...sind wir also in Sparta. Obwohl es viel Ähnlichkeit mit dem Potsdam des Soldatenkönigs hat, ist der Besuch, selbst für Leser mit Gardemaß, bedeutend ungefährlicher; man sieht uns lieber gehen als kommen. Sparta war schon für die Griechen eine geheimnisvolle Stadt: ohne Mauern, ohne Luxus, ohne Villen, ohne Ausgelassenheit, ohne Liebenswürdigkeit, ohne Privatleben. Aber: von höchster Musikalität, höchstem Formgefühl, höchster Arbeitsscheu, höchster Geldverachtung und höchster Freizügigkeit der Mädchen.
Sparta — Sie erinnern sich: Dorer überrennen Mykene, Tiryns, Amyklai, die ganze homerische Welt — Sparta lag, wie es das heute noch tut, im Süden der Peloponnes-Halbinsel, in dem breiten, trockenen Eurotastal, auf den letzten Ausläufern der Taygetosberge; damals eine Stadt von etwa 30 000 Einwohnern. Unbefestigt, das war das aufreizend Arrogante!
Wenn Sie sich Sparta im Geiste vorstellen wollen, so müssen Sie an ein als Stadt getarntes Heerlager denken oder an eine riesige soziologische Versuchsanstalt oder an einen stark an normale Menschen erinnernden »vernunftbegabten Bienenstock« — wie Plutarch es schon nannte. Aber eine recht hübsche Stadt, etwas dürftig vielleicht, hell wie ein Labor, sauber wie Potsdam, und nicht unmusisch. Auch in Sparta legte man Apoll Rosen zu Füßen, aber natürlich ordentlich ausgerichtet.
Wenn ich Ihnen nun sagen sollte, was Sparta eigentlich war — es müßte als »grundsätzlicher« Tyrannenhasser naturgemäß eine Demokratie sein, ist es aber nicht — , so gerate ich in Schwierigkeiten. Kennen Sie die Geschichte mit dem ungarischen Gesandten in den USA nach dem Ersten Weltkrieg? Man brachte ein Hoch auf die Republik Ungarn aus; darauf der Gesandte: »Ungarn ist keine Republik.«
»Ah — sondern?«
»Königreich.«
»Oh — wie heißt Ihr König?«
»Wir haben keinen König.«
»Ah — einen Thronprätendenten.«
»Wir haben auch keinen Thronprätendenten.«
»Ach! Sie haben also nur einen Staatspräsidenten?«
»Wir haben keinen Staatspräsidenten. Exzellenz von Horthy ist Reichsverweser.«
»Aha. Wohl ein General?«
»Nein, ein Admiral.«
»Ein Admiral? Sie sind also eine Seemacht?«
»Nein, wir besitzen keine Flotte.«
»Aber Sie liegen natürlich am Meer?«
»Nein, wir sind ein Binnenland und haben nirgends eine Küste.«
»Ja, aber... wie... wie nennt man so was?«
»Ungarisch.«
Natürlich lagen in Sparta die Verhältnisse klarer; jedenfalls schien es den Spartanern so. Sparta war, es wird Sie etwas überraschen, Königtum. So klar lagen die Verhältnisse aber wiederum nicht, daß Sparta nun einen König oder, wie Ungarn, keinen König gehabt hätte: es hatte zwei. Stets zwei gleichzeitig; nicht etwa Gegenkönige, sondern gemeinsam regierende. Das heißt, regieren taten sie eigentlich nicht. Sie waren die Vertreter des Volkes gegenüber den Göttern, die obersten Priester, die höchsten Würdenträger und im Kriege gegebenenfalls die Heerführer. Regieren durften sie erstaunlicherweise nicht. Dazu waren fünf »Ephoren« ausersehen, Männer, die vor den Königen »nicht aufzustehen brauchten«, obwohl sie nicht aus den beiden alten königlichen Familien, sondern aus dem Volk stammten. Ihre Macht war fast absolut. Sie konnten beispielsweise, ohne Rechenschaft ablegen zu müssen, von einer Minute auf die andere über Leben und Tod der Heloten entscheiden — Sie müssen jetzt nur noch wissen, wer die Heloten sind.
Das sind die sogenannten Staatssklaven. Das sagt Ihnen natürlich auch nichts. Sie denken an eine Schar von Straßenfegern und Bürodienern, aber das waren sie nicht. Heloten waren ganze Völker in Bausch und Bogen; zum Beispiel die benachbarten Messenier; aber auch ein großer Teil der Lakonier rings um Sparta; etwa 50 000, über die die fünf Ephoren Gewalt hatten. Xenophon, Plato und Aristoteles haben sie geradezu »Tyrannen« genannt. Sie waren es auch. Jedoch liegt der Fall auch hier etwas ungewöhnlich: Die fünf Ephoren wurden alljährlich neu gewählt. Das ist ein schöner demokratischer Zug. Das heißt, sehr demokratisch war er nun eigentlich auch wieder nicht, denn von den hunderttausend Menschen, die in dem Staatswesen Spartas lebten, besaßen nur die sogenannten Spartiaten Wahlrecht, und das waren kaum mehr als achttausend Männer.
Nicht, daß diese Achttausend ihr Recht von der Tatsache abgeleitet hätten, sie seien die einzigen Nachkommen der dorischen Eroberer. Nein, reine Dorer gab es fünfmal soviel; man nannte sie Periöken — »Umwohner«. Sie stammten aus ebenso alten Familien, sie hatten einst ebenso Mykene und Amyklai gestürmt, sie besaßen oft große Güter, sie waren mitunter sehr reich, sie genossen alle Freiheiten, nur hatten sie von Anfang an einen grundlegenden Fehler begangen, der sie in den Augen der Spartiaten und wohl auch in ihren eigenen Augen etwas unwürdig machte: Sie arbeiteten.
So erklärt sich sicher auch die ganz seltsame Überlieferung, daß ein Spartiat, der seinen Pflichtbeitrag für den Unterhalt der »Staatsjugend« und der Krieger-Speisung nicht mehr zahlen konnte, zum Periöken deklassiert wurde. Wer nicht liquid war, bei dem stand offensichtlich die Arbeit drohend vor der Tür, und er sollte sich nun auch offen zum Periökenstand bekennen. Das alles hinderte die Spartaner nicht, sich Όμοιοι zu nennen, ein Wort, das berühmt geworden ist; es heißt »die Gleichen«. Diese Gleichheit sollte sich, vorsichtigerweise, freilich nur auf die Spartiaten beziehen. Aber auch hier entdeckt man erstaunliche Methoden: Die Abgabe für die Speisung und den Unterhalt der Kadetten war für jeden gleich hoch angesetzt, ob er nun ein alleinstehender Millionär war oder ein mäßig begüterter Familienvater von zehn Kindern.
Was nun die Speisung anlangt, so ging über die damals in aller Welt bekannte spartanische »Schwarze Suppe« in Athen der Witz um: »Wer sie einmal gegessen hat, versteht, warum die Spartaner so gern in den Tod gehen.« Das einzigartige an diesem Witz ist übrigens — wenn man ihn einmal genau betrachtet — , daß das Wahrscheinliche unzutreffend und das Unwahrscheinliche zutreffend war: Die Suppe war in Wahrheit vorzüglich, und die Spartaner gingen tatsächlich gern in den Tod. Und damit sind wir bei einem Mysterium angelangt, das zu erklären ich versuchen will, aber am Ende doch nicht können werde.
Wenn wir nicht so genaue Kenntnis über Sparta hätten, wäre die Lage offengestanden einfacher. An Hand von einigen Bruchstücken und an Hand der Kriegsgeschichte würden wir uns ein griechisches Preußen, ein friderizianisches Berlin ausmalen mit »Langen Kerls«, mit Kommißbrot und Garnisonkirche, mit Heiratsbefehlen, mit Adelsfräulein und Kameral-räten, mit Ziethen und Seydlitz, mit schlechten Talern und verschlissenen Ehrenröcken. Es stimmt alles; dennoch ist es gefährlich, an dieses Bild zu denken, denn auf jeden Vergleich, der hingehen mag, kommen zehn Einzelheiten, die dem ins Gesicht schlagen. Verglichen mit den Spartanern waren die Friderizianer Abc-Schützen an Unkompliziertheit. Auch das andere Griechenland hat die Spartaner niemals ganz begriffen. Es hatte allerdings auch keine Lust dazu.
Wir aber haben Lust und müssen es probieren.
Spartas Verfassung führten die Griechen auf einen mythischen großen Gesetzgeber zurück, an dessen Existenz die meisten heutigen Forscher zweifeln: auf Lykurg. Er soll um das Jahr 800 gelebt haben, und wenn Sie mich fragen: er hat. Er bildet ungefähr das Gegenstück zu Athens vorsolonischem Gesetzgeber Drakon, den ich Ihnen der Einfachheit halber bisher verschwiegen habe. Auch seinen Solon hat Sparta dann gehabt, es war vermutlich der Ephore Cheilon, den man später zu den Sieben Weisen zählte. Von ihm soll auch das berühmte Wort »Erkenne dich selbst« stammen, und ich habe ihn in Verdacht, daß er es u. a. als Antwort auf die Versuche, Sparta zu begreifen, gefunden hat. Dieser Cheilon muß ein bedeutender Mann gewesen sein, wie wir uns die Ephoren überhaupt als erfahrene Staatsmänner vorzustellen haben. Vielleicht hat überhaupt erst Cheilon diese Machtstellung der Ephoren geschaffen, denn zu Lykurgs Zeiten waren sie noch die Garnisonpriester der fünf Siedlungen (Dörfer oder Bezirke) gewesen, aus denen die Stadt Sparta entstanden ist.
Ich habe absichtlich »Garnison« gesagt; das erklärt besser als die Worte »Dorf« und »Siedlung«, woher wahrscheinlich die spätere Vorrangstellung der Spartiaten kommt: Im Gegensatz zu den Hunderten von anderen Siedlungen werden diese fünf Niederlassungen eben von vornherein keinen zivilen Charakter gehabt haben. Hier, um die Ruine Amyklai, hat sich die militärische Macht zusammengelagert. In diesem Sinne ist also Sparta immer etwas ganz anderes gewesen als Athen oder Theben oder Korinth, kein groß gewordenes Dorf, sondern die Garnisonstadt für ein ganzes Land, anfangs für das Kernland Lakonien, bald aber für den ganzen Peloponnes. Das zu wissen ist deshalb interessant, weil man jetzt begreift, warum nur Sparta imstande gewesen wäre, Griechenland zu einen: Es war der einzige, dem das Denken in überstädtischen Dimensionen im Blut lag. Ob Sparta begriffen hat, was Volk und Nation sind, wissen wir nicht. Zur Zeit des Hippias-Sturzes war es zu spät, man hatte sich auseinandergelebt. Von da an hat sich Sparta auch ganz auf den Peloponnes konzentriert; also auf die geographische Festung. Etwa wie England. Aber Kolonien interessierten es sehr, und auf das Gleichgewicht der Flotten achtete es lange Zeit ängstlich (die spartanischen Kapitäne verstanden vom Seekrieg gar nichts), und stets war es moralisch entrüstet, wenn auf dem Festland sich eine Konsolidierung oder eine starke Persönlichkeit abhob. Dann unternahm es etwas. »Grundsätzlich.« Όμοιοι, »die Gleichen« ist dasselbe Wort wie das lateinische Pares und das englische Peers!
Das entscheidende Erlebnis Spartas ist der sogenannte Zweite Messenische Krieg um 660 gewesen. Er lag also zu dem Zeitpunkt, an dem wir im vorigen Kapitel bei Hippias’ Sturz haltgemacht haben, schon 150 Jahre zurück, war aber unvergessen. Messenien, die große, fruchtbare und schöne Landschaft im Westen, seit dem 8. Jahrhundert schon unterworfen, erhob sich damals gegen Sparta. Der Aufstand war gut vorbereitet. Argos, Arkadien und Pisatis — damals nur in losem Zusammenhang mit Sparta — waren die geheimen Verbündeten der Messenier. Von seiten der Messenier wurde der Kampf sofort mit der Erbitterung von Sklaven geführt. Die Spartaner — Spartiaten wie Periöken — wußten, daß es um Tod und Leben ging. Ihre kleine Schar, zahlenmäßig den Messeniern weit unterlegen, rückte aus, von den Knaben bis zu den Greisen, in schrecklicher Entschlossenheit, zu sterben oder zu siegen. Unter ihnen der Dichter Tyrtaios, dessen wilde, heroische Lieder auf uns überkommen sind. Er war der geistige Führer der Spartaner, er war ihre Fahne, ihre Standarte, ihr Schwur.
Wenn wir fallen sollen,
laßt euch, meine Jünglinge,
nicht in der Reihe nach den Alten
liegend finden —
bewahrt uns vor dieser Schande.
Die erste Reihe soll die strahlendsten Glieder sehen.
Beißt die Lippen zusammen,
stemmt den Fuß in die Erde,
und keine Gnade!
Schritt für Schritt kämpften sich die Spartaner in Messenien vor. Als die Schlacht am »Großen Graben« geschlagen war, zogen sich die Messenier in die nördlichen Berge nach Hira zurück. »Keine Gnade«, sang Tyrtaios. Auf beiden Seiten wurde mit dem Mut der Verzweiflung gekämpft. Hira fiel. Damit war das Schicksal der Aufständischen besiegelt. Wer nicht gefallen war, erlebte jetzt erst, was »Sklave sein« hieß. Argos, Arkadien und Pisatis kapitulierten.
Die Festung Peloponnes gehörte wieder Sparta.
Die Spartaner haben diesen Schreck, am Rande der eigenen Versklavung gestanden zu haben, nie überwunden. Er hat aus ihnen Berufssoldaten gemacht. So vollendete Berufssoldaten, daß Xenophon schrieb, der Unterschied zu den anderen Griechen sei wie der von Artisten zu Dilettanten.
Nun ist das Wort Berufssoldat aber etwas irreführend, denn sie standen nicht im Staatssold. Vielleicht hätte ich sagen sollen: Ordensritter.
Der Orden, das heißt der Staat, entschied schon bei der Geburt eines spartanischen Kindes, ob es am Leben bleiben oder ausgesetzt werden sollte. In Preußen hätte man die bläßlichen Exemplare wenigstens Dichter und Denker werden lassen. Sparta aber sah in kränklichen Kindern eine Gefahr für das Spartiatentum, für das Gefüge, den Bau, die Konstruktion. Die Spartaner haben für diesen Staatsbegriff einen Ausdruck gehabt, den wir heute noch kennen: Kosmos. Ein schönes Wort, aber ein schreckliches Wort, wenn man es so anwendet, wie sie es getan haben. Auf diesem Altar hat Sparta für sich eine der schönsten, leuchtendsten Blüten des Griechentums geopfert: den Individualismus.
Sie waren reine Außenseiter, wenn man die anderen zum Maßstab nimmt. Die alten Geschichtsschreiber allerdings nennen sie die »reinsten« Griechen.
Mit sieben Jahren wurden die Knaben dem Elternhaus weggenommen; sie wurden Kadetten. Sie lebten nun in großen »Horden« zusammen. Die Kindheit war vorüber, die harte Erziehung begann. In den kleinen Köpfen sollten schon alle Gedanken um Pflicht, Gehorsam und Ehre kreisen. Führer waren ältere Knaben und, wenn sie mit vierzehn Jahren selbst »Jungspartiaten« geworden waren, erwachsene Krieger und Lehrer der Dichtung, Musik und Mythologie. Mit zwanzig Jahren war ihre Ausbildung abgeschlossen. Sie waren Männer.
Das waren sie sicher. Erstaunlicherweise waren sie aber auch Menschen geblieben. Sie haben (wenigstens damals noch) Dichter, Sänger, Bildhauer und Baumeister hervorgebracht; die dorischen Tempel und ihre Säulen zeugen von dem herrlichen Maß ihrer Augen, der erhabene Apollon-Thron von Amyklai für die Demut ihrer Herzen; viele kleine Züge zeugen von liebenswerten menschlichen Schwächen, sie liebten wie alle Griechen Farben und schöne Kleidung, aber ebenso gern gingen sie in betont zerschlissener Feldkleidung herum — die fixe Idee aller »alten Kämpfer« in der Welt.
Rührend war ihr Verhältnis zu den Eltern, vor allem zur Mutter; ganz ungriechisch. Und rührend ihre Ehrfurcht vor dem Alter. Allerdings liefen spartanische Greise auch nicht ewig jammernd und klagend herum wie die athenischen, die sich in der Rolle von alten Katern gefielen.
Mit dreißig Jahren trat im Leben des Mannes ein Wandel ein: er durfte jetzt zu Hause wohnen! Das ist fürwahr eine Großzügigkeit, die an den Alten Fritz erinnert.
Dreißig Jahre waren also, so kann man schließen, das Alter, in dem die Spartiaten zu heiraten pflegten. Sie scheinen es nicht gern getan zu haben, obwohl die spartanischen Mädchen schön waren. Manche behaupten, sie seien sehr schön gewesen, aber ich habe die Ahnung, daß es lauter Fünfkampfmeisterinnen waren. Sie werden gewesen sein, was man »prachtvoll« nennt. Für einen athletischen Spartiaten kein Grund zur Furcht natürlich. Daher starb Sparta nicht aus.
Das spartanische Mädchen hatte ebenfalls eine höchst merkwürdige Erziehung hinter sich. Sie sollte zwar dereinst die Herrin des Hauses werden, aber eine »Despoina«, eine »Gebieterin«, die für die Arbeit Sklaven und Diener hatte. Sie verbrachte also ihre ganze Jugend auf dem Sportplatz. Sie war die einzige Griechin, die Zutritt zu den Sportfesten hatte, und wenn sie gedurft hätte, wäre sie auch zu den Olympischen Spielen geritten. Sie war ohne Scheu, und es war kein Kunststück, sie nackt zu sehen. Für das ganze übrige Hellas war das etwas Außerordentliches, worüber man sich auch ständig das Maul zerriß. Sie war auf der Straße und an allen Ecken und Enden zu sehen und ist eigentlich die letzte Erbin der homerischen Frauenwelt gewesen. Artemis, die Jägerin, und Hera, die »Despoina«, wurden in Sparta hochverehrt.
Dennoch sah — wir wissen es vom 6. Jahrhundert an — der Staat mit Sorge auf die jungen Mädchen und die Nachkommenschaft, und ich muß sagen, ich auch. Ich weiß, wie staatserhaltend ein hochgeschlossenes Kleid und wie fruchtbar Ungewißheit ist. Der »guten Kameradin« jedoch schlägt man die Hand auf die Schulter, aber sonst nichts vor.
Der spartanische Staat hatte Nachwuchssorgen. Er belegte die Junggesellen mit Strafe, er verlangte Kinder, er wünschte — sicher wissen wir es zumindest von der ärmeren Periökenbevölkerung — , daß ein kinderlos gebliebener Ehemann sich seines Bruders oder Freundes als Ehehelfer bediente. Man erlaubte große Freiheiten; die Mädchen trugen Kleider, die oft bis zur Hüfte hinauf aufgeschlitzt waren (die Athener waren entrüstet über die »Schenkelzeigerinnen«), man erlaubte alljährlich die zehn Tage dauernden »Gymnopaidiai«, das Tanzfest der nackten Jünglinge.
Von einer Gepflogenheit aber, die man für den »Kosmos« höher als alles schätzte, ist Sparta nie abgegangen: von der Pflege der Paiderastía.
Sparta war die Hochburg der Knabenliebe. Und da Sparta eine einzige große Ordensburg war, war auch die Paiderastia dort nicht mehr der (wie man in der modernen Nationalökonomie sagen würde) »freien Marktwirtschaft« anheimgestellt, sondern wurde eine feste Ordensregel. »Jeder Versuch gegen die Knabenliebe hätte in Spartas hoher Zeit umstürzlerisch gewirkt und wäre als ungesund und volksverräterisch aufgenommen worden« (Theodor Däubler). Der spartanische Staat wünschte, daß jeder Jüngling durch erotische Bande fest an einen vorbildlichen Mann gekettet und daß jeder Krieger durch die gleichen Gefühle zu einem Pais, einem Knaben, zu höchstem Vorbild aufgestachelt würde. Die Spartaner opferten vor dem Gang in die Schlacht dem Eros. Sie waren nicht nur überzeugt, sondern sie hatten Beweise dafür, daß »die Liebe der Seite an Seite kämpfenden Freunde ein großer Garant für den Sieg« sei. Die Geschichte ist voll von Beispielen, oft erschütternden.
Die Griechen waren von Natur — ich verbessere mich: Die Griechen waren natürlich bisexuell. (Der LIermaphrodit war, allen anderen Deutungsversuchen zum Trotz, weiter nichts als ihr verblüffend offener Wunschtraum.) Die Paiderastia hat sich nie ehefeindlich ausgewirkt, sie war sicherlich auch in Sparta nicht die Ursache der Sorgen. Es gab so viele andere Dinge, die es gewesen sein können.
Vielleicht war es die »Autarkie«, die die Spartaner so weit trieben, daß sie die Inzucht vorzogen und den Spartiaten Heiraten mit »Fremden« verboten. Sie übertrieben die Autarkie auf allen Gebieten, sie wiesen Ausländer nach einer bestimmten Zeit aus, sie untersagten jede Auswanderung, ja, sie gingen so weit, daß sie den Besitz von Gold und Devisen verboten und ihr Leben lang am uralten Eisengeld festhielten — nicht, weil sie so altmodisch waren, wie die spöttelnden Athener meinten, sondern weil es ihnen gefiel, daß außerhalb der Grenzen kein Spartaner etwas mit seinem Gelde anfangen konnte.
Der Bienenstock war perfekt.
Nur die Züchtung einer Bienenkönigin ist ihnen nicht gelungen.