Vergangene Religionen nachzuempfinden ist das schwierigste, was man sich denken kann. Ein spartanisches Schwert und ein athenisches Schweinswürstchen lassen sich wenigstens ungefähr fassen, indem man sie mit einer Maschinenpistole und einem modernen Würstchen in Vergleich setzt. Sobald man mit dem Daumen einmal über die Schwertschneide fährt, wird einem die Realität klar. Vergangene Religionen aber sind wie eine Handvoll Seegras und etwas Stoff: Das ist alles, was von der Puppe übriggeblieben ist.

Daher muß ich vor allem die landläufige Vorstellung von der delphischen Pythia als Figur des Aberglaubens und des Hokuspokus zerstören.

Die Orakel lassen sich zurückverfolgen bis ins achte Jahrhundert; sie sind es gewesen, die dem Apollon-Heiligtum in Delphi zur panhellenischen Bedeutung verhalfen. Um 590, zur Zeit Solons also, entbrannten um die Herrschaft über Delphi schwere Machtkämpfe, aus denen als unerwarteter Sieger Delphi selbst hervorging. Es erzwang die Anerkennung der ewigen Unabhängigkeit und Immunität.

Delphi wuchs sich zu einer mittleren, feierlichen, langweiligen Stadt aus. So wie heute jeder vorsorgliche Mensch ein Bankkonto in der Schweiz oder sein Häuschen im Tessin hat, so standen dort die »Schatzhäuser« der griechischen Städte. Halb Delphi rekrutierte sich daraus. Da bewahrte man die Weihgaben auf, die Dankgeschenke und Siegestrophäen: Athens über Theben, Thebens über Athen, Korinths über Argos, Argos’ über Korinth, alles nebeneinander; Jakob Burckhardt hat die Stadt ein »Museum des Hasses« genannt.

Die Weissagungen nun, die Delphi so große Bedeutung gaben, kamen auf eine komplizierte Weise zustande. Das Heiligtum des Apoll lag dicht unter den Felswänden des Parnaß, sein Mittelpunkt über einem kleinen vulkanischen Erdloch, aus dem ständig ein kalter, gasiger Luftstrom aufstieg. Darüber befand sich der eherne Dreifuß, auf dem bei den Befragungen des Gottes die auserwählte Priesterin, die ewige »Pythia«, Platz nahm. In der Benommenheit der Sinne gab sie dann Wörter oder ganze Sätze von sich, von denen aber nichts überliefert ist. Sie werden sich selten oder nie auf die gestellte Frage bezogen haben; es hat auch kein Außenstehender sie je erfahren. Vielmehr war es so: Das Trance-Gestammel hörten sich die Apollon-Priester an und zogen sich zur »Deutung« zurück. Sie faßten es — wie es sich für Apoll geziemt — in ein erlesenes Griechisch, und dann erst verkündeten sie es als Orakel des Gottes.

Fast alle Fragen waren Schicksalsfragen. Mag sein, daß in frühester Zeit auch andere belanglose, neugierige gestellt wurden; seit langem aber nicht mehr. Es ging um große Dinge. Man darf sich auch nicht vorstellen, daß Athen etwa fragte: »Werden die Perser siegen oder wir?« Das ist die Fragestellung eines modernen Menschen, eines Menschen mit Beruhigungsgier. Die Griechen — und zu dieser Ethik hatte Delphi sie erzogen — hätten das für eine Beleidigung des Gottes gehalten. Und es ist auch eine! Die Griechen fragten: »Was sollen wir tun? Wir bitten Apoll, der doch die Stimmung im Olymp kennt und vielleicht auch schon weiß, ob Zeus einen Entschluß gefaßt hat — wir bitten Apoll um einen Rat, um einen Fingerzeig.«

Die bewundernswerte Leistung vollbrachte nicht die Pythia, die bewundernswerte Leistung vollbrachten die Deutungspriester. Das Orakel, das sie herausgaben, war ihr diplomatisches Bulletin. Wir kennen zahlreiche Orakel im genauen Wortlaut, ich werde Ihnen nachher eines vorführen: Es ist ganz ausgeschlossen, daß das Gestammel der Pythia auch nur den geringsten Einfluß gehabt hat oder daß es unter den Priestern echte Mystiker gab. Dieses Kollegium war ein Kabinett von politischen Beobachtern, ein Gremium von Fachleuten der Weltpolitik und Meistern der Psychologie, gegen das ein vatikanisches Kardinalskollegium nur ein blasser Schatten ist. Und wenn man die Summe aller delphischen Orakelsprüche zieht, so kann man den Apollon-Priestern die Hochachtung für eine gewisse Neutralität, eine gewisse Gerechtigkeit, einen Willen zum Helfen und eine gewisse Sauberkeit der Anschauungen nicht versagen. Sie ließen sich die Sauberkeit bezahlen, natürlich! Aber: Welch ein Jahrhundert, in dem aus passiver Bestechung Sauberkeit statt Schmutz herauskommt!

Freilich gab es Ausnahmen — eben Ausnahmen. Ganz unbestritten jedoch ist ihre Klugheit. Sie haben mit ihren Orakeleien oft hohe Politik gemacht.

Nun also standen die Apollon-Priester vor einer Aufgabe, so heikel wie nie zuvor. Fast alle Städte, bis nach Kreta hinunter, wandten sich in jenem Winter 481/80 an Delphi um Rat.

Die Priester scheinen durch die Nachrichten aus Kleinasien ebenso beeindruckt gewesen zu sein wie alle anderen Griechen. Jedenfalls war ihre Sprache nie zuvor so erregt und scharf, ihre Antwort nie so spontan. Sie rieten, obwohl niemals deutlich, zur Neutralität; einzelne Antworten konnten vielleicht sogar als Ratschlag zur Unterwerfung ausgelegt werden. Wie sehr diesmal die Priester angesichts der Gefahr flatterten, sah man an den Farben, in denen die verschleierten Orakel gemalt waren; düster und blutig rot. Aber das war nichts gegen den einfach niederschmetternden Spruch, den Athen erhielt: »Ihr Unglücklichen! Flieht an das Ende der Welt, der schnelle Ares wirft alles nieder.«

Nun merken Sie auf! Es folgt etwas sehr Aufschlußreiches: Die Athener gaben sich mit diesem Spruch nicht zufrieden! Es erhob sich ein Hin und Her in Delphi wegen der Renitenz der Athener, alles sprach davon und mischte sich ein, und schließlich begaben sich die athenischen Abgesandten, diesmal »mit dem Ölzweig« als Zeichen der äußersten Not, noch einmal zur Pythia. Sie erhielten tatsächlich ein zweites Orakel, und als sie es besahen, siehe, da waren wenigstens die blutrünstigen Farben und mit ihnen Gott sei Dank jede Klarheit weg. Apolls zweiter Spruch lautete:

»Athene kann den olympischen Zeus nicht versöhnen,

wenn sie auch noch so viel Worte macht und ihn bittet.

Doch dies sage ich euch: Wenn gefallen ist, was die Grenze umschließt...

so wird weitsehend Gott Zeus seiner Tochter Athene

die hölzerne Mauer geben, welche allein unzerstört bleibt...

O göttliches Salamis, du wirst die Kinder der Weiber verlieren oder verderben...«

Ein hochinteressantes Ergebnis!

Etwas verdutzt und benommen ritten die Athener heim. Unterwegs schon rätselten sie an diesem Kuckucksei herum. Die einen mutmaßten, mit der hölzernen Mauer seien die Palisaden auf der Akropolis gemeint. Die anderen sahen in dem Ausdruck »hölzerne Mauer« eine Umschreibung für »Schiffe«. Aber da machte noch die letzte Zeile Sorge: »Verlieren oder verderben.«

Beides deutete auf eine Niederlage hin.

Jetzt schaltete Themistokles sich ein. In einer Rede fand er die einfache Erklärung, daß Apoll als Sprecher und Ratgeber für Athen zweifellos »elendes« Salamis gesagt hätte, wenn er Verderben für die Bittenden gesehen hätte. Die Sache sei sonnenklar! Er riet, nicht wankelmütig zu werden, ihm zu folgen und an die Rettung durch die neue Flotte zu glauben. Und Athen glaubte.

Wir aber staunen. Wir staunen über das Resultat der nochmaligen Beratung der Apollon-Priester, über ihre Informiertheit, über ihre schließliche Überlegung, es müsse mit dem Marineplan des Themistokles eben doch versucht werden, und über ihren bewundernswerten Geheimdienst, denn, meine verehrten Damen und Herren, wo kommt überhaupt das Wort Salamis her? Die Schlacht bei Salamis war noch nicht geschlagen, und von einem Plan wissen noch nicht einmal wir etwas!

Das zweite Orakel des sonst perserfreundlichen Delphi war das Plazet an die Adresse des Themistokles. Delphi sah also eine Chance — Themistokles atmete auf.

Rosen für Apoll
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