An dieser Stelle wäre eine gewisse Ungeduld und die Frage zu verstellen: Wann kommen denn endlich die Perser? Es ist wahr, die ganze Sache ist vorläufig noch nicht richtig im Schwung. Man sieht Athen und Sparta, Korinth und Theben, links eine Stadt, rechts eine Stadt, oben eine, unten eine, links eine Tyrannis, rechts eine Volksvertretung, in Ephesos eine latente Monarchie, in Thessalien Feudalherrschaft, in Delphi Priesterdiktatur, in Lokris (50 Kilometer weiter) die »Hundert Geschlechter«-Wirtschaft, in Syrakus Plutokratie, in Chalkis Militärprimat, 6 »Staaten« auf Lesbos, 22 in Pho-kis, 100 auf Kreta; man sieht Apollon-Tempel, Zeus-Tempel, Athene-Tempel, Hermen, Akropolis, Gymnasion, Marktplatz, Säulen, Mauern, Marmor, Gärten, Knaben, Homer, Harzwein, Ziegen, Segel, Trierenschlag, Küsten, Sonne, Lügen, Lachen, man sieht dieses und jenes, aber man sieht »Griechenland« nicht.

Genauer gesagt: Man sieht Griechenland nicht in Bewegung. Geschichte wird offenbar erst durch Bewegung sichtbar. Daher haben zum Beispiel die Schweizer auch keine Geschichte mehr. Aber sie tragen es wie andere Leute den Verlust des Blinddarms.

»Wann kommen denn endlich die Perser?« — das ist ein Satz, der zweierlei verrät. Erstens, daß Sie ein vorzügliches Gedächtnis haben, und zweitens, daß Ihr Gefühl Griechenland gegenüber vollständig richtig ist: Alles wäre sofort anders, wenn etwas hereinbräche, wenn die Bäume, vor denen man den Wald nicht sieht, im Sturm lebendig würden.

Das ist unbedingt wahr. Dareios, der zu dieser Zeit als dritter Großkönig nach Kyros und Kambyses über das neuerstandene persische Reich herrschte, war sich dieser Wahrheit ebenso bewußt, aber mit seiner Rüstung für den 3 000 Kilometer langen Weg noch nicht fertig. Das ist mir sehr lieb, denn ich muß unbedingt noch eine Sache nachholen, ohne die Sie das plötzliche Auftauchen ausgerechnet von Persern nicht verstehen würden — obwohl ich zugebe, daß es für das plötzliche Auftauchen von Generälen irgendwo eigentlich keiner besonderen menschlichen Erklärung bedarf.

Wir waren in Sparta und verlassen es mit den Gefühlen, mit denen man einst Potsdam nach einem Pflichtbesuch beim Soldatenkönig den Rücken gekehrt hat: Man saß in der Diligence, trocknete sich die Schweißperlen von der Stirn und war voll Bewunderung.

So bleibt nun Sparta bis ans Lebensende. Es ist nie vernichtet worden, nie untergegangen; es ist versteinert.

Athen aber steht bereits wieder kopf.

510 war Hippias vertrieben worden. Die Alkmaioniden — »unter den vornehmen Familien durch besondere Freiheitlichkeit und geistige Beweglichkeit ausgezeichnet«, wie ein moderner Historiker sie nennt — , die Alkmaioniden rissen infolge ihrer geistigen Beweglichkeit und als Entschädigung dafür, daß sie so schwer »das Brot der Verbannung essen mußten« (ein anderer moderner Historiker), sofort die Regierung an sich. Der alte Megakies war tot, neuer Chef des Hauses war ein Mann namens Kleisthenes.

Kleisthenes stand vor derselben schweren Hauptaufgabe, vor der auch ich stehe: Ich muß Ihnen und er mußte den Athenern klarmachen, daß er ein Mann von der Untadeligkeit und Uneigennützigkeit eines Solon war. Er war es tatsächlich. Er war also insofern ein völlig entarteter Sproß dieser berühmten Familie.

Vor allem die Adligen wollten das zunächst nicht glauben. Als Kleisthenes seine ersten, fast demokratischen Reformpläne bekanntgab, dachten sie lange, er wolle sie foppen. Als sie sahen, daß es ernst war, schlossen sie sich unter einem Aristokraten namens Isagoras zusammen, an dem der alte Megakies seine Freude gehabt hätte. In bekannter Freiheitlichkeit und geistiger Beweglichkeit holte Isagoras den Feind Sparta erneut nach Athen. Sparta wäre wohl nicht gekommen, wenn Isagoras nicht zufällig ein alter Gastfreund der Könige gewesen wäre. So rückten also die Spartaner zum zweitenmal ein, diesmal zur Befreiung von der Demokratie. Kleisthenes verließ die Stadt, 700 Familien mit ihm. Man schickte ihm den Fluch »ewiger« Verbannung nach und riß seine Häuser ein.

Der Adel, noch im Schutze der Besatzung, machte sich sofort daran, die alte Burschenherrlichkeit wieder auferstehen zu lassen. Das überschritt nun selbst für die Athener die Grenzen des Interessanten. Ohne daß ein langes Grollen es vorher angekündigt hätte, nahmen sie eines Morgens die Schwerter von der Wand (seit Peisistratos hatten sich die Innenarchitekten der Schwerter bedient) und schlossen Isagoras mit seinen Spartanern samt ihrem König Kleomenes auf der Akropolis ein. Das war tollkühn — wie man diese heiteren Wiener aber später noch öfter sah. Tatsächlich kapitulierten die Spartaner. Sie erhielten freien Abzug und bekamen als Geschenk noch Isagoras drauf.

Kleisthenes und die 700 Planwagen kehrten zurück. Das war im Jahre 508.

Die Erfahrung hatte ihn nun gelehrt, daß es für die Ruhe einer Stadt keine dringlichere Aufgabe gab, als einen Weg zu finden, die Stände-Gruppierung zu zerschlagen. Kleisthenes’ Gedanken kreisten sehr richtig um eine Lösung, die das gesamte Volk neu gliedern sollte, nicht nach Ständen, nicht nach Besitz, nicht nach Wohnorten, denn diese drei Gesichtspunkte schienen ihm unfruchtbar, sie verbanden nicht, sie trennten. Die zu findende neue Gliederung mußte den Zugehörigen einen gemeinsamen Sinn geben. Aber wie?

Da Kleisthenes ein echter Staatsmann war, fand er die Lösung. Er teilte Athen, Binnenland und Küste, also jene drei Gebiete, die schon immer ein Begriff und in so vielen Dingen Gegner gewesen waren, in je zehn Teile. Je ein Zehntel von Athen schloß er jetzt mit einem Zehntel vom Lande und einem Zehntel der Küste zu der Einheit einer »Phyle« zusammen. Das wäre reine Theorie geblieben, wenn er diesen Phylen nicht einen Inhalt gegeben hätte, der einer Interessengemeinschaft über allen Klassenleidenschaften gleichkam. Diese Idee war die große Leistung! Kleisthenes sagte: Nicht mehr eine Ortschaft und nicht mehr ein Stand wird künftig die Regimenter aufbringen, sondern die Phyle. Jede der zehn Phylen (also ein Drittel Athen plus ein Drittel Land plus ein Drittel Küste) hat eine Einheit zu stellen. Sie wählt einen eigenen Kommandeur; die zehn Kommandeure unterstehen direkt dem Polemarchen, dem heerführenden Archonten.

Um uns die Kraft dieses neuen Gedankens, der mehr als ein Gedanke, der ein neues Volksgefühl war, klarzumachen, brauchen wir uns nur daran zu erinnern, wie fest seinerzeit der Weltkrieg 1914/1918 zum erstenmal ein Regiment aus Nürnbergern, Bremern und Breslauern zusammengeschweißt hat.

Aber Kleisthenes legte noch eine zweite Klammer an. Er erhöhte die große Ratsversammlung von den solonischen 400 Sitzen auf 500 und bestimmte, daß es wieder die Phylen sein sollten, die die Mitglieder zu stellen hatten. Kein Zweifel, jetzt begannen die Gedanken der Arbeiter, Bauern, Fischer, Kaufleute, Grundbesitzer, der Künstler, Bankiers und Beamten weit mehr um ihre Phyle zu kreisen als um ihren Stand. Es nützte nun nichts mehr, daß sich die Fischer untereinander verbanden, sie mußten sich mit ihrer Phyle verständigen, das war wichtiger. Bei der Ratsversammlung lamentierten nicht mehr links die Kaufleute, rechts die Grundbesitzer, sondern die Phylen standen beisammen, so wie heute noch in der Schweiz nicht die Parteien beisammenstehen, sondern »die Berner«, »die Unterwaldner«, »die Züricher«. Und bald geschah es, daß man sich in Attika nicht mehr wie früher »Demarchos, Sohn des Lysippos« nannte, sondern seinen Rufnamen mit dem Demosnamen der Phyle verband. Die Phylen hatten herrliche Namen, sie hießen alle nach appetitanregenden athenischen Heroen.

Ein großer und neuer Reiz, sich politisch zu fühlen, lag auch darin, daß in der Zeit zwischen den Versammlungsterminen stets 50 Mitglieder, gewissermaßen als »Nachtdienst«, in Athen anwesend sein sollten. Es traf also jede Phyle einen Monat, und es war natürlich wunderbar für die Leute vom Lande oder von der Küste, 30 Tage in Athen zu sein und sich im Prytaneion, dem »Regierungspalast«, verpflegen zu lassen. Fünfzig Männer unter sich — wer die Südländer kennt, ahnt ihr Wohlgefühl!

Das Erstaunliche an Kleisthenes war nicht das Rechtfinden oder das Sozialordnen, worin er kleiner war als Solon oder Peisistratos, sondern das Erdenken von bisher Undenkbarem, das Aus-der-Luft-Greifen von Ungeahntem, das Erfinden. Er war auch der Erfinder des Ostrakismós, des »Scherbengerichts«, das später eine so große Rolle spielen sollte. Es ist das erste Volksbegehren. Aber worauf richtete es sich! Sie würden nie darauf kommen: Alljährlich wurde der gesamten Volksversammlung die Frage vorgelegt, ob in diesem Jahre ein Scherbengericht abgehalten werden solle; war die Mehrheit dafür, so erhielt jeder eine Tonscherbe, auf die er den Namen desjenigen Mannes kritzeln konnte (nicht mußte), den er für eine Gefährdung, Bedrohung oder Beunruhigung des Staatskurses hielt. Wurden mindestens 6 000 Stimmen abgegeben, so mußte derjenige, der die höchste Stimmzahl erhalten hatte, für zehn Jahre außer Landes gehen; ohne Verlust der Ehre oder seines Besitzes. Scherbengerichte waren schicksalhafte, dramatische Entweder-oder-Augenblicke des ganzen Volkes, und wer die griechische Geschichte kennt und im Nationalmuseum von Athen zum Beispiel vor jenen ausgegrabenen »Scherben« steht, mit denen die Athener einen ihrer größten Söhne, Themistokles, in einem schrecklichen Irrtum verbannt haben, der wird sich einer starken Bewegung kaum erwehren können.

Der Gedanke, den Kleisthenes hier geboren hatte, war von dämonischer Tiefe. Kein heutiger Staat würde es wagen, ihn aufzunehmen. Ganz abgesehen davon, daß sich das gesamte Ausland für unsere Verscherbelten bedanken würde.

Bewundern Sie die lodernde Flamme Griechenlands!

Die »Isonomie«, so nannte man die neuen Errungenschaften, war geboren. Diese Isonomia, das Prinzip der Bürger-Gleichheit, wird vom 20. Jahrhundert gerne als Demokratia, als echte Volksherrschaft, ausgegeben, weil es so schön wäre, wenn die moderne Demokratie eine lange Ahnenreihe hätte. Unsere Demokratie ist aber, es läßt sich nicht ändern, ein Parvenü und hat mit der Isonomie Athens nur so viel Ähnlichkeit wie ein Telefon mit dem ersten Morseapparat.

Es war die erste Isonomie der Welt. Übrigens ist sie ewig ein Fremdkörper in Griechenland geblieben, es ist zwecklos, das zu beschönigen. Der Grieche war Theatraliker, himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, frierend und schwitzend; Isonomie aber ist Air-conditioning.

Jedoch — es war neu und infolgedessen spannend, und als Sparta, auf gestachelt von Isagoras und von Delphi, dem Vatikan der alten Griechen, zweimal durch einen Gesandten intervenieren ließ, kochte ganz Athen. Im Frühjahr 506 waren sich Sparta, Chalkis und Theben einig, die Isonomie in Athen zu beseitigen. Drei Heere stießen in Richtung Attika vor. In diesem Augenblick größter Bedrängnis entschloß sich Kleisthenes zu einem — wie könnte es bei ihm anders sein — ungewöhnlichen Schritt: Er stellte Athen unter den Schutz des Perserkönigs! Eilboten gingen an den persischen Satrapen von Kleinasien ab und überbrachten ihm zum Zeichen der Unterwerfung Wasser und Erde Attikas. Jetzt kochte Sparta!

Aber ob es nun die Nachridit von diesem Schritt war oder ob Uneinigkeit der Grund gewesen ist — das spartanische Heer, das schon bis Eleusis vorgedrungen war, machte kehrt. Die Thebaner ahnten von ihrer Isolierung noch nichts und marschierten wacker weiter. Kleisthenes rief die Phylen auf. Sie sollten nun ihre Feuerprobe bestehen.

Sie bestanden sie.

Theben und Chalkis wurden geschlagen.

Sparta, beschämt und betreten, holte vom grünen Tisch noch schnell zu einem Schlage aus. Ich sollte Sie eigentlich schonend darauf vorbereiten, weil Sie es kaum glauben werden: Sparta trat an die Perser mit der Bitte heran, Hippias, der sich in Kleinasien aufhielt, in Athen wieder als Tyrannen einzusetzen!

So ist die Welt, meine Freunde. Honny soit qui mal y pense, wie die Engländer zu sagen pflegen.

Jedoch, was in unserer Zeit ohne weiteres gelungen wäre, gelang damals Sparta nicht, und Kleisthenes konnte sich nach einem erfindungsreichen Leben ohne Sorge zur Ruhe legen. Ein Denkmal freilich setzte man ihm nicht. Das wurde gerade für Harmodios und Aristogeiton aufgestellt. So ist die Welt, ich sagte es schon.

Rosen für Apoll
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