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Glücklicherweise nahmen sie zur Stadt zurück einen anderen Weg als den, der sie nach Leerahan geführt hatte. Das Gebiet der Ahk wollte Cynna nie wieder betreten und am liebsten auch keine Berge mehr.

Auf Pferde konnten sie jedoch nicht verzichten. Sie ritten zu einem kleinen Hafen am Fluss, wo das Schiff des Kanzlers sie erwartete. Die Sidhe-Gedankensprache und die Ekiba-Hotline hatten gemeinsam dafür gesorgt und auch die in der Stadt Zurückgebliebenen auf den neusten Stand gebracht.

Gan gab sich manchmal wichtigtuerisch, aber sie hatte noch Freude daran, im Fluss zu schwimmen und Fischlis zu essen.

Auf dem Schiff holte Cynna Schlaf nach. Sie und Cullen taten ihr Bestes um … nun, Sex und Liebe nachzuholen. Im Sex waren sie beide gut. Liebe war neu für sie.

Und sie gefiel ihr.

Ruben und MacClosky warteten auf dem Dock auf sie. Ms. Wright war bei Bewusstsein und außer Gefahr, aber sie war immer noch schnell erschöpft. Die Heilerin wollte sie nicht aus dem Kanzleramt lassen, bevor sie Edge endgültig verlassen würde.

Ruben konnte wieder stehen und gehen.

„He!“ Cynna war so überwältigt, dass sie ihn umarmte. „Was für ein Anblick! Das ist ja wunderbar. Sie sehen toll aus.“

Ruben lächelte. „Sie sehen auch toll aus, wenn auch ein wenig erhitzt. Mr. Seabourne sieht ebenfalls außerordentlich … erholt aus.“

Zu ihrem Ärger errötete sie. Aber er konnte es ja nicht sehen.

„Ich kann es kaum erwarten, Ihren Bericht zu hören.“

„Das meiste werden Sie tatsächlich nur zu hören bekommen, Sir. Es gibt vieles, das sich nicht niederschreiben lässt.“

„Das trifft für die meisten Ihrer Berichte zu. Das behaupten Sie zumindest.“

Cynna hasste es, Berichte zu schreiben. „Cullen, sieh doch nur, wie gut es Ruben geht.“

„Das sehe ich.“ Cullen lächelte in letzter Zeit oft und gern. „Und Sie bewegen sich auch gut. Kein Humpeln. Keine Schienen.“

„Der Arm und das Bein sind immer noch ein wenig empfindlich. Ich fürchte, ich gebe gerade ein wenig an. Die Heilerin des Kanzlers hat den Heilungsprozess meiner Knochen beschleunigt und dabei den Grund für meine fortschreitende Schwäche gefunden.“ Ruben schenkte Cynna ein sanftes Lächeln. „Ich wollte Sie nicht beunruhigen, aber zu Hause waren meine Prognosen nicht gut. Jetzt kann ich mich, mit der entsprechenden Pflege, wieder erholen. Ich habe eine seltene Allergie gegen bestimmte Metalle. Insbesondere Eisen und Stahl.“

Cullen nickte. „Das liegt zweifellos daran, dass Sie Sidhe-Blut haben. Die meisten reagieren nicht allergisch auf Eisen – das ist ein Mythos –, aber ein paar wenige eben doch.“

„Moment“, sagte Cynna. „Sidhe-Blut? Ruben?“

„Ich habe eine Spur davon in seiner Magie gesehen“, sagte Cullen. „Nachdem ich die Elemente durch mein Blut gebunden hatte, als mein Blick dann schärfer war. Ein Hauch von Violett und Schwarz. Das Violett ist ungewöhnlich, aber es war die Mischung mit den schillernden schwarzen Tupfen, die mir den entscheidenden Hinweis gegeben hat. Das kannte ich nur aus Sidhe-Magie.“

„Eine Metallallergie“, sagte Cynna langsam. „Das wird nicht einfach werden. Stahl ist überall.“

Ruben nickte. „Große Mengen von Stahl in meiner Nähe schwächen mich, das wird eine ziemliche Herausforderung. Aber vor allem muss ich den Kontakt damit vermeiden. Die Heilerin kennt kein Aluminium und kann mir deshalb auch nicht sagen, ob es auf meiner schwarzen Liste ist. Aber ich vermute es.“

„Aluminium? Ihr Rollstuhl. Ruben, Ihr Rollstuhl ist aus Aluminium und Stahl!“

„Ja.“ Er sah verlegen aus. „Vielleicht können Sie sich noch daran erinnern, dass ich den Drang verspürte, bei dem Treffen mit dem Gnom dabei zu sein, als er Mr. Seabourne den Schutzzauber geben sollte. Anscheinend war das eine erste echte Vorahnung über mich selbst. Ich wurde eigentlich nicht für die Mission gebraucht, aber ich musste hierherkommen. Gewaltsam von meinem Stuhl getrennt gewesen zu sein, hat wahrscheinlich mein Leben gerettet.“

Die Gnome brauchten noch zwei ganze Wochen, um das Tor zu erschaffen. Es war ein kleines Tor, gerade breit genug, um zwei gleichzeitig hindurchgehen zu lassen. Aber es war ein permanentes Tor. Sie verließen Edge zu Beginn der Dämmerung.

Sie wurden von drei Räten, einem Wachtrupp und Tash zu dem neuen Tor begleitet. Sie hatte sich noch nicht ganz von ihrer Verletzung erholt, jedoch dem Heiler erklärt, dass sie sich genauso gut in einer Kutsche sitzend erholen würde, anstatt nur faul in einem Bett zu liegen.

Auch Gan war mit von der Partie und hatte für diese Gelegenheit ein neues Kleid ergattert. Es war aus Seide mit einem Muster aus einem rötlichen Orange, Zimt und Fuchsia – eine Mischung, die den Augen wehtat. Das Medaillon des Kanzlers hing an einer Kette, die man für sie gekürzt hatte, um ihren Hals.

Sie winkten vielen Leuten zu, an denen sie vorbeifuhren – von denen einige mit dem Finger auf sie deuteten. „Manchmal macht es Spaß, wichtig zu sein“, vertraute sie Cynna an. „Manchmal ist es aber auch anstrengend. Du denkst doch an die Schokolade? Und daran, Lily Yu zu sagen, dass sie mich besuchen kann? Und du und Steve Timms und Cullen Seabourne, ihr kommt mich doch auch manchmal besuchen, oder?“

„Ich denke an alles“, sagte Cynna und gab ihr einen Kuss auf den kahlen, orangefarbenen Schädel.

Sie gingen zu zweit durch das Tor. Cynna und Cullen gingen auf ihre Bitte hin zuletzt. Das Letzte, was Cynna von Edge sah, war die Sonne, die über dem Fluss aufging und Himmel und Wasser in ein Farbenmeer tauchte.

Das Erste, das ihr zeigte, dass sie wieder zu Hause war, waren nasse Füße. Das Management des Fashion-Centers hatte offenbar endlich Zeit gefunden, den Brunnen reparieren zu lassen.

Wie sich herausstellte, hatten die Gnome sich geirrt. Der Zeitunterschied zwischen der anderen Welt und der Erde war größer als gedacht. Sie hatten die Erde Ende Februar verlassen, und ihre Abenteuer in Edge hatte nur vier Wochen gedauert. Als sie wieder zurückkamen, waren Cynnas Brüste schwer und empfindlich, und sie konnte ihre Jeans nicht mehr zuknöpfen. Und es war Mitte Juni.

„Ich habe die Kirschblüte verpasst“, sagte Cynna und schüttelte den Kopf.

„Sie war wunderschön dieses Jahr“, sagte Rule.

Drei Tage nach ihrer Rückkehr aus Edge saßen sie beide an dem großen runden Tisch in seiner Küche. Cynna hatte ihren Besuch so geplant, dass sie Lily nicht über den Weg lief. Sie hatte Rule gesagt, sie wolle etwas mit ihm besprechen, das den Clan betraf. Er hatte überrascht reagiert.

Er trank Kaffee, sie ein großes Glas Orangensaft. Es war ein wolkenloser Tag, und während sie freundschaftlich über Belanglosigkeiten plauderten, blickte sie immer wieder aus dem Fenster in die Sonne. Nie wieder würde sie sonnige Tage für selbstverständlich nehmen.

„Ich will dich nicht drängen, aber in einer Stunde habe ich einen Termin“, sagte Rule schließlich.

„Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll“, gestand sie.

„Geht es um die Dame?“

„Nein! Na ja, nicht direkt. Noch nicht zumindest.“

„Das Ashwa?“

Cullen hatte ihm von Ashwa berichtet, und was es für die Lupi bedeuten könnte – dass ihre Fruchtbarkeit sich erhöhen könnte, wenn der Magielevel auf der Erde stieg. Sie sah ihm in die Augen und sagte es einfach. „Nicht direkt. Ich muss dich fragen, was mit Lupi passiert, die heiraten. Was würden die Nokolai tun, wenn einer von ihnen heiratete?“

Rule hob die Augenbrauen. Seine Stimme wurde sanft. „Cynna, Cullen wird dich nicht heiraten. Ich weiß nicht, ob er so etwas angedeutet hat, aber ich hoffe …“

„Er hat mich schon gefragt, und jetzt geht er davon aus, dass ich seinen Antrag angenommen habe. So ist er, wenn man ihm nicht zur Antwort mit einem Schläger eins überzieht, heißt das für ihn, dass er bekommt, was er will. Aber bevor ich es offiziell mache, muss ich wissen, dass die Nokolai ihn nicht aus dem Clan werfen oder so.“ Sie zog eine Grimasse. „Er würde mich nicht anlügen, aber bei diesem Thema würde er die Wahrheit möglicherweise ein wenig verdrehen.“

Der Schock auf Rules Gesicht war genau das, wovor sie Angst gehabt hatte. Aber warum musste sie dann kichern?

„Cullen?“, sagte er endlich ungläubig.

„Ja, unglaublich, was? Und nicht nur, weil ich schwanger bin.“ Darüber wunderte sie sich jetzt noch.

„Nein, das wäre sicher kein Grund für ihn.“ Er winkte ab, als sei es offensichtlich, und machte ein ernstes Gesicht. „Cynna, du verstehst, dass diese Entscheidung nicht bei mir liegt.“

Sie nickte. „Bei deinem Vater, nicht wahr? Und der Rhej. Ich, äh, ich habe mit ihr geredet.“

Wieder überraschte sie ihn, aber dieses Mal lächelte er. „Hast du sie dazu bringen können, ans Telefon zu kommen?“

„Ja. Sie sagte … na ja, sie hatte eine Menge zu sagen.“

Rules Lächeln wurde tiefer. „Du hast zugestimmt, ihr Lehrling zu werden.“

„Irgendwie schon. Nur auf Versuchsbasis“, fügte Cynna schnell hinzu. Sie konnte immer noch nicht so recht daran glauben, dass sie die Richtige war, und war überzeugt, dass die Rhej das früh genug herausfinden würde. Aber … „Alle sagen mir immer wieder, dass es kein Gelübde ist oder so, aber … die Rhej hat mir gesagt, dass die Dame sich manchmal auf eine Weise zeige, die wie ein Wunder aussieht. Sie hat diese Art von Macht, aber sie ist durch viele Regeln gebunden, die ihr sagen, was sie darf und was nicht. Und sie kann erst eingreifen, wenn sie darum gebeten wird, und selbst dann würde sie es vielleicht gar nicht tun. Die Rhejes sind die Einzigen, die sie hören kann. Oder …“

„Oder jemand, der von ihr als Rhej auserwählt wurde.“

„Ja.“ Cynna seufzte. Als Cullen gestorben war, hatte Cynna die Dame angerufen. Eine Sekunde später hatte er wieder zu atmen begonnen. Vielleicht war es nur Zufall gewesen. Vielleicht stand sie aber auch nun in ihrer Schuld. „Wie dem auch sei, die Rhej hat gesagt, für sie ist Cullen ein Nokolai, und das wird auch so bleiben.“

„Das ist entscheidend. Lass mich einen Moment nachdenken.“ Rule trommelte kurz mit den Fingern auf den Tisch, eine Angewohnheit, die er von Lily übernommen hatte. „Er wird nicht ausgestoßen werden“, sagte er endlich. „Es ist nicht leicht vorauszusehen, was mein Vater entscheiden wird, aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass er sich in einer solchen Sache gegen die Rhej stellt. Aber es wird schwierig. Manche, sowohl innerhalb des Clans als auch außerhalb, werden Cullen meiden. Das Ganze ist ein moralisches Problem, das für unser Überleben von großer Bedeutung ist, Cynna.“

„Ich weiß.“ Sie sagte das voller Mitgefühl, weil sie Rule in eine schwierige Lage gebracht hatte. Aber sie hätte Cullen ohnehin geheiratet, nicht nur, weil sie den Ring haben wollte. Sondern weil er es wollte. Er brauchte sie, damit sie seine Familie war, sein war.

Na ja, okay, gestand sie sich im Stillen ein, als Rule sie zur Tür begleitete. Sie brauchte ihn auch.

Das war etwas Neues, worüber sie sich nur wundern konnte. Jahrelang hatte sie alle Männer an Rule Turner gemessen. Er hatte einen Anteil daran, dass sie ihr Leben geändert hatte, auch wenn er es nicht wusste. Bis sie ihn getroffen hatte, hatte sie gar nicht gewusst, wie gut ein Mann zu einer Frau sein konnte.

Lange nachdem er sie verlassen hatte, hatte sie ihn immer noch geliebt. Ihre Liebe zu ihm war nie ganz erloschen.

„Hast du es Lily gesagt?“, fragte Rule, als sie an der Tür ankamen.

„Noch nicht. Ich dachte, du solltest es als Erster erfahren, weil es Auswirkungen auf den Clan hat und ich deine Antwort brauchte.“ Es würde ganz gewiss nicht leicht für ihn werden. „Rule.“ Aus einem Impuls heraus griff sie nach seiner Hand. „Es tut mir leid, wenn … nun, wenn ich Schwierigkeiten verursache. Ich weiß, es wird welche geben.“

Er nickte, aber lächelte, wenn auch bitter. „Ich komme schon klar. Ich komme sogar zu deiner Hochzeit.“

Und das kam einem enormen Zugeständnis gleich. Sie strahlte ihn an. „Sie wird wahrscheinlich irgendwo im Freien stattfinden. Anderswo ist selten genug Platz für einen Drachen.“

Cynna tanzte beinahe über den Bürgersteig zu ihrem Wagen.

Wenn sie jetzt Rule ansah, erinnerte sie sich daran, was er ihr einmal bedeutet hatte, aber sie wollte ihn nicht mehr. Sie sah ihn an wie eine Frau, die Sex mochte, einen attraktiven Mann ansah und sich gleich ein wenig lebendiger fühlte, fraulicher. Aber sie wollte ihn nicht.

Alles, was sie wollte, war, zurück zu dem aufdringlichen, frechen, arroganten und zärtlichen Mann zu gehen, der sie liebte. Und ihn zu sich ins Bett zu ziehen, um ihm einen anständigen Heiratsantrag zu machen.