Die Geschichte des klassischen Hellas beginnt!

Ein feierlicher Satz; aber er kann gar nicht feierlich genug sein.

Es gibt viele Beginne: mit dem Lärm und Gerassel einer Schlacht, mit der Fanfare eines Sieges, mit den dumpfen Trommeln einer Niederlage, mit dem Federstrich eines Königs oder dem Wutausbruch eines Kaisers. Es gibt Beginne aus dem Einzelnen und aus der Masse, und seit dem 20. Jahrhundert auch aus dem Brei. Immer aber, wenn man den Scheinwerfer auf den Ausgangspunkt richtet, sieht man das gleiche Bild: Kampf, Tod, Zerstörung. Es ist, als ob die Archäologie »Leben« nicht anders beweisen könne als durch Rückschlüsse: Wer auf dem Soldatenfriedhof liegt, muß einmal gelebt haben.

Ganz anders beginnt Griechenlands klassische Zeit. Sie beginnt mit einem Mann, auf dessen Leben Sie den Scheinwerferstrahl, wohin auch immer, richten können, ohne daß Sie erbleichen oder er erröten müßten. Sie werden zugeben, daß das fast ein Wunder ist. Ich kenne nur zwei Menschen der alten Welt, bei denen das zutrifft: ihn und Otto den Großen.

Ich könnte Ihnen nun einfach seinen Namen nennen. Das würde bei Ihnen etwas auslösen, was die Psychologen sehr treffend den »Aha-Moment« nennen. Es würde Ihnen alles einfallen, was Sie auf der Schule gelernt haben; und da sei Gott vor.

Der Mann, von dem wir sprechen, war Athener. Athen war damals, im Jahre 593 v. Chr., noch nicht die glänzende, große, lichte Stadt. Sie ist um diese Zeit zwar schon die beherrschende von Attika, aber das ist kein großes Kunststück; das Hinterland ist arm. Ein paar tausend wehrfähige Männer, ein paar tausend fast unsichtbar in den Häusern lebende Frauen und einige tausend Hörige und Sklaven wohnen innerhalb der Mauern, die sich wie ein verbeulter Kreis um die Akropolis ziehen. In zehn Minuten durchwandert man Athen von einem Ende zum anderen. Athen hat eine Patrizier-Regierung, es hat keinen König, keinen Kaiser, keinen Diktator, keinen Fürsten, keinen Heiligen, das heißt also — da dies die einzigen wären, die mit der Welt Versteck zu spielen pflegen — , jeder Mann ist irgendwann einmal auf der Straße. Man bekommt jeden zu sehen, und es ist gar keine Schwierigkeit, dem Manne zu begegnen, von dem wir sprechen.

Er geht zum Beispiel jetzt, am Spätnachmittag, über die Agora, den Marktplatz; er ist von einem zahmen Wiesel begleitet, das alle zehn Schritte auf die Schulter seines Herrn springt, wenn es vor den zottigen Pelzen der fremden Bauern erschrickt oder wenn ein Molosser-Hund seinen großen Schädel aus einem Hauseingang streckt. Diese Häuser sind schlicht, auch wenn einige schon marmorverkleidet sind, denn Marmor ist billig; die Wände sehen von der Straße aus wie überdachte Mauern, denn fast alle Fensteröffnungen gehen auf einen Innenhof oder ein Gärtchen. Am Kerameikos-Markt, wo die berühmten athenischen Export-Töpfer sitzen und das Menschengewühl groß ist, haben die Häuser natürlich ein anderes Gesicht; es sind Fachwerkhäuschen, hundert Drachmen das Stück.

Der Mann mit seinem Wiesel überquert den Kerameikos und wendet sich dem Villenviertel zu. Die Akropolis, auf der noch keiner der späteren Tempel steht, sondern eine düstere, zyklopische Festung, liegt in der Abendsonne. Es ist Zeit zur Hauptmahlzeit. Der Mann schlägt mit einer schönen Geste das faltige weiße Manteltuch enger um die Schultern und tritt vor ein reliefgeschmücktes Tor. Das Wiesel ist mit einem schnellen Satz über die Mauer. Der Mann erwidert den Gruß Vorübergehender und sieht lange einem Knaben nach, der mit sehnigen hohen Beinen das Gäßdien hinuntergeht, auf dem Wollkopf einen Korb balancierend, eine Weidenflöte spielend und sich ab und zu nach dem am Tore Wartenden umschauend. Bevor er um die Straßenecke biegt, wirft er noch einmal einen ehrfürchtigen Blick zurück. Der Mann am Tor betätigt nun den bronzenen Klopfer, während er mit krauser Nase den Duft von würzig gekochten Aalen einsaugt und auf einen Klang horcht, der aus dem Mageireion, der Küche seines Hauses, kommt und den er liebt: Eine Sklavin schlägt Schlagsahne. Dann öffnet man die Tür; nicht der Diener ist es wie sonst, sondern die Herrin des Hauses selbst, und sie sagt: »Grüß dich, Solon!«

Sie glauben es nicht? Ich ahnte es. Ich hätte sagen müssen: »Bei Zeus! Du bist es? Tritt ein, o Solon, mein Gemahl!« denn, so haben Sie gelernt, die alten Griechen waren klassisch, und klassisch ist getragen, hoheitsvoll, fremdartig, priesterlich, denkmalshaft.

Ich weiß nicht, wer diese irrsinnige Meinung zum erstenmal aufgebracht hat; anscheinend waren sich alle einig. Seit Goethes »Iphigenie«, seit Winckelmann und seit dem Auffinden der griechischen Plastiken hat man die Menschen des alten Hellas zu überirdischen Wesen gemacht, denen die Banalitäten des Alltags offenbar gänzlich unbekannt waren. Da gibt es niemanden, der niest, niemand hat einen hohlen Zahn, niemand juckt sich, niemand ist häßlich, oder wenn doch, dann ist diese Tatsache eine solche Sensation wie bei Sokrates; kein Schuster flucht; kein Bäcker schwitzt; man ißt nicht, man schmaust; man geht nicht, man schreitet; man schnarcht nicht, man ruht; nie ist ein Kamin verstopft, nie zählt jemand sein Kleingeld, nie bekommt jemand eine Ohrfeige. Alle wohnen zwischen Säulen, entzünden Feuer oder tragen als Selbstzweck Dramenrollen in der Hand, und abends sitzen sie wie Feuerbachs »Medea« am Meer und überwinden eine große Blutschuld.

Wie konnte man Griechenland so mißverstehen! Was hatte man von diesem gespenstischen, versteinerten Wunderland? Wie konnte man vergessen, daß Goethes »Iphigenie« die Dichtung eines Mannes war, der längst nicht mehr, wie einst in seiner Jugendzeit, die Welt der Wirklichkeit zeigen wollte, sondern eine verklärte Welt? Wie konnte man die Hymne »Iphigenie« für ein Abbild des griechischen Alltags halten? Wie kam man nur auf den Gedanken, in Praxiteles einen Photographen und in seinen Gestalten die Norm jener Menschen zu sehen? Wie konnte man aus jedem Kleiderfetzen, aus dem simplen Chiton-Hemd, aus dem harmlosen kleinen Mantel oder dem einfachen rechteckigen Himation-Tuch ein geheimnisvolles Kunstwerk machen? Wie konnte man in dem spaßigen, friedlichen Symposion ein olympisches Gelage sehen? Wer übersetzte den alten griechischen Gruß Χαίρε mit »O freue dich«? Das ist wahrhaft bodenlos; er heißt »Grüß dich« und »Guten Tag«.

Aber, meine Freunde, werden Sie es vertragen, daß ich Ihnen das klassische Hellas so profaniere? Ich kann Ihnen als Ersatz dafür nicht mehr bieten, als die totäugigen Marmorbüsten zum Leben zu erwecken. Ich will dem Marmor die Farben zurückgeben, mit denen er einst wirklich bemalt war.

Solon, meine Freunde, war also ein Mensch aus Fleisch und Blut, der Knabe mit dem Korb war aus Fleisch und Blut, die Wiesel waren die Hauskatzen Athens, und Schlagsahne hieß άϕρόγαλα, Schaumblasenmilch. Die Bauern brachten die Milch morgens auf ihren Karren nach Athen, man konnte die braungebrannten Gestalten schon an ihrer obligatorischen Kleidung erkennen, an dem dürftigen Lendenschurz und dem Fell, das sie als »vom Lande« kennzeichnen sollte; die Bauern und Fuhrknechte waren auch die einzigen, die immer und ewig ihre speckige Filzkappe auf dem Kopf hatten.

So sah man sie mit Sonnenaufgang von den Gehöften aufbrechen, im Magen nichts als etwas Brot, in Wein getaucht, im Mund unter der Zunge einen kupfernen Obolos, den Notgroschen »für alle Fälle«, und im Herzen Sorge, denn die Zeit war schwer. Auf den Feldern, wo der Weizen unter Weinreben und Feigenbäumen sich mühsam durch die ausgetrocknete, brüchige Erde zwängte, standen oft, so weit das Auge reichte, steinerne Tafeln, die »Schuldsteine«, und sie vermehrten sich von Jahr zu Jahr; bald würden die Bauern ihr Land ganz los und die athenischen Patrizier die Herren Attikas sein. Die Stadt zahlte Schleuderpreise, im Hafen lagen die Handelsschiffe dicht an dicht am Kai und schütteten, was das Ausland anbot, in die Stadt, die Bauern kamen nicht nach, die Hypotheken kosteten zwölf Prozent und machten, wenn sie Haus und Hof geschluckt hatten, auch vor den Menschen nicht halt: Der Gläubiger konnte sie zu Sklaven machen — ein Wort, das viele Bauern nicht mehr schreckte. Sklaven hatten es gut; es war noch keiner verhungert. Wenn man nur nicht in die Fremde verkauft wurde...

Eine böse Zeit. Selbst Pan hatte keinen Spaß mehr, und nur noch selten und in abgelegenen Gegenden erschien er um die Mittagsstunde (die griechische »Geisterstunde«) bocksbeinig und mit Spitzohren dem einsamen Hirten, um ihn zu erschrecken und seinen Schabernack zu treiben.

So zogen die Bauern mit ihren zweirädrigen Karren, bepackt mit tönernen Milchgefäßen, Käseballen und Olivenöl-Krügen (Butter aß man nicht) auf den holprigen Wegen zur Stadt. Äcker, Weinhänge und steinige Olivenplantagen wechselten mit weiten Strecken voll niedrigem Gehölz, von Hunderten von Ziegenherden kahlgefressen. Nordwärts, auf den Bergen, standen noch Bäume, ein dünner, lichter Nadelwald, der der Sippe des Atheners Krissos gehörte (oder wie immer er hieß). Dort lagen auch seine Kohlenmeiler. Und was nicht Krissos gehörte, gehörte den Medontiden (von denen auch Solon stammte), die das Holz für die staatlichen Werften lieferten und das Harz, mit dem die Weinkellereien den griechischen Wein verharzten. Alle Koniferenwälder bluteten; eines Tages würden sie sterben und Griechenland kahl sein und die Schrate und Nymphen verschwunden.

Je näher man der Stadt kam, desto lebhafter wurde es. Junge Athener machten auf gestriegelten und geputzten thessalischen Pferden ihren Morgenritt, den kleinen Mantel um die Hüften, nackt auf den Tieren sitzend; oder sie drehten auf der südlichen Pnyxstraße, die zum Meer führte, mit ihren Rennwagen Trainingsrunden. Herrlich sahen sie aus, die Jungen, wenn sie die Pferde zügelten und sich wie ein gespannter Bogen weit zurüdkbeugten, die Arme wie Pfeile vorgestreckt, die schlanken Schenkel zitternd vor Erregung im verspielten Kampf mit den Tieren. Dann rollte ein Zug von Wagen vorüber, der die athenischen Töpferwaren zu den Schiffen brachte. Die Krüge, Schüsseln und Amphoren, bemalt und farbig gebrannt, sahen aus dem Stroh heraus, herrliche Stücke; vielleicht gehörten sie Lykedamis, dem reichen Exporteur, oder den Alkmaioniden, von denen niemand wußte, was sie alles im geheimen besaßen, obwohl sie seit ihrem Eidbruch und Frevel am Athene-Tempel verbannt waren. Die Götter, dachte der Bauer, mögen mich schützen, einem von ihnen je zu begegnen, sicherlich tragen sie das Zeichen der Erinnyen, der Rachegeister, auf der Stirn. Einmal aber, wenn der Fluch gelöst sein wird, werden sie zurückkommen, vornehme, stolze Herren, und die Zeit wird noch schwerer werden.

Jetzt tauchten die Stadtmauern auf. Ein blauer Teppich begleitete die Straße rechts und links bis zum Tor; es waren die berühmten athenischen Veilchenfelder, schattige Plantagen; im Süden und Osten Veilchen, im Norden Rosen und Krokus; der Duft zog sich, wenn sich ein Windhauch erhob, wie ein Ring um Athen.

Noch ganz trunken von dem Anblick und voll von dem Duft, den man so liebte, schreckte unseren kleinen Bauern, sobald er in das Gewirr der Kleine-Leute-Straßen eintrat, der vertraute Ruf auf: »Obacht!« und ein Bottich voll Schmutzwasser und Unrat ergoß sich in den Gassenrand. Zugleich entwischten durch die offene Tür zwei feiste Schweinchen, wie sie viele Athener noch mitten in der Stadt hielten. Die ganze Straße rannte den Ferkeln nach; der Schuster, der im offenen Torbogen gehämmert hatte, ergriff den Lederhaken, der Schneider sprang von seinem Dreibein, auf dem er seine Straßenwerkstatt betrieb, und schwang die Maßschnur, der Färber versuchte mit seinen safrangelben Händen die Sterze zu erwischen; da tauchte im richtigen Augenblick die Mannschaft der Straßenreinigung auf und drosch mit ihren Besen die Tiere in den Stall zurück.

In der Seitengasse lag die große Färberei, die Krissos gehörte. Ein reicher Mann, dieser Krissos, ein glücklicher Mann; welche Farbenpracht konnte er täglich sehen, und wer hinderte ihn, sich alle Gewänder purpurn färben zu lassen, was sich sicher nur die Götter leisten konnten.

Purpur, ach, Purpur, die Leidenschaft eines ganzen Volkes! Alljährlich kaufte Athen von den phokischen Fischern Millionen von Purpurschnecken, denn so wie eine Muschel nur eine Perle, so schenkte jede Schnecke nur einen Tropfen der glühenden Farbe.

Die Bauern blieben stehen, wenn sie vorüberkamen, und bewunderten die zum Trocknen aufgehängten Stoffe, diese Träume von zartestem gelbem Hauch über Grün und Blau bis zum homerischen »Purpur der Nacht«. Ihr Götter, war das Leben schön!

Und vielleicht gelang es, das drohende Schicksal der Knechtschaft noch einmal abzuwenden.

Wenn der Karren abgeladen, wenn Milch, Käse und öl abgeliefert waren, dann konnte man, ehe man zurückfuhr, noch einen Sprung auf den Markt machen. Jetzt war die Stunde, zu der Athen einkaufte. Da kamen die Haushofmeister mit ihren Sklaven und die Männer aus dem einfachen Volk, die ihr Zickel- und Schweinefleisch, das kleine Stück gepökelten Thunfisch und die Feigen im Mantelzipfel selbst nach Hause trugen. Wie viele Mäuler mußten in manchen Häusern sein! Da gab es Hofmeister, die kauften zehn Weizenbrote, fünf Käse, drei Wasserhühner, drei Hasenpfeffer mit Gewürzen, fünfundzwanzig Knackwürste, einen Beutel Erbsen und drei Krüge Wein! Ja, die Stadt, man konnte nur staunen. Aale aus Böotien, Honig aus Phokis, Pferde aus Thessalien, Marmor aus Paros, Holz aus Makedonien, Liebeslieder aus Lesbos:

Die du thronst auf Blumen, du schaumgeborene Tochter des Zeus, ach, wenn du mich doch fragtest: Was beklemmt deine Brust, wen soll ich ins Netz dir schmeicheln, welchem Liebling schmelzen den Sinn?

— Sappho! Daß eine Frau so etwas dichten konnte! Vielleicht war sie Athene oder Artemis selbst.

...wen soll ich ins Netz dir schmeicheln? Wie schön diese Worte! Ach, du schaumgeborene Tochter des Zeus, den Knaben dort drüben, wenn es dir recht ist! Er sieht dem Treiben zu, als sei er der Herr dieser Menschen. Wenn man nicht wüßte, daß er Peisistratos heißt, aus der Familie des Nestor stammt und der Geliebte Solons ist, könnte man ihn für einen Gott halten.

Leb wohl, junger Apoll, ich muß zurück zu meinem Karren! Wenigstens haben meine Augen dich verschlungen. Bringe Solon Glück, damit auch er uns Glück bringt. Ganz Attika denkt in diesen Tagen an ihn.

Ganz Attika dachte in diesen Tagen an Solon.

Der athenische Bürger Solon war zu diesem Zeitpunkt 47 Jahre alt. Stellen Sie sich einen Mann vor wie — ersdhrecken Sie jetzt nicht über die hautnahe Wirklichkeit — einen Mann wie Ernst Jünger, zu weise, um noch Ambitionen zu haben, ein Ikarus im Gehäuse, Pour-le-mérite-Träger und Dichter. Stellen Sie sich, wenn Sie können, vor, daß ein ganzes Volk, Feudal-Adel und Industriekapitäne, Landjunker, Bankiers, Kaufleute, Handwerker, Beamte und Arbeiter zu diesem Mann kommen und ihr Schicksal ohne Bedingung in seine Hände legen — und Sie werden ermessen, welche Größe beide Partner, der eine wie der andere, besaßen; wenigstens einen entscheidenden Augenblick lang.

Im Jahre 594 berief man Solon zum Archonten, zum Regenten, und beauftragte ihn — ja, womit? Die Philologen pflegen sich anzuschauen, was Solon gemacht hat, und schließen daraus, daß es genau das war, was er machen sollte. Also Gesetze.

Das ist ein Musterbeispiel von steriler Geschichtsbetrachtung. Der Kurzschluß ist verblüffend!

Wahr ist vielmehr, daß kein Athener eine Vorstellung hatte, was überhaupt zu tun sei. Nicht, daß der Staat vor dem Ruin stand; wie hätte das damals aussehen sollen? Nein, die Griechen waren noch gesund genug, den Alarm viel früher zu spüren: Das Handwerk starb erschreckend ab, die Rechtsprechung versagte, das Geld ballte sich so einseitig zusammen, daß es fast nicht mehr umlief, die Bauern verarmten, die Söhne wanderten aus — die Gemeinschaft war nicht mehr liebenswert, der Staat war verächtlich. Nicht verbrecherisch und nicht bankrott: Er war einfach eine Fehlkonstruktion. Als die Athener zu Solon gingen und ihm die Blanko-Unterschrift des ganzen Volkes überbrachten, machten sie die Augen fest zu und warteten auf den Knall, der kommen würde. Es ist möglich, daß man sogar so weit gehen kann zu sagen: Solon hätte sich zum König machen können. Man kann gar nicht genug Spannung und Dramatik in den Moment legen, in dem Solon den Schwur Athens entgegennahm.

Nicht weniger erstaunlich ist die Haltung der alten reichen Familien, der sogenannten Eupatriden, der »Männer mit guten Vätern«. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß sie, die in wenigen Generationen fast das ganze Land Attika mitsamt dem toten und lebenden bäuerlichen und handwerklichen Inventar verschlungen hatten, genug Söldnermacht besessen hätten, die gärenden Unruhen niederzuschlagen. Auch die Gegnerschaft untereinander ist da kein Hindernis; wir wissen: Trusts einigen sich schnell. Wenn die Eupatriden dennoch nicht zum Schwert griffen, sondern die Hände sinken ließen, so beruhte das auf einer Liebe zum Staatsleben, wie sie heute ausgestorben ist. Zehn große Familien und der Rest Sklaven — welchen Konzernpräsidenten würde das heute schrecken? Haha, das wäre ein Fressen, meine Herren, was? Das Leben als Lohnbuchhalter und Bachs Kunst der Fuge auf der Registrierkasse — sind das Aspekte?

Athen erwartete von Solon, daß er den Staat vor diesem Kältetod bewahren würde.

Solon war aus altem Geschlecht und reich, er war Truppenführer gewesen und siegreich heimgekehrt, und er war ein gefeierter Dichter. In Hunderten von Elegien hatte er, etwa wie Walther von der Vogelweide, seine Zeit angeklagt. Man zitierte seine Verse auf der Straße, man kannte sie auswendig.

Nach den Versen sollte er nun Geschichte schreiben.

Was er beschloß, war von jener Einfachheit, wie sie allergrößte Staatsmänner und allergrößte Dilettanten gemeinsam haben.

Er verkündete als erstes die Aufhebung aller auf Arbeit, auf Grund und Boden und auf Leibeigenschaft gemachten Schulden und verbot für alle Zukunft das Beleihen des Körpers. Alle in Leibeigenschaft Geratenen waren sofort freizulassen, alle ins Ausland Verkauften auf Staatskosten sofort zurückzuholen.

Die Eupatriden waren über Nacht um Millionen ärmer geworden; sie nahmen den Schlag hin, ohne mit der Wimper zu zucken. Das zweite Gesetz verordnete eine Währungsreform und eine Normung der Maße und Gewichte.

Das dritte entmachtete den Familientrust. Jeder, der kinderlos war, konnte seinen Besitz jetzt testamentarisch ohne Rücksicht auf andere Verwandte jedem beliebigen Bürger vererben. Und jeder, der Kenntnis von einem Unrecht hatte, konnte Anzeige erstatten, auch wenn der Kreis der Betroffenen sich einig war und selbst keine Klage erhoben hätte.

Das vierte Gesetz verbot den Export aller Bodenprodukte, die lebenswichtig, aber zu knapp waren.

Ein anderes Gesetz galt der Förderung des rapide aussterbenden Handwerks. Interessanterweise versuchte Solon hier gar nicht erst, etwas zu befehlen, sondern er setzte einfach die Eltern unter Druck. Niemand sollte im Alter und in der Not Anspruch auf Unterstützung durch die Söhne haben, wenn er es nicht für nötig befunden hatte, sie in der Jugend ein Handwerk lernen zu lassen.

Schon diese Gesetze greifen zum Teil in den Bereich der Verfassung über; nun aber folgten zwei, die an den Nerv der Staatskonstruktion gingen. Solon schuf einen »Rat der 400« - aus dem Volk durch das Los bestimmt — , eine Art Unterhaus als Gegengewicht gegen den seit alter Zeit bestehenden »Areopag«, das bisher allein rechtsprechende und aufsichtführende Oberhaus der Eupatriden. Ferner setzte er fest, daß über Krieg und Frieden und über die Berufung der höchsten Staatsbeamten die Versammlung des gesamten Volkes zu entscheiden habe. Noch einmal kommt hier Solons große Menschenkenntnis und zugleich seine Bitternis zum Ausdruck: Das Gesetz verlangte bei Volksentscheidungen, daß jeder Bürger sich klar und eindeutig auf eine Seite stellen und zum Ja oder Nein bekennen sollte. Wer es nicht tat, verlor das Bürgerrecht.

Es war die Geburtsstunde des demokratischen Bewußtseins.

Ich möchte fast behaupten, daß die Schaffung dieses Bewußtseins und das Haltmachen einen Schritt vor der tatsächlichen Demokratie Solons größte Leistung als Staatsmann war.

Die Mauer, durch die die Griechen vor diesem utopischen Schritt bewahrt werden sollten, schuf er in einem neuen Grundgesetz:

Vor der Volksversammlung und vor dem Volksgericht waren alle Bürger gleich; ging es aber um das Staatswesen, so schien es Solon unbedingt nötig, die Stimmen derer, die »nichts zu verlieren« hatten, auszuschalten. Solon faßte Athen zum erstenmal als eine Art Liegenschaft oder als Aktiengesellschaft auf. Er teilte die Aktionäre nach der Größe ihrer Aktienpakete in drei Gruppen ein, in die sogenannten 500-Scheffler (Boden- oder Geldertrag pro Jahr), die 300-Scheffler und die 200-Scheffler. In dieser Abstufung und ohne Rücksicht auf Adel und Herkunft waren ihnen die entscheidenden Staatsämter vorbehalten. Wer weniger verdiente, also vielleicht gerade seinen Lebensunterhalt, hatte sich als ein »Bürger ohne Kaution« zu bescheiden. So schätzte Solon das Wesen eines Stadtstaates ein. Und so schätzte er die Griechen ein. Sein Gedanke ist als eine der möglichen Ordnungsprinzipien in der Welt bestehen geblieben — offen oder geheim.

593 war das Werk Solons vollendet. Die Gesetze wurden auf drehbare Tafeln geschrieben, die Grundgesetze in die steinernen Säulen der alten Königshalle eingemeißelt.

Eines Tages war es so weit. Die Sonne Homers stand über Athen, ein Meer von Menschen auf der Agora, ein Mann in den feierlich purpurnen Himation gekleidet, vor der Säulenhalle, Χαίρε, Σόλωυ! (Chaire, Solon!)

Das Volk hob die Hand zum Schwur.

Es gelobte, niemals einen Buchstaben an dieser Verfassung zu ändern, ohne Solon gefragt zu haben.

Ein großer Augenblick.

Fürwahr! Der größere aber, der unvergleichlich größere, kam erst jetzt: Solon ging nach Hause, packte die Koffer und verließ, um nicht gefragt werden zu können, Athen.

Und hier nun, meine Freunde, wollen wir uns nicht länger beherrschen, sondern gestehen, daß uns der blasse Neid packt. Nicht jede Zeit — das wissen wir — kann einen Solon haben, aber jede Zeit hat Koffer.

Rosen für Apoll
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