkel der Hybris, ein Pirat des Lebens. Solche Menschen, auch wenn sie gehaßt werden, lassen ihr Leben als Ballade, als Sage zurück. Wenn sie abtreten, verschwindet ein Alptraum, aber auch der Mittelpunkt aller Gedanken. Die Szenerie wird plötzlich fahl, lautlos und frostig wie vor einer Sonnenfinsternis.
*
Der Peloponnesische Krieg ist in das letzte Stadium getreten. Sparta (König Agis lag immer noch vor Athen) schrumpfte mehr und mehr zusammen, es fraß sich auf in Disziplin, Darben, Entbehren und Opfern. Korinth kämpfte gegen den Zusammenbruch seines Handels, Megara hatte ihn hinter sich; Platää war eine Ruine, Theben lebte in ewigem Ausnahmezustand. Athen näherte sich dem atropinalen Delirium. Natürlich ist man heute viel zu dezent, um diese Erscheinung als das zu titulieren, was sie war: die Hysterie der Kommune. Es war die unnatürlichste, die fremdartigste Fehlleistung der griechischen Seele. Athen muß um diese Zeit abscheulich gewesen sein.
Alkibiades war weg. Kapitän Konon, der »Petzer«, wurde Admiral und trug mit den Spartanern das noch fällige Scharmützel zur See aus (406 bei den Arginusen). Er nannte es einen Sieg, vielleicht war es einer; aber viertausend Athener waren dabei ertrunken! Der Plebs (ich hätte beinahe gesagt, der »Berg«) zeigte sein wahres Gesicht; die Kapitäne wurden angeklagt, nicht genug für die Rettung der Ertrunkenen getan zu haben. Das Volk als Haufen Privatleute, die nur an den Tod ihrer Angehörigen dachten, pöbelte sie an. Ohne ein Gericht zu bilden, verurteilte man die Kapitäne zum Tode und richtete sie hin. Unter ihnen befand sich auch — welche Delikatesse — der junge Perikles, Sohn der Aspasia. Es war ein Tag wie unter Robespierre.
Eine einzige Stimme hat sich damals gegen den Plebs zu erheben gewagt: Sokrates, in jenen Tagen zufällig Prytane, turnusmäßiger »Regierungsrat«. Man hat ihn mit dem Ruf, das Volk sei die höchste Instanz und an keine Gesetze gebunden, niedergeschrien.
Während des ganzen nächsten Jahres waren die athenischen Schiffe zu keinem anderen Zweck unterwegs, als auf Kreuz- und Querfahrten in kleinen ionischen Küstenorten zu morden und zu plündern und mit dem erbeuteten Geld und mit Nahrungsmitteln daheim die zweihunderttausend Mäuler zu stopfen. Im August (405) kamen plötzlich die Getreideschiffe aus dem Hellespont nicht mehr an. Hochnervös jagte Admiral Konon mit sämtlichen hundertachtzig Kriegsschiffen hinauf.
Er traute seinen Augen nicht, als er ankam! Da lag eine spartanische Flotte und sperrte die Meerenge.
Ja, da waren die Stehaufmännchen wieder. Tag und Nacht hatten die Werften gearbeitet; es war die letzte Anstrengung, der letzte Jeton, den Sparta noch setzen konnte. Die Hoffnung ruhte auf zwei Augen, die jetzt von Bord des Admiralsschiffes die Ankunft der Athener lauernd beobachteten: auf Lysander. Es wird ewig unklar bleiben, ob die Ephoren, als sie ihn hierher an das »Ende der Welt« schickten, gewußt haben, daß sie einen jungen Gott entdeckt hatten, einen jugendlichen Gott von jener Art, wie Zeus sie gelegentlich auf Reisen »schuf« und dann gleich in Pension auf Erden ließ, ein etwas unheimliches Schlüsselkind. Lysander war in vieler Beziehung die Übersetzung des Alkibiades ins Spartanische: mit den Göttern auf verwandtschaftlichem Fuße, egozentrisch, rücksichtslos, schwindelfrei, im ganzen eine unwirkliche Erscheinung, ein Gast unter den Menschen. Was ihm fehlte, war die Alkmaionidenperfidie, die Spielerleidenschaft, der Zynismus; was er vor Alkibiades voraus hatte, war seine Hingabe an den spartanischen Kosmos und sein archaischer Geist. Sparta hat ihm später tatsächlich Altäre erbaut. Er war der eine, der Ersehnte, der den Peloponnesischen Krieg beendete. Wir stehen gerade davor.
Diese letzte Schlacht, »an den Ziegenflüssen« (Aigospotamoi), die eigentlich gar keine Schlacht, sondern eine überdimensionale, befreiende Ohrfeige des Schicksals war, nahm einen Verlauf, wie ihn ein Odysseus nur in seiner besten Stunde erlogen hätte.
Die Athener legten sich Lysander gegenüber an das thrakische Ufer nahe der Einmündung der »Ziegenflüsse«. Man blieb in Alarm, denn in die Spartaner war Bewegung gekommen. Ihre Schiffe fuhren in Kampfordnung auf. Alles spielte sich greifbar nahe vor den Augen ab; die Entfernung betrug nur ein paar Bogenschüsse.
Aber Lysander, unbelastet von jeglicher Kenntnis klassischer Seekriegführung, ließ es damit, entgegen allen Regeln der Kunst, genug sein.
Am nächsten Tage rauschten die spartanischen Schiffe abermals in Schlachtreihe auf. Konon gab Alarm, aber wieder geschah nichts. Die Athener versuchten zu locken; sie rutschten etwas näher heran — Lysander rührte sich nicht. Bei Sonnenuntergang gingen alle wieder schlafen.
Das Manöver wiederholte sich am dritten Tage mit stupider Eintönigkeit. Konon bot abermals die Schlacht an, Lysander reagierte nicht.
Die Athener, bereits von unwiderstehlichem Lachreiz gekitzelt, zogen sich zur Küste zurück. Die Kommandanten gingen an Land — keine Provokation schien die Spartaner reizen zu können.
An diesem Tage näherte sich vom Landinnern her ein Reiter. Er hielt in einiger Entfernung des athenischen Lagers und musterte das Bild, dann ritt er vollends heran. Es war Alkibiades.
Er kam wie ein Nachbar zu Besuch. Die Kommandanten, unschlüssig, wie man sich in einem solchen Falle benimmt, sahen ihm schweigend entgegen.
Er war, wie früher, von freundlich-leichtfertiger Art und sprach sie ohne Verlegenheit an. Er deutete in die Runde und meinte, das sei eine schlechte Kampfposition. Er zählte den Herren die Fehler und Mängel auf und gab den Rat, etwas weiter südlich zu gehen und ihrerseits die Meerenge zu sperren. Als er ihnen mit milder Stimme versicherte, daß hier überhaupt nur einer, nämlich er, siegen könne, fanden die Kommandanten die Sprache wieder und forderten ihn auf, das Lager zu verlassen. Das tat er. Wie er gekommen war, ritt er davon.
Der fünfte Tag brach an, die spartanische Flotte gab ihre gewohnte Galavorstellung; Konon bot, wie gewohnt, den Kampf an, Lysander lehnte, gleichfalls wie gewohnt, ab. Die Athener, keineswegs geneigt, dem anscheinend unfähigen Gegner die Initiative abzunehmen, kehrten zum Ufer zurück. Wie es sich für regierende Volksgenossen gehörte, war die Disziplin bereits im Schwinden; die Alarmbereitschaft wurde als Witz aufgefaßt, es schien das Natürlichste von der Welt, die Posten zu verlassen und sich an Land die Beine zu vertreten. In diesem Augenblick griff Lysander an! Die Segel flogen auf den spartanischen Schiffen hoch, die Ruderreihen rauschten, im Nu waren die paar hundert Meter durchfahren. Die Athener, von Entsetzen gelähmt, sahen zu, wie ihre unbemannten Trieren geentert, wie die Wachen niedergemacht, wie an den Flügeln Truppen gelandet wurden und der Ring sich schloß. Zeus hatte das endgültige Urteil gesprochen.
120 Schiffe fielen unversehrt in die Hand der Spartaner, 52 wurden in Grund gebohrt, 8 entkamen, auf einem davon befand sich Admiral Konon, der »Petzer«. Dreitausend Athener überlebten den Kampf und gerieten in Gefangenschaft. Lysander ließ sie noch an Ort und Stelle hinrichten, zur Vergeltung für die athenischen Grausamkeiten in Ionien. Der Peloponnesische Krieg war beendet. Hilflos, ohnmächtig zur See und zu Lande, lag der einstige Koloß Athen da und erwartete mit Bangen den Sieger.
Ende April 404, während König Agis mit dem Heer gegen die Tore der Stadt vorrückte, fuhr Lysander in den leeren Piräus ein. Das Friedensdiktat Spartas fiel maßvoll aus. Korinth und Theben, die beiden unversöhnlichen Hasser, forderten die Vernichtung Athens zu Staub und Asche. Sparta, das böse, harte Sparta, gedachte der Thermopylen und Platääs, es sah die strahlende Akropolis, es erinnerte sich des Leuchtens, des Blühens der Stadt, an Pheidias, Aischylos und Sophokles und brachte es nicht fertig, Athen von der Erde verschwinden zu lassen.
Es sah auch in die Augen dieses jämmerlichen Plebs, dessen letzte Großtat noch die Hinrichtung ihres Robespierre, des Klempners Kleophon, gewesen war; es sah nichts als Todesangst. Da schenkte es ihm das Leben.
Die einzigen Forderungen waren: Schleifung aller Mauern, Rückgabe alles erpreßten Besitzes, Aufgabe aller fremden Territorien, Abschluß eines Gefolgschaftspaktes mit Sparta, Besetzung der Akropolis.
Ein Jubeltag für die halbe griechische Welt! Erst spätere Zeiten sahen ein, daß sich in diesem Kriege nicht nur Athen zugrunde gerichtet hatte, sondern eine ganze Schöpfung: die griechische Polis.
Sparta war nach 27jährigem Ringen der Sieger. Hatte es für die Zukunft eine bessere Idee?
Gibt es Sieger, die eine haben?