Als das Gewitter vorüber war und die Wolken sich verzogen hatten, überblickten die Griechen, in welcher Gefahr sie geschwebt hatten. Von einer großen Schlacht in Sizilien erfuhren sie überhaupt erst nachträglich: der Schlacht am Himerafluß; sie hatte gleichzeitig mit Salamis stattgefunden.
Das Ganze war ein großangelegtes Manöver von Xerxes gewesen. In Sizilien lag eine Reihe blühender dorischer Kolonien. Die Zeiten hatten sich gewandelt; aus der einstigen »Hofseite« war eine neue Sonnenseite geworden und aus der rauhen Insel eine Dependance Spartas, schöner noch, eleganter, lebenslustiger; ein blumengeschmückter Balkon nach Westen.
Xerxes hatte recht, wenn er kombinierte, daß der Verlust Siziliens die Griechen hart treffen würde. Aus diesem Grunde und in der Überzeugung, bereits darüber verfügen zu können, bot er das Schmuckkästchen den afrikanischen Karthagern an. Man schloß ein Bündnis und verabredete, Sizilien im gleichen Augenblick anzugreifen, wenn Xerxes in Griechenland stehen würde.
Aber das karthagische Heer wurde von den vereinigten sizilianischen Städten am Himera geschlagen, so vernichtend geschlagen, daß der karthagische Feldherr nicht heimzukehren wagte, sondern sich das Leben nahm. Der Mann, der das griechische Heer geführt hatte, war Gelon, Tyrann von Syrakus. Der Sieg hob ihn nun in eine geradezu königliche Stellung. Er wurde eine Art Polykrates. Die Staatsform der Tyrannis hat sich in Sizilien noch weit über hundert Jahre gehalten. »Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich Dämon, den Dolch im Gewände...« Mit diesem Dionys endete später die Kette der großen Alleinherrscher in Sizilien.
Schön wäre es gewesen, schön wie ein Märchen, wenn alle Griechen jetzt die Hand aus der Himationfalte gezogen, sie einander hingestreckt hätten und Friedrich Schiller gefolgt wären, ein einig Volk von Brüdern zu sein. Über die Entfernung von zweieinhalbtausend Jahren hinweg möchte man die Griechen und ihre Poleis nehmen und, in besserem Wissen um ihr Glück, mit der Faust zusammenpressen — das ist eine berühmte »Nachfahren«-Empfindung; sogar Historiker können sie oft nicht unterdrücken. Kein Grieche aber wäre nach den Perserkriegen auf diesen Gedanken gekommen. Man legte den Krieg zu den Akten, und alle alten Eigenschaften feierten fröhliche Urständ.
In Athen hatte man überhaupt keinen anderen Wunsch, als sich zunächst einmal auf dem Kerameikos über die Heldentaten gegenseitig auszusprechen, Mutmaßungen über den unsterblichen Ruhm anzustellen und die Sklaven zu ermuntern, sich mit dem Wiederaufbau der Häuser zwecks Feiern von Symposien möglichst zu beeilen.
In diesen Tagen stand Themistokles Tag für Tag in Versammlungen und versuchte, die Athener aufzurütteln, ihre Pergola oder ihre niedergebrannte Färberei liegenzulassen und erst noch zu tun, was die Stunde gebot. Mit einer Ausdauer und Beharrlichkeit, einer Prägnanz und Schärfe, wie sie eigentlich ganz ungriechisch waren und dem Volk fürchterlich auf die Nerven gegangen sein müssen, wiederholte er beständig eine These: Athen muß sofort zur stärksten Festung Griechenlands ausgebaut werden, und zwar ehe es die anderen merken, sie werden es sonst verhindern; der jetzige Zustand ist ihnen gerade recht.
Im Winter 479/78 hatte er tatsächlich im Rat der Fünfhundert den Beschluß erreicht, Athen mit einer Mauer »modernster Art« zu schützen.
Das wurde kaum publik, da zeigte sich, daß er die Situation richtig gesehen hatte: Ein Sturm der Entrüstung ging durch Hellas. Ägina protestierte, Megara protestierte, Sparta protestierte — es sah aus, als hätten sie alle fürs nächste vorgehabt, Athen zu überfallen.
Diese Reaktion hatten die Athener nicht erwartet. Jetzt begannen sie sich — alle, auch der letzte Färbermeister — zu versteifen. Themistokles erbot sich, nach Sparta zu gehen, um — wie man heute sagen würde — ein »gutes Gespräch zu führen«, das heißt, den Spartanern ihre Unverschämtheiten auszureden; aber er verlangte, daß die Athener inzwischen unbeirrt und im Eiltempo die Mauer erbauen sollten, einfach um eine vollendete Tatsache zu schaffen. Das tat man. Das tat man gern, denn nun war es ein Abenteuer. Man baute, während Themistokles mit den »Freunden« sprach, wie besessen; man verbaute, da man nicht genug Steine besorgen konnte, sogar Grabstelen in die Mauer. Sobald der Hauptteil fertig war — und das scheint in Windeseile geschehen zu sein —, ging man an die Befestigung des Piräus-Hafens. Themistokles schwebte vor, Athen und den Hafen durch eine ummauerte Straße zu einem Ganzen zu verbinden, ein gigantischer Plan. Als Themistokles heimkehrte und die fast fertigen Wälle sah, fiel ihm ein Stein vom Herzen, mit dessen Hilfe man die Mauer auf sechs Kilometer Länge ausdehnen konnte.
Die Reise nach Sparta war vergeblich gewesen, natürlich. Die Spartaner verlangten die sofortige Einstellung der Arbeiten. Ihrem Wunsche konnte nun willfahren werden, die Steine waren sowieso zu Ende.
Kühne Menschen pflegen hier zu betonen, daß man auf Proteste pfeifen könne, jedoch irren kühne Menschen oft. Der Gang der Weltgeschichte wird mitunter durch die unscheinbarsten Dinge, zum Beispiel durch solch ein Pfeifen, bestimmt. Tatsächlich gibt es eine Reihe von Historikern, die sagen, der endgültige Zerfall des hellenischen Volkes, der endgültige Bruch zwischen Athen und Sparta und der Keim zum späteren Peloponnesischen Kriege sei in jenem Winter 479/78 und in dem Plan des Themistokles zu suchen. Und sie fahren mit der Mahnung fort: verzichten und gute Gespräche führen! Ich aber, meine Freunde, sage Ihnen: Folgen Sie ihnen nicht! Im Rückwärtsblicken erscheinen die meisten Wege in der Weltgeschichte als zweigleisige Möglichkeiten, die es in Wahrheit niemals waren.
Athen also pfiff. Und es merkte, daß es sich mit hundertfünfzig Kriegsschiffen und einer neuen Festungsanlage im Hintergrund nicht nur viel ruhiger pfeift, sondern auch viel ruhiger schläft. Athen trat in diesen siebziger Jahren in die oft zitierte und vielbesungene »Pentekontaetie« ein. Sie brauchen sich das Wort, obwohl es in keinem besseren Geschichtswerk fehlt, nicht zu merken; es läßt sich sehr einfach übersetzen mit »die fünfzig fetten Jahre«. Ehe wir aber in diese goldene Zeit eintreten und den unübertroffenen Perikles erleben, müssen noch einige Dinge erledigt werden, sowohl von den Athenern als von uns.
Die ionischen Städte in Kleinasien waren sofort nach Salamis und Platää auf gestanden! Man hatte die persischen Statthalter vertrieben und fühlte nun den Wind eines zweiten ionischen Frühlings anheben.
Andererseits war man nüchtern genug einzusehen, daß mit einer vorübergehenden Schwierigkeit des Großkönigs noch gar nichts für die Dauer gewonnen war. Aber man nahm das Risiko einer neuen furchtbaren Abrechnung tapfer auf sich und sagte sich offen von Xerxes los. Der verlorene Sohn, richtiger die verlorene Tochter, kehrte also zurück, breitete die Arme gläubig aus und sagte entwaffnend zu ihrem Mutterland: Hier bin ich, hier hast du mich!
Bekenntnisse dieser Art pflegen eine überraschende Wirkung zu haben. So auch hier: Das Mutterland war in tödlicher Verlegenheit. Die Lage zwang Griechenland nun, den Freiheitsanspruch gegen Xerxes auch auf die kleinasiatische Küste auszudehnen. Das bedeutete, daß der Perserkrieg demnach noch nicht beendet war: Man konnte sich an den fünf Fingern ausrechnen, daß der Großkönig vielleicht das griechische Mutterland zu den Akten gelegt hatte, niemals aber in einem Atemzuge auch Ionien. Das sahen die Spartaner, und das sahen die Athener. Wie reagierten nun die beiden?
Die Spartaner — ach, lassen Sie uns, um der Plastizität willen, ein anderes Wort sagen —, die spartanischen Peers schlugen vor, die ganze Küste zu evakuieren und die ionischen Griechen im Mutterland neu anzusiedeln! Natürlich müßten sie komplette, fertige Städte erhalten. Zu diesem Zweck, so meinten die Peers, könnte man doch sehr gut solchen Leuten wie den Thebanern und anderen Perserfreunden die Städte wegnehmen und sie für die tapferen Ionier »frei machen«.
Ein Plan modernster Art! Jedoch kam es zu einer Umsiedlung solchen Stiles jetzt noch nicht, sondern erst 1945 nach Christus. Die Ionier waren nämlich dagegen, weil sie ihre Städte viel hübscher fanden. Das ist ein Gesichtspunkt; wenn auch ein überraschender. Aber dieser Wunsch wäre nicht ausschlaggebend gewesen, wenn nicht auch Athen den spartanischen Plan abgelehnt hätte. Und nun muß ich Ihnen ein Stück großer Politik der damaligen Welt erklären. Wenn Sie die ganze Kettenreaktion erleben, erinnern Sie sich bitte, daß sie durch nichts anderes ausgelöst wurde als durch einen Einfall, durch einen einzigen, dazu noch unverbindlichen kleinen Vorschlag Spartas.
Der Einfall, die Ionier umzusiedeln, hatte den teuflischen Hintergedanken, ganz Mittelgriechenland zu einem Unruheherd zu machen. In den Peloponnes hätte Sparta natürlich keinen einzigen Ionier aufgenommen. Man spekulierte auf die Habgier Athens und seinen Haß gegen Theben. Fünfzig Jahre später wäre der Plan geglückt.
Jetzt aber mißlang er. Der Mann, der ihn durchschaute, war Themistokles. (Die Spartaner haben von da an ein geheimes Kesseltreiben gegen ihn begonnen; man kann Schritt für Schritt verfolgen, wie er eine Laokoonfigur wird, ohne daß man die Hände sieht, die ihn einschnüren.)
Spartas nächster, offizieller Schritt war, sich desinteressiert zurückzuziehen, sobald der Umsiedlungsplan verworfen war. Nun kam Athen in eine neue fatale Lage: Es trug die Verantwortung allein. Denn Ionien stand immer noch mit erwartungsvoll ausgebreiteten Armen da.
Der Schachzug, mit dem Themistokles antwortete, sah zunächst aus, als sei er nichts als eine Notlösung: Athen schloß mit den wichtigsten ionischen Städten und Inseln feierlich ein »ewiges« Treue- und Schutzbündnis, den sogenannten »Delisch-Attischen Seebund«. Sparta war immer noch der Meinung, diplomatischer Sieger zu sein. Man rekapitulierte: Was hatte sich an der Lage Ioniens geändert? Nichts. Was hatte sich an der Lage Athens geändert? Es hatte eine zentnerschwere Verpflichtung am Bein.
Die Geschichte aber hat bewiesen, daß Themistokles der Sieger in dem politischen Ringen blieb. Es war genial, aus dieser fürchterlichen Zwangslage Gold zu schlagen — übrigens pures Gold. Der Attische Seebund, seine letzte Schöpfung, wurde ein Wendepunkt für Athen, er wurde das Sprungbrett an die Macht über halb Griechenland. Entsetzt merkte es Sparta zu spät. Die Croupiers hatten ihr rien ne va plus gesprochen.
Ich würde Ihnen jetzt gerne etwas über diesen Attischen Seebund erzählen, um zu zeigen, wie einfach die Sache war, verstünde jedoch, wenn Sie sagen würden: Meister, es ist uns offen gestanden egal, ob die Sache einfach war oder nicht; wenn es unbedingt sein muß, so sagen Sie uns, was Sie drängt, aber sagen Sie’s kurz.
Zu Unrecht! Zu Unrecht! Wir erleben hier wirklich die Geburtsstunde des goldenen Zeitalters von Athen. Hier keimt der künftige sagenhafte Reichtum Athens, der aus der Stadt das Juwel Griechenlands machte, und hier keimt die künftige sagenhafte Unverschämtheit des Volkes, die aus der Stadt wieder eine Ruine werden ließ.
Der Attische Seebund war die erste griechische Gemeinschaft, die in einer uns liebvertrauten Weise durchorganisiert war. Man schuf eine gemeinsame Kriegsflotte, zu der jedes Mitglied eine bestimmte Anzahl Schiffe zu stellen hatte. Wer dazu nicht imstande war, hatte Ersatzzahlungen zu leisten, die in eine gemeinsame Kasse flössen. Als Bundesbank wurde — um die Vormachtstellung Athens nicht gar zu aufreizend herauszustellen — der Apollon-Tempel der kleinen ägäischen Insel Delos bestimmt. Athen stellte eine Gruppe von Beamten zusammen, die die Bundesbank künftig zu leiten hatten. Sie nahmen in Delos ihren Wohnsitz. Die Beiträge sollten den früheren Tributzahlungen an die Perser entsprechen, nicht mehr und nicht weniger — es genügte. Die Summe, die zusammenkam, hatte eine schwindelnde Höhe: 460 Talente — ein Riesenvermögen. Die Bundesbank wurde von einem Tag auf den andern ein Machtfaktor.
Treuhänder des Bundes war Aristides, »der Gerechte«, der alle Zeitläufe überstehende, untadelige, rechtschaffene und etwas langweilige, also geborene Beamte! Er hat seines Amtes auch stets mit zuverlässiger, dienender, amusischer und höhenflugfreier Sachlichkeit gewaltet. Er war jetzt endlich auf dem richtigen Platz.
Der Seebund faßte als erste Aufgabe die Vertreibung der Perser aus Thrakien und die Sicherung der beiden Übergänge am Hellespont und am Bosporus ins Auge. Das sollte rasch geschehen, solange der Großkönig noch in innerpolitische Wirren verwickelt war. Die Bundesflotte versammelte sich, ein imposantes Aufgebot, ein hoffnungsfrohes Abenteuer — alles war gespannt und in Hochstimmung. Dann wurde ein Oberbefehlshaber ernannt. Es war, wie Sie sich nun bereits in Kenntnis des athenischen Volkes selbst sagen werden, nicht Themistokles, sondern ein neuer Mann.
Er hieß Kimon.
Ich kann Ihnen Kimon nicht besser vorstellen, als wenn ich Sie an zwei Männer erinnere, die wir gut kennen. Entsinnen Sie sich eines Kimon, der als dreifacher Olympiasieger nach Athen heimkehrte und auf geheimnisvolle Weise ermordet wurde? Und entsinnen Sie sich des Miltiades, Sieger von Marathon, der sich privat die athenische Flotte auslieh, um sich ein Fürstentum zu erobern? Zwei große Herren, zwei weltmännische, reiche, elegante Aristokraten: Diese beiden sind Kimons Vater und Großvater.
Auch unser Kimon, der Enkel, war ein Mann von fürstlichen Manieren, für das Volk allein schon durch seine Herkunft, seinen Lebensstil, seine körperliche und geistige Tadellosigkeit eine faszinierende Erscheinung; nie aggressiv wie Themistokles, immer maßvoll; nie — bildlich gesprochen — schweißbedeckt wie Themistokles, immer lavendelduftend. Unter ihm wurde man nicht mächtig, unter ihm war man es. Er bezwang nicht das Schicksal wie Themistokles, er schien von seinem Konto abzuheben.
Nach diesem letzten Satz werden Sie verstehen, daß ihn das Volk liebte. Das Volk hebt gern ab.
Dennoch ist es erstaunlich, daß nicht Themistokles, sondern Kimon gewählt wurde. Es ist erstaunlich, aber erklärlich: Sparta bohrte. Das wird nicht nur daran deutlich, wie man Themistokles langsam mißkrechtierte und kaltstellte, sondern noch viel mehr an der Gestalt seines Nachfolgers. Kimon war mit einer Tochter aus dem Hause der Alkmaioniden verheiratet, die immer antidemokratisch und prospartanisch gewesen sind; und seinen ersten Sohn hatte er Lakedaimonios, »Spartaner«, getauft! Der Umschwung Athens zur Spartafreundlichkeit, zur Illusion eines möglichen Zusammengehens, hat die Athener viele Umwege gekostet; aber das war nicht das Schlimmste: Er hat sie Themistokles gekostet.
So kommt ein Gefühl der Abneigung gegen Kimon zustande. Ich teile es. Jedoch bald werden wir uns nach solchen Männern sehnen. Er war einer der letzten Gentlemen der athenischen Geschichte, und sein Bild vergoldet sich, sobald man in der nachperikleischen Zeit unter den Proleten herumwühlen muß.
Kimon segelte also los und säuberte Thrakien und den Hellespont von den Persern. Er erledigte die Aufgabe fehlerlos. Ein sehr großes Kunststück war sie nicht.
Am Bosporus traf er unerwartet einen alten Bekannten von uns, den wir aus den Augen verloren haben. Kimon fand diesen Herrn in dem ehemals persischen Stützpunkt Byzanz vor, wo er sich häuslich niedergelassen und in aller Stille ein kleines Privatfürstentum errichtet hatte. Sie werden nicht ahnen, wer es war: Pausanias, der Sieger von Platää. Vor Jahren sollte er im Auftrag Spartas tun, was jetzt Kimon für Athen tat, nämlich den Bosporus befreien. Das hatte er auch getan, plötzlich aber war er zum Abenteurer geworden. Er hatte die Flotte zurückgeschickt und war in Byzanz geblieben.
Die ganze Geschichte kam seinen Zeitgenossen, vor allem den Spartanern, vollständig verrückt und verantwortungslos vor. Man hielt ihn für übergeschnappt.
Er war es sicher nicht. Er war ein Zuspätgeborener. In ihm brach noch einmal das Konquistadorenblut durch. Er versuchte nichts anderes als das, was viele vor ihm getan hatten. Er war, wie seine Vorbilder, in die »Wildnis« gefahren, dorthin, wo noch Land zu haben war. Die Zeit, in der man noch Fürstentümer gründen und sich selbst unter die Könige einreihen konnte, lag erst achtzig Jahre zurück. Dennoch war sie endgültig vorbei. Pausanias sollte es sofort merken. Die Zeit, in der er lebte, betrachtete sich als fertig, als abgeschlossen, als stabilisiert und duldete keine privaten Experimente mehr. Pausanias scheiterte an der Aufgeklärtheit des Volkes, für das der »Gotha« fertig ausgedruckt war. Wie heute. Er scheiterte auch an dem ganz modern anmutenden Anspruch der Staaten, die Welt nur noch dienstlich zu betrachten und weiße Flecken auf der Landkarte ausschließlich als Staatsangelegenheiten anzusehen. Pausanias’ Zeitgenossen hielten die Vorstellung, jemand könne sich einfach aus der Bürgerschaft lösen und einen eigenen Staat bilden, für »mittelalterlich«. Kimon machte ihm daher auch sofort klar, daß es stets Sache eines Staates sei, etwas zu besetzen. In diesem Falle natürlich Athens. Und die Ephoren nahmen die Gelegenheit wahr, ihren einstigen Kriegshelden noch einmal aufzufordern, nach Sparta zurückzukehren und sich vor Gericht zu verantworten. Das tat er! Er tat es so überraschend, daß es den Ephoren die Sprache verschlug. Er war wieder da, ging herum, als sei nichts geschehen, ganz der Alte. Die Ephoren, ursprünglich entschlossen, an ihm ein Exempel zu statuieren, hatten nichts vorbereitet. Es sah aus, als sei die ganze Angelegenheit erledigt.
Aber sie war nicht erledigt. Die Ephoren haben zwei Dinge nicht mehr aus den Augen verloren: ihren eigenen Helden, der aus der Reihe getanzt und sich außerhalb des »Kosmos« gestellt hatte, zur Abschreckung für alle Zeiten zu bestrafen und Themistokles, der der größte Staatsmann, aber eben der des Feindes war, zu beseitigen.
471/70 traf Themistokles aus heiterem Himmel der Ostrakismos. Er begab sich in keinen der nordgriechischen perserfreundlichen Staaten, wie man — vermute ich — gehofft hatte; er ging nach Argos.
Im nächsten Jahre wurde der Schlag gegen Pausanias geführt. Die Ephoren konnten »die notwendigen Indizien« vorlegen, um ihn als Landesverräter zu verurteilen. Leider zeigte sich der große Mann in diesem Augenblick nicht groß genug, die Konsequenz zu ziehen. Er flüchtete in das Heiligtum der Athene und stellte sich in den Schutz der Göttin. Die Spartaner umstellten den Tempel und ließen Pausanias, ihren Sieger von Platää, darin verhungern. Eine griechische Tragödie antiken Ausmaßes, aber — seltsam — nicht ohne die aristotelische Katharsis unserer Gefühle. Es ist ein Schauspiel, das »stimmt«.
Wir müssen nun eilends nach Athen überblenden, denn die Ephoren handeln schnell.
Sofort nach dem Tode von Pausanias verlangten sie von Athen einen Prozeß gegen den in Argos lebenden Themistokles und seine Verurteilung zum Tode wegen umstürz — lerischer Pläne gegen Sparta und Verhandlung mit den Persern.
Athen kam diesem Wunsch in zuvorkommendster Weise nach. Kimon, damals auch als Staatsmann schon die maßgebliche Persönlichkeit, erinnerte daran, daß Sparta durch die Abberufung des Pausanias aus Byzanz und die Überlassung dieser handelswichtigen Stadt an den Seebund die Athener »zu großem Dank verpflichtet« habe.
Hier rollt nun keine sophokleische Tragödie ab. Es kam nicht dazu; der Hauptdarsteller sprengte die Bühne. Es wurde ein Schmierenprozeß, der ausging, wie Sparta es verlangt hatte, öffentlicher Ankläger war ein Alkmaionide.
Athenische und spartanische Militärpolizei begann die Jagd auf den Verfemten. Themistokles verließ Argos und ging nach Epirus. Dort trieb man ihn weiter nach Makedonien, von dort in abenteuerlicher Fahrt über das Meer nach Kleinasien, wo ihn die Aufforderung des Großkönigs erreichte, sich in Susa zu »melden«.
Nicht Xerxes hatte die Botschaft gesandt; der alte Griechenhasser lebte nicht mehr. Artaxerxes, der neue Großkönig, empfing den Besieger seines Vaters in außerordentlicher Ehrfurcht. Er schenkte ihm, um ihn und seine Nachkommen sicherzustellen, drei große Städte zu erblichem Lehen. So verbrachte Themistokles die letzten fünf Jahre seines Lebens in Magnesia, von dessen Mauer er ein Stückchen Griechenland, Ephesos, Milet, die Bucht von Mykale und draußen auf dem Meer Samos liegen sehen konnte. Noch in unseren Tagen wurden Silbermünzen gefunden, die seinen Namen als Fürst von Magnesia tragen.
Als eine zur Saga verwandelte Tragödie endete das Leben dieses großen Staatsmannes. Er war einer der größten, die die Griechen hervorgebracht haben. Er war es, er allein, der die Sicherung Athens und die Rettung Griechenlands in der radikalen Umrüstung auf Seemacht sah, der einzige, der die Verbrüderung mit Sparta für eine Illusion, für einen zu späten, endgültig zu späten Versuch hielt. Athen wußte nicht, daß es einen König, wahrhaft von Gottes Gnaden, in seinen Mauern beherbergt hatte.
Die Griechen haben ihn nie gemocht. Er verbreitete weder den fürstlichen Glanz eines Kimon noch den milden Schein der Wunschlosigkeit eines Aristides, er besaß weder die aufregende Unverschämtheit der Alkmaioniden noch das verschmitzte Herz des Peisistratos. Die Athener empfanden ihn ganz einfach als Kränkung, etwa wie die Wiener einen Preußen als Kränkung empfinden. Er machte ihnen das Leichte schwer und das Schwere leicht; damit, so schien ihnen, stahl er ihnen das Lachen genauso wie die Tränen! Rührend, daß selbst der junge Stesilios, »an Gestalt, an Adel des Körpers und Geistes schönster aller Knaben« nicht ihn erhörte, der ihn glühend verehrte, sondern Aristides. Auch die alten Geschichtsschreiber mochten ihn nicht. Herodot kann sich nicht genugtun, den »Gerechten« zu rühmen. Der Name Themistokles fällt nur, wenn es nicht zu umgehen ist.
Inzwischen sind zweieinhalbtausend Jahre vergangen, und noch immer scheiden sich an der Gestalt des Themistokles die Geister. In dem Geschichtswerk eines heutigen Historikers steht der Satz: »Damit, daß er persischer Vasall wurde, bewies er selbst, wie wenig vom Geist der Polis in ihm war, wie recht diese daran tat, ihn auszuschließen.« In solch einem Urteil bricht, wie bei den Athenern, nicht mangelndes Denkvermögen, sondern die Galle durch.
Genauso hat Athen seinen Retter gehaßt. Es war ein ganz anderer Haß als der gegen irgendeinen früheren Regenten oder Feldherrn, es war ein Haß, der weder durch Bedrückung noch durch Unfreiheit oder Ungerechtigkeit ausgelöst wurde; es war ein Haß, der aus dem Zwerchfell kam, also von der Stelle, wo beim Pöbel die Seele sitzt.
An Themistokles wird zum erstenmal deutlich, daß das »Volk« in diesen Jahren jene berühmte Wandlung durchmachte, die nach Überschreiten des Zenits für jede Kultur kommt, jene Wandlung, die die Soziologen das »Mündigwerden der Masse«, die Psychologen den »inferioren Narzißmus« und die Philosophen die »Allergie gegen Qualität« nennen. Im Alten Testament heißt diese Situation der Sündenfall.
Die Weltgeschichte sucht sich für dieses »Mündigwerden« immer einen bestimmten Augenblick aus, ob es sich nun um 480 vor Christus oder um 1813 nach Christus handelt, nämlich den Augenblick der Rache. Der König, der Führer, der Feldherr, das Genie haben sich in der Not der Masse anvertrauen müssen; sie haben sich anbiedern müssen; sie haben die Rettung des Staatswesens nur noch mit dem »An mein Volk«-Appell bewerkstelligen können; sie haben es eingestehen, sie haben danken müssen — und nun präsentiert die Masse die Rechnung. Wie eine Sonne am Himmel geht ihr der erste Gedanke ihres Lebens auf: »Alle Räder stehen still, wenn mein starker Arm es will.«
Solche geistigen Wandlungen sind epochale Ereignisse. Zuspätgeborene, die sich dagegenstemmen, werden vernichtet, ehe sie es sich versehen.
Mit Themistokles ging die klassische Zeit zu Ende, die Zeit der Promethiden, der Könige, Tyrannen, Gaukler, Konquistadoren, Hexenmeister, Herkulesse, Räuber und Helden, Tragöden und Duzfreunde der Götter.