Der Peloponnesische Krieg zeichnet sich vor allem durch dreierlei aus: durch seine Länge, durch seine Grausamkeit und durch seine totale Unübersichtlichkeit. Der Leser, der ihn übersteht, ist fast ebenso zu preisen wie der Grieche, der ihn überstand.

Zunächst hat er (der Krieg) die Eigenart, in mehrere Teile zu zerfallen. Ferner in mehrere Schauplätze. Sodann in mehrere Sieger und Besiegte, die sich periodisch ablösen, bis sich das alte englische Sprichwort bewahrheitet, daß derjenige in einem Kriege siegt, der die letzte Schlacht gewinnt.

Vielleicht fällt mir noch eine Faustregel ein; dann teile ich sie Ihnen mit. Zunächst bleibt nichts anderes übrig, als dem ersten Teil, der bis zu Perikles’ Tode reicht, entschlossen ins Auge zu sehen. Er ist noch verhältnismäßig unkompliziert. Er heißt der Archidamische Krieg, weil er u. a. von dem spartanischen König Archidamos geführt wurde. Das ist keineswegs selbstverständlich; viel richtiger sollte er der Perikleische Krieg heißen. Aber Bezeichnungen kommen auf rätselhafte Weise zustande; so nennt sich beispielsweise der fatale Friede, den Perikles mit Persien geschlossen hatte, »Kimonischer Friede«. Ich sage Ihnen das, falls Sie einmal auf dieses Wort stoßen sollten. Kimonisch hieß er deshalb, weil Kimon tot war und sich nicht wehren konnte. Wahrscheinlich hat Perikles selbst ihn zum erstenmal so genannt.

Der Peloponnesische Krieg begann mit einer Eigenmächtigkeit eines der Verbündeten Spartas, nämlich mit einem nächtlichen Überfall der Thebaner auf Platää. Der Handstreich mißlang; einhundertachtzig Thebaner, die schon mitten in der Stadt waren, kamen aus dem Hexenkessel nicht mehr heraus, wurden gefangengenommen und mit dem Schwert hingerichtet. 48 Jahre vorher, nach der Perserschlacht, hatte Theben die Neutralität Platääs beschworen; daher ließen nun die Platäer die Eidbrüchigen als Verbrecher über die Klinge springen.

Hier warne ich Sie vor einem voreiligen Urteil. Man pflegt die Thebaner Neutralitätsverletzer zu nennen. So haben uns auch die Belgier 1914 genannt. Platää war nie neutral, und als der Krieg drohte, stellte es sich eindeutig auf die Seite Athens. Daß Perikles die Sache genauso ansah, beweist sein Versuch, die Hinrichtung zu verhüten. Aber der Bote kam zu spät. Die Platäer wußten, was sie taten; sie nahmen nur vorweg, was gang und gäbe werden sollte. Das blutige Ereignis löste eine Kettenreaktion von Grausamkeiten aus, zu denen alle schon im voraus bereit gewesen waren. In Athen ergriff man alle »feindlichen Ausländer«. Sparta erklärte darauf, es werde keinem Athener mehr Pardon geben.

Das Heer unter König Archidamos setzte sich in Marsch.

Es fand keinen Widerstand. Perikles hatte alle Landbewohner aufgerufen, Haus und Hof zu verlassen und sich in den Mauern Athens in Sicherheit zu bringen. Es war ein, wie es heißt, wohlüberlegter Plan; Archidamos sollte ins Leere stoßen, die spartanische Kriegsmaschine sich totlaufen.

Die Rechnung ging zunächst auf. Zusammengepfercht, auf allen Plätzen, auf allen Höfen, in Tempeln, in Zelten und Baracken hausend, warteten Zehntausende von Flüchtlingen in Athen, was geschehen würde. Tag und Nacht standen sie auf der kilometerlangen Mauer und sahen in allen Himmelsrichtungen den Feuerschein der brennenden Dörfer und Gehöfte. Archidamos zog kreuz und quer durch Attika und verwüstete das Land. An einen Angriff auf Athen schien er nicht zu denken. Die Stadt befand sich in fieberhafter Ungewißheit. Keine Nachrichten von Platää. Keine aus dem eingeschlossenen Oinoe. Und wo war eigentlich Perikles?

Man rief ihn jetzt oft heraus. Dann erschien er, schön wie einst, ruhig und gelassen. Er erklärte unermüdlich aufs neue seinen Plan und beruhigte die Menge, die jedoch nicht griechisches Blut in den Adern gehabt haben müßte, um nicht im tiefsten Herzen »altmodisch« zu sein und diese Art des Krieges zu verachten. Es standen jetzt oft Redner auf, die man zuvor nie gesehen hatte. Sie schlugen ganz neue Töne an. Da konnte man ab und zu einen gewissen Kleon hören, der sich etwa wie Chruschtschow betrug. Es war ein schlechtes Zeichen, daß niemand über ihn lachte. Die Sorge hatte den guten Geschmack verdrängt. Er ist für die Masse eben doch ein Luxus.

Im Juni, also kaum einen Monat später, zeigte sich, daß Perikles recht gehabt hatte — die Spartaner zogen ab! Sie kehrten zum Peloponnes zurück.

Die Tore Athens öffneten sich wieder, die Städter wurden die verhaßt gewordenen Flüchtlinge los, und die Flüchtlinge dankten den Göttern und verfluchten die Städter; die Bauern räumten unter den rauchenden Trümmern ihrer Habe auf und fingen wieder von vorne an. Perikles warf Geld unter die Leute, die Schiffe karrten neue Lebensmittel heran, und Kratinos, der Vielbelachte, schrieb eine neue Komödie. Platää existierte noch, Oinoe hatte sich gehalten; es war alles ganz gut gegangen.

Athen holte zum Gegenschlag aus. Perikles mobilisierte die Flotte. Ziel: Landung in Methone (Messenien). Man wollte Sparta an seinem wundesten Punkt treffen. Wenn die Landung glückte, konnte man Verbindung mit den Heloten auf-nehmen, sie bewaffnen und zum Aufstand aufrufen. Aber es ging mit dem Teufel zu. Als die Flotte in Methone ankam, stand ein spartanisches Regiment unter dem jungen General Brasidas da. Die Invasion wurde abgeschlagen. Die Athener setzten Segel und beschlossen, sich wenigstens an den westlichen Inseln schadlos zu halten. In respektvollem Abstand zur Küste kehrte dann die Flotte heim. Man plänkelte im Herbst noch ein bißchen mit den Megarern herum, zog es aber schließlich vor, sich Kratinos’ neue Komödie anzusehen und die Megarer Megarer sein zu lassen.

In diesem Winter fand in Athen eine große feierliche Gefallenenehrung statt. Das war etwas ungewöhnlich, denn weder war der Krieg zu Ende, noch hatte man eine nennenswerte Schlacht geschlagen.

Die Feier war von Perikles wohl als Herzstärkung für die Athener gedacht.

Die Griechen, die ja keine Sonntage kannten, liebten und genossen solche Feste unendlich. Sie inszenierten sie mit Inbrunst und schwelgten in Aufzügen, feierlichen Riten und formvollendeten Ansprachen. Von morgens bis abends war man in der blumengeschmückten Stadt auf den Beinen, und beim festlichen Staatsakt konnte man endlich einmal wieder das ganze Athen sehen; da erschien vollzählig der Adel und das vornehme, exklusive Patriziat, da sah man die Schar der Jünglinge und Knaben, und da entließen die Häuser sogar die jungen Mädchen aus ihrer Zurückgezogenheit. Und dann natürlich die vielen berühmten Namen! Dort ging Perikles, da drüben standen Sophokles, Euripides und der junge Aristophanes; dort sprach Xenophon mit Thukydides; jene Gruppe waren die Bildhauer Alkamenes, der den Parthenonfries geschaffen hatte, Kresilas und Kallimachos; dort stand der Philosoph Kritias, von dem noch niemand ahnte, daß er einmal Diktator würde; dieser dort war der junge Alkmaionide Alkibiades, und der, mit dem er sprach, war Sokrates. War Athen nicht ein Olymp voller Unsterblicher? Ein Himmel voller leuchtender Sterne? Und die Mädchen? Und die Paides? War es nicht, als habe die Akropolis sich eine dreifache Perlenkette umgelegt? Und die Krieger, dieses Wogen wehender Helmbüsche? Und von ferne die Menge der gaffenden Sklaven und aufgeputzten Fremden, die von weit hergekommen waren, um Perikles zu hören? Welch ein Tag!

Seine Rede ist in der Überlieferung von Thukydides berühmt geworden. Sie ähnelt so ganz und gar nicht den Staatsreden, wie sie früher an Heldengedenktagen gehalten wurden; sie war ein Rechenschaftsbericht, das Resümee eines Lebens, die Inventur eines Staates. Aus dem Munde des Perikles selbst hören wir, wie sich Athen in seinen Augen spiegelte, wie es lebte, dachte und sprach. Die Rede klingt erstaunlich nüchtern und frei von Pathos; aber Sie werden die Wirkung verspüren! Auch auf die Athener muß der Eindruck, verbunden mit der olympisch-schönen Erscheinung des alten Perikles, außerordentlich gewesen sein. Als er die Rednertribüne verließ, wurden ihm von den Frauen und Mädchen Blumen auf den Weg gestreut.

Wir aber, wir wollen aufmerksam und wachsam nicht nur auf die betörend schöne Form, sondern auch auf den Inhalt achten; denn, meine Damen und Herren, ein Athener, ein großer, göttlicher Lügner spricht zu Ihnen!

Perikles’ Rede auf die Gefallenen (Auszug)

»Alle, denen je die Ehre zuteil wurde, die Gedenkrede auf die Toten eines Krieges zu halten, pflegen das Gesetz, das uns diesen Nachruf zur Pflicht macht, zu preisen. Es scheint ihnen ein Zeichen zu sein, daß wir die Gefallenen zu ehren wissen. Mir aber scheint eine Tat nur wieder durch eine Tat geehrt werden zu können. Worte könnten eine Ehrung sein, aber wer findet Worte, die einer Heldentat entsprechen? Wer weiß das Maß der Dinge, und wer die Wahrheit? Euch, die ihr dabei wart, scheinen alle Worte hinter der Wirklichkeit zurückzubleiben; andere wird es geben, denen sie ungut in den Ohren klingen, hohl, übertrieben vielleicht. Wir glauben das nur zu gerne, sobald die Dinge, von denen gesprochen wird, über unsere eigene Kraft gehen. Ich werde, indem ich die Pflicht des Gesetzes erfülle, bei meinen Worten an den einen denken wie an den anderen.

Wenn wir von den Toten der Kriege sprechen, so ist es gerecht, zuerst der Generationen zu gedenken, die uns von ewigen Vorzeiten her durch ihr Opfer die Heimat bewahrt und geschenkt haben. Wärmer noch ist der Dank, den wir gegenüber unseren Vätern fühlen. Das, was sie uns hinterlassen haben, haben nun wir selbst vollendet — wir, die wir hier stehen. Von dem Geist, der uns beseelt, von dem Geist, der alles geschaffen hat, möchte ich sprechen, bevor ich zu der Ehrung der Gefallenen schreite.

Wir leben in einem Staat, der ohnegleichen und ohne Beispiel ist. Er trägt den Namen Demokratie mit Recht, denn die Macht liegt nicht in den Händen einiger weniger, sondern in der Hand des Volkes. Sein Wesen ist, daß vor dem Gesetz alle gleich sind, daß er aber dennoch die Berufenen an die Spitze bringt. Nicht Armut und nicht niedrige Geburt — nichts verschließt ihnen den Weg. Wir leben ohne Haß, ohne Neid; Kränkung, Böswilligkeit, Unfriede gelten als geächtet, Willkür, vor allem gegen die Schwachen und Notleidenden, ist unseren Herzen und damit den Gesetzen zuwider.

Wir haben uns einen fröhlichen Geist bewahrt. Wir lieben Feste und Spiele, wir lieben unser Zuhause, die kleine Quelle unserer Freuden, und wir lieben diese Stadt, die große Quelle unserer Freuden. Die Schätze und die Genüsse der Welt kommen zu uns; sie sind unser.

In ernsten Zeiten, auch dann sind wir anders als alle anderen. Immer noch, auch wenn Kriege drohen, stehen unsere Tore aller Welt offen. Niemals hat ein Fremder, ein Gast, erlebt, daß wir ihn ausgewiesen. Wir haben keine Heimlichkeiten; nicht weil wir den Feinden vertrauen, sondern weil wir uns, uns und dem eigenen Mut vertrauen. Wir stehen oft allein; die Spartaner nie. Das tut nichts. Mag sein, daß dieses Wort leichtblütig klingt, aber ein leichtes Herz ist schöner als ein bedrücktes. Wir werden Leiden und Mühen nicht weniger tapfer ertragen als die, die sich und ihr Leben fortwährend zerquälen.

Ja, unser Geist betet das Schöne an; wir lieben es mit Selbstverständlichkeit. Mit Einfachheit. Wir lieben das schöne Leben, das ist wahr. Aber schönes Leben ist für uns nicht Reichtum. Man kann auch arm sein. Schlecht ist nur ein Leben, in dem die Armut aus der Trägheit kommt. Das ist nicht das Leben eines Einsiedlers, sondern eines Parasiten. Das ist nicht unseres Geistes. Unsere Art ist: zu handeln. Unseres Geistes ist: zu wagen. Gefahr und Genuß — wer um diese beiden Dinge weiß und sie klar sieht, der weiß, was leben heißt!

In einem einzigen Satz kann ich euch sagen, was Athen ist: die Hohe Schule für ganz Griechenland.

Ich sage euch, und ich sage es ohne Prunk: Diese Stadt wird, alles überragend, die alten Sagen zur Wirklichkeit werden lassen. Wir werden den Zeitgenossen zeigen, von wem sie besiegt sind, und der Nachwelt die Bewunderung abzwingen! Es wird kein Homer sein, uns zu besingen, aber wir werden auch keines Homer bedürfen!

All dessen waren sich die bewußt, an deren Gräbern wir hier stehen. Um es sich nicht rauben zu lassen, haben sie ihr Leben hingegeben. Um es uns nicht rauben zu lassen, werden wir Überlebenden zu gleichem entschlossen sein. Deshalb habe ich von diesen Dingen gesprochen: Die Toten wußten, was sie verteidigten. Kein anderer setzt sein Leben für einen so hohen Preis ein wie wir. Und alles, was ich zum Ruhme Athens gesagt habe, ist zugleich zum Ruhme der Gefallenen geworden. Sie haben dem Staat den höchsten Tribut geleistet, den man leisten kann; sie wurden auch das Höchste, was man werden kann: Helden.

Die Überlebenden aber sollen, wenn sie auch um ein gnädiges Geschick beten mögen, keine minder große Gesinnung zeigen. Ich rede nicht dem Wahn das Wort, daß der Tod vor dem Feind köstlich sei; ich rede einer Wahrheit das Wort: daß es zu allen Zeiten ein unentrinnbarer Zwang ist, das, was man liebt, verteidigen zu müssen — auch mit dem Leben. Das Grab, in dem die Gefallenen hier ruhen, ist uns heilig. Heiliger noch wird uns aber die Erinnerung an sie sein. Großer Männer Grab ist die ganze Erde, nicht bloß die eine Stätte, nicht bloß eine Grabsäule, nicht bloß eine Inschrift. Das größte Denkmal ist das Gedächtnis.

Ihr Väter und Mütter der Toten aber, ihr sollt nicht länger trauern, ich will euch trösten. Ich weiß, es ist schwer, andere in einem Glück zu sehen, das ihr verloren habt. Was man besessen hat, ermißt man erst im Verlust. Aber es kommen — und ich wünsche es auch für euch, die ihr ja noch nicht alt seid — neue Geschlechter, die euch das Verlorene verschmerzen lassen werden. Wem aber das Glück der Erneuerung seines Geschlechtes nicht mehr beschieden ist, der mag der Jahre gedenken, in denen er glücklich war und die heute sein sicherer Besitz sind. Lebt in der Erinnerung und lebt in der Ehre. Schwerer — so will ich fast meinen — haben es die Söhne und Brüder der Gefallenen. Sie werden lange im Schatten der großen Toten stehen.

Ihr Frauen aber, die ihr nun im Witwentum leben werdet, ihr sollt wissen, daß wir nichts von euch erwarten, was eure Natur und das weibliche schwache und zarte Herz verleugnen würde. Ihr braucht nicht hart und nicht stark zu sein. Nur an eines mahne ich euch: Die Frau unter euch wird mir am höchsten stehen, von der man am wenigsten sprechen wird.

Ich habe nun gesagt, was das Gesetz mir gebot.

Wir wollen den Toten die letzten Gedanken weihen und dann gehen.«

*

Im Frühjahr 430 rückte das spartanische Heer zum zweitenmal heran. Wieder zogen die Flüchtlingsströme nach Athen. Die Tore hatten sich kaum geschlossen, da waren die Spartaner da. Wie im Jahre zuvor ließen sie die Stadt unberührt liegen und verwüsteten das Land. Diesmal taten sie es gründlich, vernichteten die Saat bis auf den letzten Halm, rissen die Weinstöcke aus und schlugen die Olivenbäume um. Attika war wie abrasiert. Perikles entschloß sich, noch während der Anwesenheit der Spartaner, mit einem Teil der Flotte auszulaufen, um im Rücken der Feinde die peloponnesische Küste zu plündern. Die Expechtion stand unter seiner persönlichen Führung. Hundert athenische Schiffe mit viertausend Hopli-ten griffen zuerst Epidauros an in der Hoffnung, das nahe Argos würde vielleicht helfend eingreifen. Die Hoffnung trog. Sie trog auf der ganzen Linie; Epidauros wehrte den Angriff ab.

Perikles segelte weiter und rumorte an der Küste hier und da herum, ohne eine Invasion wagen oder die in Attika stehenden Spartaner im geringsten beunruhigen zu können. Alles war eine Halbheit. Er sah ein, daß es so nicht ging, und machte kehrt.

Er fand die Spartaner nicht mehr vor; in Athen war inzwischen die Hölle losgewesen! Frachtschiffe hatten aus dem Orient die »Pest« eingeschleppt. Die Epidemie war mit furchtbarer Gewalt ausgebrochen und hatte unter den zweihunderttausend zusammengedrängt lebenden Menschen schrecklich gewütet. Die Sterbenden hatten hilflos in allen Gassen und auf allen Plätzen gelegen; die Flüchtlinge, ohne Haus, ohne Hilfe, ohne einen Flecken Erde, wo sie hätten gepflegt werden können, waren verkommen, wo sie lagen. Unter den Opfern befanden sich auch die beiden Söhne des Perikles aus dessen erster Ehe. Die heutigen Mediziner vermuten, daß es sich um Lungenpest, wahrscheinlich aber nur um Typhus gehandelt habe. Gegen beides war man hilflos.

Die Spartaner hatten von den entsetzlichen Vorgängen nichts gemerkt, bevor ihnen die ersten Kranken in die Hände fielen. Sie töteten sie sofort und verließen fluchtartig Attika.

Als Perikles zurückkehrte, war die Epidemie bereits im Erlöschen; das Volk erwachte gerade aus der Lethargie und fand seine Wut wieder. Im Nu war man in einem Zustand, der sich entladen mußte — auf dem Haupte eines Schuldigen; das war klar. Früher hätte man homerische Gesichte vom bogenschießenden Apoll gehabt; man hätte sich an die Brust geschlagen. Jetzt schlug man sich an die Stirn. Früher hätte das Volk vor dem Altar angeklagt. Jetzt klagte es vor Gericht. Der Schuldige war Perikles; darüber war man sich einig.

Die Volksversammlung setzte ihn als Strategen ab, der öffentliche Ankläger zitierte ihn vor ein Sondergericht. Es bestand aus i 501 Bürgern, aus 1 501 mißlaunigen, wütenden, von ihren eigenen enttäuschten Wünschen und vernichteten Hoffnungen verhetzten Männern.

Eine Anklage war schwer zu erfinden. Man griff daher jämmerlicherweise auf die altbewährte Formel zurück, die schon so vielen das Genick gebrochen hatte: Man beschuldigte Perikles der Unterschlagung von Staatsgeldern. Der Ankläger forderte die Todesstrafe.

Nachdem die 1 501 die Süße genossen hatten, den Ersten Mann des Staates, den Lenker ihrer Geschicke, den Liebling des Volkes zu demütigen, kamen sie zu einem wenigstens nicht ganz und gar jakobinischen Urteil; sie enthoben ihn nur aller Ämter und verurteilten ihn zu einer Strafe von fünfzig Talenten.

Die ganze tragische Prozedur scheint schnell und lautlos vor sich gegangen zu sein; Thukydides überliefert uns kein Wort aus Perikles’ Mund. Schweigend nahm der alte Mann die Anklage und schweigend das Urteil entgegen.

Als er gegangen war, stellte sich heraus, daß er keinen Nachfolger herangezogen hatte. Alte, despotische Männer fühlen sich unter Nullen wohl.

Das Staatsschiff schaukelte also mit den Restbeständen an Perikleischen Plänen durch den Winter. Man verlegte den Korinthern die Kornzufuhr aus Sizilien und hatte auch einen »schönen Erfolg« hoch im Norden, auf der Halbinsel Chalkis. Man brachte eine revoltierende Stadt zur Räson, metzelte Einwohner hin, wurde auf dem Rückmarsch angegriffen, geschlagen und nun selbst hingemetzelt; man fing auch eine Gesandtschaft Spartas ab, die auf dem Wege nach Persien war, brachte sie nach Athen und machte sie einen Kopf kürzer.

Als im Frühjahr 429 Archidamos mit dem spartanischen Heer zum drittenmal erschien, war die Ratlosigkeit der athenischen »regierenden« Hammelherde so deutlich geworden, daß man nichts mehr dabei fand, nun auch noch die Schamlosigkeit auf die Spitze zu treiben und Perikles wieder zum Strategen zu berufen.

Er war wieder da! Die Nachricht lief durch die Stadt und ließ die Hoffnungen steigen. Der Vater und die Kinder waren sich wieder gut! Alle atmeten auf.

Die Hoffnung trog. Der alte, müde, gebrochene Mann hätte nein sagen sollen. Zweiunddreißig Jahre hatte er regiert. Er wäre wie ein Gentleman abgetreten. Aber er blieb wie ein Minister.

Das Volk wartete, daß große Dinge geschehen würden. Was sollte geschehen? Perikles wußte so wenig einen Ausweg wie alle anderen. Er war krank, zu krank.

Der Sommer schleppte sich hin, ohne daß sich die Lage der zweihunderttausend in Athen Zusammengepferchten geändert hätte. Sie waren sicher wie in einem Tresor; und am Ersticken wie in einem Tresor. Sie hatten den Krieg, die Scherereien, die Entbehrungen, die Epidemie, kurz, alles satt und wollten ein Ende sehen. Der verwöhnte athenische Plebs (denn von Platää, Theben, Megara, Sparta hören wir bezeichnenderweise nichts dergleichen) haderte mit Gott und der Welt, außer mit sich.

Man beschloß, Schluß zu machen; und mit der ganzen Frische derer, die eine günstige Okkasion anbieten, streckte man Sparta über die Mauer die Hand hin. Sparta lehnte eisig ab. Angesichts dieser neuen ausweglosen Lage und ehe das Volk auf den Gedanken kam, sich erneut auf einen »Schuldigen« zu besinnen, schickte sich Perikles an, das zu tun, was ihm jetzt wohl am liebsten war: zu sterben. Die »Pest« hatte auch noch ihn ergriffen, als eines der letzten Opfer.

Im August 429, siebzig Jahre alt, wurde er von seinem geliebten Volk erlöst. Es konnte nun nichts mehr von ihm fordern — wie schön.

Athen war bestürzt — erschrocken — wehmütig — betrübt; der Pegel der Gefühle scheint rasch gesunken zu sein. Es nahm von keinem Genie, es nahm von einer lieben Gewohnheit Abschied. Perikles hatte seinen Ruhm überlebt.

»Die Götter ersparten ihm zu sehen, wie die Polis, Athen, auf dem Wege, den er ihr gewiesen hatte, blind vorwärtsstürmend zerschellte« (Berve).

Rosen für Apoll
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