Die Sonne, die über dem Ägäischen Meer aufgeht und die Radioantennen auf den Dächern von Athen in Morgenrot taucht — das ist die berühmte Sonne Homers, von der Schiller sagt: »Siehe, sie lächelt auch uns!« Uns — das sind wir. Die abendländischen Nachfahren. Das trostlose 20. Jahrhundert.
Zum Glück liegt Hellas in Schutt und Asche, und kein Alkibiades kann den bornierten Wanderern mehr auf dem Töpfermarkt begegnen und sie verwirren. Hier hat das Schicksal ein Meisterwerk christlicher Nächstenliebe geliefert: mehr als Ruinen hätten wir nicht ertragen. Die bösen Buben, die Griechen, hätten uns noch im Schlaf verfolgt und um unseren Himmel gebracht.
Mit Ruinen tut sich’s leichter. Ruinen stehen da (sofern nicht Lord Elgin sie gestohlen hat), sind ernst und schweigen. So treten wir dann ziemlich ruhig vor das Angesicht Apolls und legen ihm unser Abiturientenzeugnis als Eintrittskarte zu Füßen. Oh, wir wissen, was sich gehört, wir wissen, wie man mit Apoll spricht; wir werfen oben feierlich Zahlen und Daten hinein und erwarten unten den Schlüssel zu Hellas.
Er aber will Rosen, Rosen, meine Freunde, Rosen! Vergeßt die Rosen nicht, wenn ihr den Fuß in eine Zeit setzt, in der die Götter noch verliebt waren und lächeln durften!
Was für ein Gedanke, unter einem Allmächtigen zu leben, von dem man weiß, daß er lachen und singen kann!
Das ist ein wunderbarer, ein herrlich schöner Gedanke; mit keinem Himmelreich zu hoch bezahlt.
Wer waren sie, die das zum erstenmal zu denken wagten?
Wer waren die bösen Buben, die himmlischen Sünder, die gigantischen Kinder, die vor 3 000 Jahren auf dem Meer der irdischen Freuden die schwarze Piratenflagge hißten...
*
Die Vorzeit Griechenlands ist, wie die ältesten Epochen aller Völker, in Dunkel gehüllt. Man muß weit zurückgehen, um an die Grenze der Dämmerung zu kommen. 2200 vor Christus, als wir selbst noch unter germanischen Eichen in tiefem Schlaf lagen, hatte Hellas seinen Vorfrühling, seine erste Blüte bereits in Kreta.
Kreta war die Μαχάρων νήδος Makarohn nehsos), die »Insel der wunschlos Glücklichen«. Über dem Land scheint ein langer, langer Friede gelegen zu haben. Lang, das ist etwa von Barbarossa bis heute; vielleicht gelingt es Ihnen, sich das vorzustellen. Jene Menschen scheinen wirklich die sagenhaften »glücklichen Enkel« gewesen zu sein, die immer von Kriegsministern zitiert werden und die man komischerweise nie zu sehen bekommt.
In Städten wie Knossos und Phaistos lebten 50 000 und 60 000 Menschen; ein Gewirr, ein wogendes Auf und Ab von Dächern um die Fürstenpaläste, dicht an dicht, ohne Distanz, so wie es die Erscheinung jener Spätzeit ist, ein Wirrwarr von Häusern und Gassen, ein Gewimmel von Menschen und Verkehr, sorglos vor jedem Zugriff.
Forscher haben Knossos ausgegraben: In unerhörter Pracht muß sich einst der Palast am Hang des Hügels erhoben haben, ein riesenhafter Tadsch Mahal, ein Traum aus Marmor, Gold und Alabaster, ein sonnendurchflutetes Labyrinth von Hallen, Sälen, Zimmern und Lichtschächten, voll von Fresken, Plastiken, filigranen Möbeln, Fayencen, Bronzen, Gefäßen aus Ton, Schalen und Tassen von der Zerbrechlichkeit chinesischen Porzellans; voll von kostbarem Schmuck und Stoffen, Parfüms und Badewässern in den Boudoirs, und in den Speichern und Kellern voll von tönernen Getreidefässern und bauchigen, zwei Meter hohen öl- und Weinkrügen. Nirgends »Kanonen«.
Eine Rokoko-Welt. Eine Welt der offenen Türen und Fenster. Die Frau war das Maß der Dinge. Reifröcke rauschten durch die Säle, hohe Stöckelschuhe klapperten über die Marmortreppen. (Die Männer trugen eine Art Badehose, jahraus, jahrein. Auch die Direktoren.) Das lackschwarze Haar der Frauen war kunstvoll geflochten und mit Perlen und Steinen geschmückt; die Zöpfe fielen bis zu der mädchenhaft engen Taille herab. Ein kleines Bolerojäckchen lag auf den Schultern, ein Jäckchen, das sich von den heutigen durch die Kleinigkeit unterschied, daß es kein Vorderteil hatte. Mit dem Charme von Najaden, die nichts anderes kennen, trugen sie die Brüste nackt — wenn die Malereien die Wahrheit sagen: groß, voll und samten. Und auf allen Bildern haben die Gesichter in den Mundwinkeln ein Lächeln; das berühmt gewordene »archaische Lächeln«. Ich möchte es das Lächeln des Qualitätsbewußtseins und des guten Appetits nennen. Fast glaube ich, daß auch die aus den schmutzigen Gassen, die schwitzend und schnaufend den Palast erbauten, mit diesem Lächeln geboren wurden. Man lebte dem Tag, dem Augenblick, wirklich dem Augen-Blick, der nicht fragt, wem die Schönheiten gehören, woher die Welt kommt und wohin sie geht. Nichts zeugt von historischem Bewußtsein. Nirgends ist auch nur der Rest eines Denkmals, nirgends ein Grabstein gefunden worden, der einen Namen trüge.
Μαχάρων νήδος, glückliches Kreta — eine Mozart-Ouvertüre der griechischen Geschichte. Die Sache ist dummerweise nur die: Die Kreter waren gar keine Griechen, und ihr Land war gar nicht Hellas, sondern jene große Insel, die auf halbem Wege zwischen Griechenland und Ägypten liegt. Allerdings waren die Kreter mit den Urbewohnern des Festlandes wenigstens verwandt. Andererseits waren wiederum diese Ureinwohner nicht im mindesten Hellenen. Diese vielmehr schliefen noch genau wie wir unter Schaffellen und Strohdächern, am schönen, aber weit entfernten Strand der Donau oder der Theiß. So kompliziert wird die griechische Geschichte nun bis zum letzten Atemzug bleiben, was sehr verheißungsvoll ist.
Wenn dennoch kein Schulbuch und keine wissenschaftliche Abhandlung auf die kretische Vorgeschichte verzichten, so hat das natürlich seinen Grund. Sie werden ihn verstehen, wenn Sie sich vorstellen, daß eine Ouvertüre und eine Oper von zwei verschiedenen Komponisten stammen und dennoch zusammen gespielt zu werden pflegen, weil der Opernkomponist sich für den ganzen ersten Akt der Melodien der Ouvertüre bedient.
Ein vortreffliches Wort. Es wird erst so recht plastisch, wenn ganze Völker »sich bedienen«. Wir wissen es.
Das geschah mit Kreta um 1400. Den Rest haben wir ausgegraben.
Die Katastrophe brach anscheinend über Nacht herein. Ein einziger Windstoß fegte die Blütenpracht hinweg.
Es erhebt sich nun die Frage: Woher wissen wir, wer die Leute waren, die Kreta ein Ende bereiteten? Kein Dokument, keine Inschrift, keine Sage berichtet von jenen schrecklichen Tagen. Ab 1400 erscheinen auf ägyptischen Darstellungen keine Kreter mehr — eine unheimliche Wahrnehmung. Die beiden Völker waren befreundet gewesen. Nun war eines untergegangen. Es ergeht uns wie der Kriminalpolizei: Die Täter haben keine Spuren zurückgelassen, man kann nur hoffen, daß das Diebesgut einmal auftauchen werde.
Es tauchte auf.
1876 entdeckte es Heinrich Schliemann in den Grabkammern von Mykene.
Wir müssen gedanklich einen weiten Sprung machen. Mykene liegt auf dem griechischen Festland, im Nordosten des Peloponnes über der in Richtung Kreta geöffneten großen Bucht der Landschaft Argolis. Es ist ein schönes Land, nichts für kleine Leute, sondern für Herren, für Aristokraten, für Ritter, die auf jedem der vielen Bergkegel ihre Burg und in dem weiten Tal ihre Pferdekoppeln haben. Homer schwärmt von den herrlichen Rossen der Argolis und ihren Feudalherren. Wenn man Homer glauben darf, so war Mykene die Burg des sagenhaften Agamemnon, des Siegers im Trojanischen Kriege.
Schliemann glaubte Homer. Er nahm Hacke und Spaten und grub zwischen den Mauerresten von Mykene.
Eine Märchenwelt trat zutage. Und als er die Kuppelgrabkammer und die sechs in Fels gehauenen Grabschächte entdeckte und öffnete, da passierte es: halb Knossos kam nach oben. Verzeihen Sie, daß der Polizeibericht mit mir durchgeht; vielleicht war es nur ein Bruchteil dessen, was die Fürsten Kretas einst besessen hatten, aber immer noch genug, um Schliemann den Atem stocken zu lassen. Da lag die Pracht des Goldschmucks von Knossos, unverkennbar Knossos, als Toten-Beigabe, in wahllosem Durcheinander und Nebeneinander mit den groben einheimischen Prunkstücken. Die Täter waren gefunden.
Es waren Griechen. Zum erstenmal in der Geschichte tauchen sie hier auf. Nicht gerade auf die feinste Weise, aber sie sind wenigstens endlich da.
Um diese Zeit — um 1400 — hätte man noch überall die Urbevölkerung (jene Verwandten der Kreter) finden können, sie hob sich durch Typ, Bräuche und Sprache wahrscheinlich noch deutlich ab; aber sie bildete schon lange nicht mehr die Herrenschicht des Landes. Mit dem Schub einer großen Völkerwanderung waren im zweiten Jahrtausend, also als Kreta noch in voller Blüte stand, von Norden her Fremde in das Land eingesickert: die ersten Griechen. Man weiß nicht, ob es schwere Kämpfe gegeben hat; möglicherweise nicht. Man weiß auch nicht, ob dieser Vorgang damals von Kreta aus beobachtet worden ist; wahrscheinlich ja. Aber was sich die Herren in Knossos dabei gedacht haben, ist schleierhaft.
Die ganze Sache scheint anfangs harmlos ausgesehen zu haben. Die Urbevölkerung, die sogenannten Pelasger oder Karer, waren Hirten und Bauern gewesen, sicher harmlos, auf jeden Fall arm. Die Griechen werden zunächst auch keine großen Sprünge gemacht haben, die Schuhsohlen waren durchgelaufen, die Helden der Landstraße waren müde, denn von der Donau bis zum Peloponnes ist ein weiter Weg. Nun waren sie am Ziel; aus dem einfachen Grunde, weil der Weg hier zu Ende war. Das Meer erglänzte ringsum; um jede Ecke des buchtenreichen, zerklüfteten Landes erglänzte es aufs neue. Nach altem Landserbrauch werden sie sich gesagt haben, daß sich alles finden würde, wenn man erst einmal abgekocht und dann ausgeschlafen habe.
Es fand sich.
Es fand sich, daß sie den Ureinwohnern in einem Punkte hoch überlegen waren: Sie besaßen Führer, starke, umsichtige, rücksichtslose Führer, wie sie sich auf einer Völkerwanderung herausbilden, denn Reisen bildet, unter anderem solche Eigenschaften. Diese harten Männer waren fest entschlossen, ihre Stellung zu behalten, und sie behielten sie. Sie waren eine Art Merowinger. Wie viele es von dieser Sorte gegeben hat, wissen wir nicht, sicherlich ein Dutzend; auf Mykene saß einer, auf dem nur wenige Kilometer entfernten Tiryns schon der nächste, an der Küste auf Nauplia der dritte, auf Amyklai (nahe dem späteren Sparta) der vierte. Im Norden hauste damals schon einer auf der athenischen Akropolis; einer auf Kadmeia, der alten Burg Thebens; ein anderer auf der Festung Orchomenos in Böotien; wieder einer, nicht weit entfernt, auf Arne, mitten in dem jetzt nicht mehr existierenden Kopeissee. Nicht von heute auf morgen, aber im Laufe weniger Generationen waren aus den ersten kleinen düsteren, verräucherten Schutzhütten Burgen und aus ihren Besitzern, jenen Eindringlingen, jenen Griechen, Fürsten geworden. Der beherrschende Mann im Norden saß offenbar in Orchomenos; der mächtigste im Süden war der Mykener.
Allmählich lernten sie das Meer lieben. Sie merkten, daß das Wasser für jemand, der ein Schiff besaß, nicht ein Hindernis, sondern die reinste Autobahn war. Vom Meer her erschienen auch die interessanten Fremden, die sich Kreter nannten. Die griechischen Herren staunten über die schönen Schiffe, die da angesegelt kamen, und über die Waren, die sie mitführten. Denn selbstverständlich waren es Vertreter, die die Autobahn bevölkerten. Und was sie über ihre Heimat Kreta berichteten, fanden die Griechen ausgesprochen bemerkenswert. In Knossos wiederum ließ man sich genau Bericht erstatten, wie es bei diesen griechischen Barbaren aussah, natürlich nicht, wie dick die Mauern von Mykene oder Tiryns waren (sechs Meter!), sondern was man dort loswerden könnte; denn was ein richtiger Wohlstandsstaat ist, der meistert das Leben mit Ex- und Import. Hier bot sich nun mal ein schönes, unterentwickeltes Land! Da lachte das brave Kaufmannsherz, und die Dividenden stiegen.
Eines Tages aber erinnerten sich die Mykener des Leonardo-da-Vinci-Wortes: »Wer zur Quelle gehen kann, gehe nicht zum Wasserkrug.« Sie setzten also nach Kreta über; im Laufe der Zeit sicherlich mehrmals, aber einmal, 1400, gründlich.
Das ist plausibel.
Ist es das?
Ich finde, nein. Wie überhaupt bei diesem Volke selten einmal etwas plausibel ist. Natürlich war nicht zu erwarten, daß sie den Frieden liebten, denn sie waren leider keine Christen, sondern Heiden. Aber normal wäre gewesen, daß sie sich in Kreta festgesetzt hätten. Man weiß doch, daß man als Besatzungsmacht besser lebt denn als heimgekehrter Held. Die Griechen wählten eine andere Möglichkeit. Sie zerstörten die Hauptstädte Kretas bis auf den Grund, töteten (wahrscheinlich) die Mehrzahl der Männer oder jagten sie in die Berge, nahmen alles, was nicht niet- und nagelfest war, mit und segelten dann mit ihren und den kretischen Schiffen zurück in die Heimat. Das Problem ihres unterentwickelten Landes war gelöst.
Von diesen Ereignissen, von allen diesen Dingen reden Mauern, Gräber, Ruinen, Gold und Silber, doch keine Inschrift und kein Wort. Die mykenische Zeit ist für uns stumm. Und dennoch glauben wir, sie gut zu kennen, dennoch ist sie uns so vertraut wie keine der nächsten 500 Jahre. Wir wissen, wie die Menschen aussahen, wie sie lebten, wie sie dachten, fühlten, sprachen. Der Mann, von dem wir es wissen, lebte um 900 oder 800 vor Christus, also als Mykene längst wieder eine Ruine, die mykenische Kultur versunken und eine neue Epoche aufgegangen war.
Es ist Homer. Die Zeit, in der seine Ilias spielt, ist die Zeit Mykenes, die »heroische Zeit«, die »alte Zeit«, die Epoche von ijoo bis 1100. Was die lange Kette der Generationen von Mund zu Mund weitergegeben hatte, das fügte er sinnvoll aufeinander und formte es zu einem großen Heldenepos. Wir haben lange gedacht, es seien Märchen. Es waren keine. Wir dachten es, weil sich die Griechen Homers so sagenhaft benehmen. Aber die Griechen haben sich ihr Leben lang sagenhaft benommen.