Von der Aufklärung bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts hielt man Homer überhaupt nicht für eine historische Gestalt. Sie dürfen mich nicht fragen, warum. Man hatte keine Lust. Obwohl das gesamte Altertum an der Existenz des Dichters nie gezweifelt hatte, schien er den Philologen neuerdings ganz unwahrscheinlich. Das Werk war ihnen zu umfassend, zu enzyklopädisch; der Mann zu groß. Er lag zu früh, um diese Vollendung zu haben; aber um das Kolorit der Vorzeit so gut zu kennen, lag er zu spät. Am besten, er lag gar nicht. Zweifellos — schloß man — war die Ilias weiter nichts als eine Zusammenfassung von alten Sagen, der Name Homer überhaupt nur das Ur-Wort für »Dichter«, und die Odyssee das Werk späterer Generationen, höfischer »Homeriden«, wie sie in der Nachfolge Homers in Kleinasien ja auch wirklich gelebt haben. Der Märchen-Charakter der Odyssee schien offenkundig, die Gestalten und Geschehnisse der Ilias waren zweifellos ebenso fromme Sagen.
Ein junger Mann namens Heinrich Schliemann glaubte das nicht. Nun haben Universitätsprofessoren in höherem Maße als alle anderen Menschen, ausgenommen Politiker, die Eigenschaft, keine Notiz von der Meinung anderer zu nehmen, wieder ausgenommen derer, die der gleichen Meinung sind. Hier lag nun der Fall besonders einfach, und zwar zweifach einfach: Schliemann war ein simpler Kaufmannslehrling, und er sagte nicht laut, was er dachte.
Dem jungen Schliemann blieb nur ein Weg übrig: sehr reich zu werden und Griechisch wie seine Muttersprache zu erlernen. Diese Kleinigkeit beschloß er.
Als er beides erreicht hatte, machte er sich zur griechischen Küste Kleinasiens auf, wo Troja gelegen haben sollte. Der Schutthügel von Hissarlik fiel ihm in die Augen; 1870 begann er zu graben. Er grub jahrelang, und Frau Schliemann, eine schöne junge Griechin, setzte sich ins Gras und sah zu. Vor ihren Augen geschah das Wunder, das ihrem Volke Homer wiederschenkte: Aus dem Hügel kam Troja heraus.
Schliemann fand mehrere übereinanderliegende Trümmerschichten einer immer wieder zerstörten und aufs neue aufgebauten Stadt, Schichten, die sich nach den Funden auf die Zeit von 500 vor Christus bis zurück zu 2500 vor Christus bestimmen ließen, darunter ein Troja, das in der mykenischen Zeit zugrunde gegangen war. Kein Zweifel: An diesem Gestade hatte Odysseus gestanden, hatte Hektor gekämpft und Achill sein Leben hingegeben. Hier hatten die »dunklen Schiffe« gelegen, auf denen sich Apoll niederließ, um die Pest unter die Griechen zu schießen.
1876 fuhr Schliemann, getreu den Weisungen Homers, auf der Route Agamemnons zur Argolis auf das griechische Festland zurück, »heim«, wie es der König getan haben sollte. In der Argolis standen mancherlei Burgruinen, leer, kahl, längst durchforscht, Sand, Geröll, zyklopische Mauerreste, die nichts mehr verrieten: keinen Namen, kein Leben, keine Zeit.
Schliemann setzte in Mykene den Spaten an — und grub die alten Könige aus. Da lagen sie, mit goldenen Masken auf den Gesichtern, und einer von ihnen war vielleicht Agamemnon.
Auf Mykene folgte Tiryns, auf Tiryns Orchomenos, dann Ithaka, Amyklai und schließlich Kreta. Die Steine brachen ihr Schweigen, die Erde verriet endlich ihr Geheimnis. Das war der Triumph des Glaubens an Homer. Es ging so weit, daß man in der sogenannten 4. mykenischen Schachtgrube das genaue Gegenstück zu dem in der Ilias beschriebenen »Becher des Nestor« fand. Die Menschen, von denen Homer sang, waren also die Söhne und Enkel der Kreta-Zerstörer. Nun kannten wir sie, die Herren von Mykene, Ithaka und Amyklai: heroisch, wild, ohne Mitleid, maßlos, ruhm-manisch, gierig nach allem Glitzernden, hochfahrend, vor Wut weinend, in einem zornigen Bittverhältnis zu den Göttern, Arbeit verachtend, Krieger durch und durch, verfressen, aber hart, mit unendlichem Vergnügen am Schimpfen und Lachen, Höhnen und Witzeln. Menschen des Augenblicks, ohne Sinn für die Vergangenheit, ohne Ahnung von einer geschichtlichen Zukunft. Die Untertanen, das Volk, weit verstreut, lebte wahrscheinlich ziemlich sorglos und ohne Bedrückung in einfachen Hütten; die Fürsten in befestigten Höfen, vor denen noch die Misthaufen der Stallungen lagen; die »Könige« in Burgen. Mykene hatte jedoch keine Ähnlichkeit mit einer romantischen Ritterburg, Mykene und ebenso Tiryns waren Kasematten.
Und sie schmausten im schattigen Megaron, sagt Homer und denkt dabei an seine eigene, fortgeschrittene Zeit um 900. In Mykene war der schattige »Megaron« (der Rittersaal) ein bombensicherer, düsterer Bunker, in dessen Mitte ein Feuer brannte, an dem die immerwährenden Fressalien gebraten wurden, das Fleisch von Rindern, Schweinen, Schafen, Hasen, Wildenten, Gänsen und Bären (Fische waren ein Arme-Leute-Essen).
Die ständigen Kumpane dieser Gelage waren die Hunde. Sie sind für immer die Lieblinge und Freunde der Griechen geblieben, Jagdgenossen, Begleiter in den Kampf, Spielgefährten der Kinder. In Mykene hielt man nicht den Spitz, wie in Troja und Kreta, sondern den »Molosser«, eine riesige Dogge.
So saßen die Helden mit ihren Vierbeinern zusammen, hatten die goldenen Schüsseln vor sich, die sie in Kreta und Troja gestohlen hatten, klönten und ließen sich von fahrenden Sängern die eigenen Taten und die neuesten Nachrichten der anderen zur Kithara oder Harfe Vorsingen. Dann wurde ein bißchen der Streitwagen angeschirrt (Kreta kannte ihn nicht, er erscheint auf einem Grabrelief in Mykene zum erstenmal!) oder ein kleines Faustkämpfchen veranstaltet oder ein Bogenschießen oder ein Wettlauf, und wenn es ein festlicher Anlaß war, machte das ganze Getümmel des Volkes mit (vielleicht hundert Männer, Jünglinge und Hunde). Es wurde getanzt und Ball gespielt,
und sie nahmen sogleich den schönen Ball in die Hände,
welchen Polybos kunstvoll aus purpurner Wolle gewirket.
Einer schleuderte diesen empor zu den schattigen Wolken,
rückwärts wie eine Sehne gespannt. Der andere sprang hoch von der Erde,
sprang und fing ihn behende, eh’ sein Fuß den Boden berührte.
Andere klappten dazu im Kreise, es stieg ein lautes Getös auf.
Homer beschreibt es wie eine Vogelwiese, und es ist wahrscheinlich, daß auf dies und nichts anderes der Ursprung der Olympischen Spiele zurückgeht.
Jedoch warne ich Sie, diese Menschen zu primitiv zu sehen; sie hatten die Neugierde und die Aufnahmefähigkeit junger Völker! Und sie waren gerissen. Die Mykener bereits sind es gewesen, die die Eroberung der kleinasiatischen Küste, an der ja auch Troja lag, versuchten und, als das zunächst nicht gelang, überall Faktoreien anlegten und mit den Hethitern herumschacherten. An diese Seefahrten und Kämpfe, das ist klar, erinnert sich auch Homers Ilias.
»Nicht die Spur!« höre ich hier die Gräzisten aufschreien. Ach, meine Freunde, lassen Sie sich sagen, es soll schon wieder alles nicht wahr sein! Die Argumente der Herren sind die alten — das Staunen über Schliemann ist also schnell überwunden.
Man hat sich wieder gefangen.
Ich zeige Ihnen nun einmal, wie herzerfrischend komisch die Lage ist.
»Die Zerstörung Trojas«, sagt der alte berühmte Historiker Professor Beloch, »ist zwar eine historische Tatsache, die Sagen aber, die den Kern der Ilias bilden, haben mit der Stadt nicht das geringste zu tun. Zugrunde liegt ein uralter Mythos von dem Kampfe der Geister des Lichts mit den Wolkengeistern; damit verbunden ist der Mythos vom Raube der Mondgöttin Helena. Es ist ganz müßig, nach dem Verfasser der Epen zu fragen; unzählige Dichter haben an der Ilias und Odyssee mitgearbeitet.«
»Homer«, sagt der nicht minder berühmte Historiker Professor Berve, »Homer ist aus dem Kreis der vielen Sänger der Zeit hervorgegangen. Er war es, der die Ilias schuf, indem er mit souveräner Kraft den gewaltigen Sagenstoff zu einem einheitlichen Werk gestaltete, ihn menschlich wundersam vertiefte und so dem Lebensgefühl der ionischen Herren strahlenden Ausdruck verlieh. Ihm folgte, von gleichem Geiste und kaum geringerer Dichterkraft erfüllt, wenig später der Schöpfer der Odyssee, in der das Altertum ein Spätwerk Homers erblickte. Diese zwei Großen...«
»Wir glauben wieder an den Dichter«, sagt der gleichfalls berühmte Altphilologe Professor Schadewaldt, »die Analyse selbst hat diesen Glauben mehr und mehr erhärtet. Homer hat sich der Homer-Wissenschaft am Ende doch als Person erwiesen. Er war als Dichter ein genialer Mensch, aber die Größe seines Werkes erhob ihn geradezu zu geschichtlicher Macht. Homer stiftete den Griechen die geistige Welt. Was er diditete, war nichts Ausgedachtes. Aus alten Stoffen schuf er den Bau eines Groß-Epos — der Ilias. Und daß die Odyssee, das jüngere Epos, von letzter Hand eine geschlossene Einheit ist, kann nicht mehr bezweifelt werden.«
Die Lage ist, wie Sie nicht bestreiten können, einfach: Was Sie auch glauben, Sie haben auf jeden Fall Ihren Heiligen. Ich würde Ihnen jetzt gerne meine eigene Meinung sagen, wenn Sie es noch aushalten.
Ich frage: Ist es wohl glaubhaft, daß ein Volk, das jede Quelle mit Nymphen und jeden Baum und Strauch mit Satyrn beseelt und alle Kunstfertigkeit und alle Gaben des Lebens auf die Götter als Erfinder zurückführt — ist es glaubhaft, daß ein solches Volk für seine zwei meistbewunderten und heiligsten Werke, für die Ilias und die Odyssee, einen sterblichen Dichter erfindet, wenn diese Werke anonym waren? Mir scheint es unzweifelhaft, daß die alten Griechen die beiden Dichtungen ganz bestimmt einem Gott oder Heroen zugeschrieben haben würden, wenn sie nicht gewußt hätten, daß der Dichter gelebt hatte und Homer hieß. Die Zeit, in der er lebte und schrieb, war genau die Zeit, in der alle Welt zu schreiben begann. Es ist kein Zufall, daß damals auch in Palästina mit der Niederschrift der ersten Gesänge des Alten Testaments begonnen wurde. Die Ilias ist eine Verdichtung von mündlich (und sicher sehr verschieden) überlieferten Heldenepen aus der mykenischen Zeit. Historische Ereignisse sind da mit mythologischen Sagen vermischt. Viele Dinge, viele Redensarten und Formulierungen hat Homer bereits nicht mehr verstanden; aber er hat sie getreulich in seiner Ilias verwendet.
Odyssee-Überlieferungen jedoch hat es nicht gegeben! Ich neige zu der Ansicht, daß die Odyssee derjenige Teil ist, der ganz allein Homers Werk und vollständig seine Erfindung ist.
In der Ilias tritt der Dichter vor der Überlieferung zurück, in der Odyssee ist er ganz er selbst.
In der Ilias versucht er, die mykenische Welt zu rekonstruieren, und nur unfreiwillig unterlaufen ihm fortgesetzt Anachronismen, Modernisierungen. In der Odyssee steckt allein seine Zeit...
In der Ilias weint Achill ohnmächtig und zornig — typisch archaisch; in der Odyssee weint Homers Zeit: gerührt, weich, sehnsüchtig...
Achill ist Schamgefühl unbekannt; Odysseus schämt sich seiner Nacktheit bei den Phäaken...
Klytämnestra, Agamemnons Frau, ergibt sich den Freiern und läßt den heimkehrenden Mann ermorden; Penelope, Homers Erfindung, wartet auf Odysseus zwanzig Jahre...
Die Ilias, als Mosaik, ist lückenhaft, sprunghaft, nicht abgeschlossen als Geschichte; in der Odyssee — und das ist doch wohl ein sehr beachtlicher Punkt — holt Homer das alles nach, räumt auf (was Dichter-Generationen oder ein Fremder sicher nicht getan hätten) und schließt mit eigener Erfindung die Lücken.
Mit der Ilias schrieb er sich frei, er wagte den Schritt zum Schöpfer und dichtete die Odyssee. Verzeihen Sie mir das saloppe Wort: Es wird damals nicht anders gewesen sein, als es heute ist, man schickt seinem Bestseller einen zweiten nach.
Die schönste geistige Schöpfung Homers steckt nicht in der Ilias, natürlich nicht, sondern in seinem originalen Werk, in seiner Odyssee: Es ist die Erfindung und Inthronisierung der in der Philosophie und Geschichte so berühmt gewordenen »Sophrosyne« — der Besonnenheit. Mehr bedeutet das Wort nicht; aber der Augenblick, als Homer diese ethische Schönheit entdeckte, war ebensogroß wie der, als Jesus das Wort Nächstenliebe fand. Der in der Ilias noch wortgetreue Berichterstatter der wilden mykenischen Zeit setzte damit in seiner ureigenen Dichtung, der Odyssee, dem ganzen griechischen Mythos den Sordino auf.
Verzückt haben die Griechen dem Worte Sophrosyne gelauscht, in diesem schönen und für sie neuen Begriff, diesem weichen, auf der Zunge zergehenden Wort; daran gehalten haben sie sich nie.