Das war es, was ich zum Verständnis des Auftauchens der Perser nachtragen wollte, und Sie werden es in Ihrer Güte als Erklärung akzeptieren. Denn, so werden Sie kombinieren, die Perser hatten durch den Schutzvertrag mit Kleisthenes ein Recht dazu.
Weit gefehlt!
»Kleisthenes hat die Perser niemals um Schutz gebeten!« Dieser Satz, den die Athener beständig wiederholten, überrascht nicht nur Sie, er überraschte auch die Griechen und ebenso die Perser, die glaubten, nicht recht zu hören. Man war sprachlos; was jedoch Athen nicht hinderte, an seiner Gedächtnisschwäche festzuhalten. Der Schritt des Kleisthenes, aus der Not geboren und zudem auch noch ganz überflüssig, war seinerzeit nicht schön gewesen; aber, so sagte man, was ist ein Schritt? Er ist kein Ding, kein Gegenstand, keine Sache, nur ein Einfall, und wenn man ihn vergißt, ist er weg.
Das wäre perfide, wenn es eine typische Strauß-Gesinnung — ich meine Vogel-Strauß-Gesinnung — gewesen wäre, aber es entsprang tatsächlich nur der heftigen ästhetischen Abneigung gegen Häßlichkeit. Die Griechen waren alle etwas unwahrscheinlich. Die heutigen Strauße sind alle sehr wahrscheinlich.
Jedoch nicht diese Gedächtnisschwäche war es, die die Perser so auf reizte, sondern etwas ganz anderes: Athen hatte vor kurzem zwanzig Kriegsschiffe nach Kleinasien entsandt, um die Stadt Milet in ihrem Unabhängigkeitskampf gegen den persischen Satrapen zu unterstützen.
Milet... Unabhängigkeitskampf... Um das zu verstehen, muß ich Ihnen erklären, was sich inzwischen seit der Kolonisation der kleinasiatischen Küste in diesem griechischen Landstreifen abgespielt hat.
Die Perser hatten — das lag kaum anderthalb Generationen zurück — von ihrem kleinen Stammland aus in einem beispiellosen Siegeszug das medische, assyrische, babylonische, elamitische, syrische und lydische Reich unterworfen und waren über Nacht unter ihrem Herrscher Kyros zur Weltmacht geworden. Das war zu jener Zeit geschehen, als Peisistratos in Athen die Tyrannis errichtete. Der zweite Perserkönig, Kambyses, raste wie ein Feuer weiter, stieß über Palästina bis nach Ägypten vor, überrannte es und ließ sich 525 auch noch zum Pharao krönen. Nun, abermals 2j Jahre später, saß Dareios auf dem Thron in Susa, Gebieter über neun Reiche, »Schutzherr« auch der Griechenstädte in Kleinasien. Seine Hand über diesem »Ionien« war milde und unsichtbar; er ahnte infolgedessen auch nichts von den Gedanken, die die Ionier bewegten.
Die Griechen haben die Perser nie verstanden. Sie haben sie als schwarze, düstere, knebelbärtige Teufel betrachtet und dieses Bild in die Welt gesetzt. Die griechischen Städte der kleinasiatischen Küste waren seit frühester Zeit fremde Nachbarn gewohnt, zuerst die Phryger, dann die Lyder, kultivierte Völker, kultivierte, großzügige Könige wie Midas und Gyges; geistige Strömungen gingen hinüber und herüber, in Ephesos verschmolz man Artemis, die Jägerin und Schwester Apolls, mit der phrygischen »Großen Mutter«, während auf der anderen Seite Midas ein tiefer Verehrer Apolls wurde und mit einer Millionenstiftung das Heiligtum des Gottes in Delphi zum »Rom« der Griechen machen half. Apoll hätte gewiß lieber Rosen gesehen, aber Priester ziehen Dinge vor, die länger frisch bleiben.
Die ionischen Städte blühten und gediehen damals. Ein ganz klein wenig war man natürlich von Lydien abhängig, aber es verletzte nie den Stolz. Die herrlichen Städte wie Milet, Ephesos, Lebedos, Phokaia, Elaia, Pergamon und die Inselresidenzen Samos, Chios, Mytilene, Hephaistia waren der alten Heimat lange Zeit weit voraus; die »Polis«, der unvergleichbare hellenische Stadtstaat, war ihre Erfindung, ja, man kann fast sagen, daß dort drüben an der kleinasiatischen Küste jener griechische Geist geboren wurde, den wir meinen, wenn wir das Wort Hellas aussprechen. Als sich in Athen, Sparta, Theben und Paros noch archaische Sänger wie Tyr-taios, Archilochos und Hesiod im Dienste der Götter oder des Vaterlandes in den ersten spröden Anfängen einer Dichtung versuchten, da schufen reine Lyriker wie Alkaios und die Sappho auf Lesbos bereits »Weltliteratur«. Und als Delphi noch an die Säulen des Herakles und die Erdscheibe glaubte, lehrten Anaximandros in Milet und Pythagoras in Samos schon die Kugelgestalt der Planeten, und Thaies von Milet berechnete die Sonnenfinsternis von 585 voraus!
Auch die flüchtigen Schatten der Assyrer und Babylonier hatten die lichten Städte, die »Riviera« Griechenlands, nicht verdunkelt. Die Perser aber, die nun seit 546 die Schutzherren waren — die verstand man nicht! Es waren Menschen, die zwar zur gleichen Zeit lebten, aber dennoch durch Jahrhunderte von den Ioniern getrennt schienen.
Das stimmt. Den Persern war Apoll vollständig gleichgültig, und eine Akropolis galt ihnen dann als schön, wenn sie uneinnehmbar war. Auch ein blonder Pais beeindruckte sie nur mäßig, und die notorischen Lügereien fanden sie nicht spaßig. Ihre Welt sah anders aus. Die Griechen hatten davon keine Ahnung. Sie wiederum empfanden die vergeistigte monotheistische Lehre Zarathustras als kümmerlich, die persische Strenge als düster, ihr Herrentum despotisch, die sprichwörtliche persische Wahrheitsliebe als witzlos. Am ekelhaftesten aber waren den kleinasiatischen Griechen die Perser dadurch, daß sie jetzt wieder auf ihrer 2 000 Kilometer langen, mit in tadellosen Poststationen besetzten »Königsstraße« wie auf einer Autobahn durch Kleinasien angerast kamen.
Sie kamen aus gutem Grund. In ganz Ionien war der Aufstand gegen ihre Oberhoheit ausgebrochen. Dareios befahl, ein Exempel zu statuieren.
Es war für ihn ein unerwartet hartes Stück Arbeit, die erste wirklich blutige Arbeit der sonst so tolerant gewordenen Perser. Es dauerte vier lange Jahre, bis die letzte ionische Stadt endgültig unterworfen oder dem Erdboden gleichgemacht war. Auch die zwanzig athenischen Schiffchen, die so sehr die Erbitterung der Perser erregten, konnten daran nichts ändern. Wo waren die anderen Flotten? Ionien war — das ist eigentlich das schlimmste Fazit — vom Mutterland im Stich gelassen worden. Nun war es persisch; seine Blüte über Nacht vernichtet.
Erst als das alles passiert war, fuhr den Griechen daheim der Schreck in die Glieder. Am Dionysosfest des gleichen Jahres, als drüben die Lichter erloschen, fand in Athen die Uraufführung (eine der frühesten der Geschichte) des brennend aktuellen Schauspiels von Phrynichos statt: »Die Eroberung von Milet«. Der Eindruck war ungeheuer. Das Volk war fast in Panikstimmung. Die Archonten griffen ein und belegten den Dichter mit einer Strafe (das früheste nachweisbare schlechte Gewissen einer Regierung). Jetzt erwachten endlich auch die Spartaner. Sie brauchten keine Propheten zu sein, um zu wissen, daß die Perser nun kommen würden.
Sie kamen.
Im Sommer 490 stach die persische Flotille in See. Die Griechen haben später maßlos übertrieben; es sollen 600 Trieren mit 600 000 Kriegern gewesen sein. Das ist totaler Unsinn. Es waren etwa 100 Schiffe mit 20 000 Mann. Das war auch noch erschreckend genug.
Die Inseln, die die Flotte anlief, unterwarfen sich sofort. Datis, der persische Oberbefehlshaber, war zufrieden; er zeigte sich als feiner Mann, indem er in Delos ostentativ dem Apoll ein feierliches Opfer darbrachte. Das nächste Ziel hieß Eretria auf Euböa. Eretria war seinerzeit schüchtern, aber tapfer Athens Spuren gefolgt und hatte den zwanzig Schiffen für Milet noch fünf eigene nachgeschickt. Hier lag also die Sache für die Perser anders. Eretria fiel, die Stadt wurde dem Erdboden gleichgemacht, die Bewohner nach Persien verschleppt und bei Susa, unter den Augen des Großkönigs, neu angesiedelt.
Dieser erste Schlag löste alle Alarmglocken aus. Athen rief um Hilfe. Theben lachte Hohn, erinnerte an 519 und empfahl, sich an Platää zu halten. Das kleine treue Platää kam. Auch König Kleomenes von Sparta sagte Hilfe zu. Er kannte ja den Weg nach Athen gut. Aber der Heerbann war in alle Gegenden verstreut und vor der traditionellen Vollmond-Versammlung schwer zu erreichen. Es war ein Wettlauf um Stunden, denn schon traf in Athen die Nachricht ein, daß die Perser von Eretria auf das Festland nach Marathon übergesetzt waren. Eretria — Marathon... wie einstmals Peisistratos! Und tatsächlich war ein Peisistratide drüben beim persischen Heer, Flüchtlinge bestätigten es: der greise Hippias war da! Der Mann auf der griechischen Seite, der Kopf in Athen, war — makabres Spiel des Schicksals — Miltiades, Sohn des zur Zeit von Hippias und Flipparch ermordeten dreifachen Olympiasiegers Kimon, später Erbe eines Peisistratiden-Für-stentums auf dem Chersones, dann Rebell gegen Dareios und Flüchtling vor den Persern. Dieser Miltiades war es, dem sich die Athener inklusive des Archonten Kallimachos in ihrer Not blind anvertrauten.
Miltiades setzte alles auf eine Karte; er beschloß, die Mauern Athens zu verlassen und den Persern auf offenem Felde entgegenzutreten.
Miltiades hoffte auf die Spartaner. Als er in der Ebene vor Marathon die Perser sichtete, machte er halt und wartete. Aber die Spartaner kamen nicht. Es vergingen Stunden, es verging die Nacht und der nächste Tag, und es war abzusehen, wann die Perser der Galgenfrist ein Ende bereiten würden.
Etwa 20 000 persische Bogenschützen, darunter die auf Schiffen herbeigebrachte gefürchtete Reiterei, standen 10 000 griechischen Schwert- und Lanzenträgern, den »Hopliten«, gegenüber.
Plötzlich griff Datis an.
Herodot berichtet fasziniert, was in dieser Schreckminute geschah: Miltiades riß die Hopliten, die Masse der Schwerbewaffneten, hoch und ließ sie im Sturmlauf anrennen, um unter der schwarzen Wolke der persischen Pfeile hindurchzukommen.
Das Zentrum scheiterte sofort an den persischen Reitern, die Flügel jedoch drangen vor, warfen die Perser zurück, schwenkten zur Mitte und nahmen den Kern in die Zange. Datis wehrte sich verzweifelt, doch die Schlacht war entschieden.
Die Perser fluteten zu den Schiffen zurück. Die todmüden Griechen hatten nicht mehr die Kraft, sie zu verfolgen. Die Siegesbotschaft aber brachte ein Läufer nach Athen. Er lief über das Brilessosgebirge, durch die Palleneebene, am Fuße des Hymettos entlang, 42 Kilometer weit. Er hat dem Marathonlauf der modernen Olympischen Spiele den Namen gegeben. Die heutigen Sieger durchlaufen die Strecke in zweieinhalb Stunden. Vielleicht hat das der unbekannte Grieche damals auch gekonnt. Er brach nach dem Lauf tot zusammen.
Indessen rückte ihm das Heer, so gut es ging, im Eilmarsch nach. Die Überlegung war richtig: Die persische Flotte befand sich ebenfalls auf dem Wege nach Athen.
Als Datis landen wollte, stand das athenische Heer schon wieder da.
Er glaubte, Gespenster zu sehen, machte kehrt und gab Befehl zur Heimkehr nach Kleinasien.
Die Schlacht war aus, das unwahrscheinliche Ereignis: Athen hatte die Perser besiegt!
Genau einen Tag, nachdem alles vorüber war, trafen die Spartaner ein. Dieser eine Tag Verspätung hat sie für alle Zeiten den Ruhm gekostet, allein das Schwert Griechenlands zu sein. Athen war neben sie getreten.
Aber nichts trübte die allgemeine Freude. Der Jubel in ganz Griechenland war unbeschreiblich.
Was für ein Gefühl, als am Morgen nach dem Sieg die Sonne aufging! Trauer in nur wenigen Häusern, Stolz in allen.
Zeus, Athene und Apoll (herrlich, wie er Datis mit seinem Weihopfer betrogen hatte!) wurden auf der Akropolis mit Blüten, Wohlgerüchen und Farben zugedeckt, die letzten Septemberblumen waren die Teppiche, auf denen die Krieger zur Ehrung schritten. Die Mädchenaugen blitzten, die Münder der Paides lächelten, und die Helden hielten reiche Ernte. Die »Skolien«, die Symposienlieder, blühten und die Phantasie ebenfalls. Da wurden die »600 000 Perser« geboren und auch die Flüsterfama, daß die Alkmaioniden den Persern in der Schlacht geheime Zeichen gegeben hätten. Weinselige Nächte und endlose Gespräche! Ihr Leben lang sind den Griechen Meinungen lieber gewesen als Fakten. Es fiel ihnen spielend leicht, zu ignorieren, daß 600 000 Perser in der Marathon-Ebene gar nicht Platz gehabt hätten und daß ihr vergötterter Miltiades von Beruf Tyrann war. Und damit sind wir bei dem strahlenden Sieger von Marathon.
Nachdem er sich ein halbes Jahr lang in der Sonne des Volkes gebräunt, ein großes Haus, einen faszinierenden Lebensstil und viel Korrespondenz geführt hatte, gebar der bewunderte Mann im Frühjahr 489 eine unglaubliche Tragikomödie; und da sie verwirklicht wurde, müssen wir annehmen, daß sie den Athenern immerhin besser gefiel als nichts.
Archon war zu dieser Zeit Aristides, Freund des Miltiades und Erster Stratege bei Marathon. Vergessen Sie seinen Namen ja nicht, obwohl er bald von der Bildfläche verschwinden wird; er kommt unter dramatischen Umständen in einem sehr schönen Augenblick wieder.
Aristides wurde schon von seinen Zeitgenossen »der Gerechte« genannt. Das ist bemerkenswert, erstens, weil man annehmen sollte, daß Archonten sowieso gerecht sind, und zweitens, weil das entwaffnende Eingeständnis des Gegenteils seine Unbestechlichkeit in ein um so helleres Licht setzt. Er muß wirklich sehr integer gewesen sein.
Da er aber ein echter Grieche und daher etwas unwahrscheinlich war, kam auch ihm der Plan, den Miltiades geboren hatte, durchaus diskutabel vor, und er stimmte ihm in seiner Eigenschaft als Archon zu. Der Plan war, kurz gesagt, der: Athen sollte dem Miltiades privat Heer und Flotte »leihen«, da er sich nach eigener Herrschaft umsehen wollte. Er dachte an eine der Inseln des Ägäischen Meeres und entschied sich für Paros. Paros hatte sich unvorsichtigerweise etwas perserfreundlich gezeigt.
Gesagt, getan. Die Sache wurde in Szene gesetzt. Nicht wichtig nahm man dabei, daß in Paros nicht mehr Wilde wohnten, sondern Griechen, die eine zufriedenstellende Regierung bereits besaßen.
Die Parer waren überrascht, aber nur geistig. Die andere Seite der Überraschung gelang nicht. Sie schlossen die Tore und riefen die Nachbarinseln zu heiligem Zorn auf.
Es kam zu schweren Kämpfen, in deren Verlauf Miltiades selbst eine gefährliche Wunde empfing. Er mußte die Expechtion abbrechen und nach Athen zurückkehren.
Miltiades geschlagen!
Tote und Verwundete!
Die Fahrt, die Unsummen verschlungen hatte, gescheitert! Athen empfing den Mann, der vor wenigen Monaten in der Schlacht bei Marathon gesiegt hatte, eisig.
Aristides konnte und wollte wahrscheinlich die Empörung nicht auffangen. Da er »der Gerechte« war, leitete er eine Untersuchung ein, die dann nicht mehr in seinen Händen lag. Das Volk war der Richter. Es steckte Miltiades, unbeschadet seiner Verwundung, zunächst einmal ins Gefängnis, dann stellte es ihn vor Gericht und verurteilte ihn — das war trotz der enorm hohen Summe wiederum milde — zu einer Strafe von 50 Talenten. 50 Talente waren nach heutiger Kaufkraft vielleicht 50 Millionen Mark. Die »Milde« entsprang ihrem schlechten Gewissen, die Höhe der (unerfüllbaren) Summe ihrer Habgier. Daran ist leider nicht zu zweifeln.
Aus diesem Dilemma hätte es nie einen Ausweg gegeben, wenn die Götter nicht eingegriffen hätten. Sie beriefen Miltiades zu sich. Er, der große fürstliche Mann, starb an seiner Verwundung im Gefängnis.
Athen bewahrte ihm stets ein bewunderndes Angedenken. Denn was war die Expechtion nach Paros? Ein Schritt, ein Einfall, ein — eine Verleumdung der Spartaner.