24

Die Kabinen befanden sich in einem Aufbau in der Mitte des Schiffes: vier auf der einen Seite des Flures und drei und das Badezimmer auf der anderen. Cynna folgte den beiden Wachen, die Cullen in ihre Kabine trugen. Sie fröstelte. Ihr von dem Gift verseuchter Mantel und ihre Stiefel waren noch an Deck. Ihr Vater hatte ihr angeboten, sie mit Asche und Salz abzureiben, um das Gift zu neutralisieren. Voller Sorge hatte er sie immer und immer wieder gefragt, ob ihr auch nichts passiert sei, und war froh gewesen, etwas für sie tun zu können.

Wenn die Zeremonie beendet war, würde ihm eine der Wachen zeigen, auf welche Weise er ihr helfen konnte. Sie waren doch nicht so gefühllos, wie sie zuerst gewirkt hatten, als sie ihre Toten über Bord warfen. Ganz offensichtlich waren sie nicht unnötig sentimental im Umgang mit Leichen, aber sie betrauerten ihre Toten.

Gan war dicht hinter ihr. „Ich weiß nicht, warum Tash so böse auf mich ist. Ich habe doch nach den Tritonen gesehen, oder etwa nicht? Obwohl es dort unten im Fluss ganz schön gefährlich ist.“

Nachdem Tash sie hineingeworfen hat. „Du warst mutig. Hast du ein paar Fischlis gefangen, da du schon mal da warst?“

„Nur einen. Und die Tritonen waren tot, so wie ich es mir gedacht habe, also war es völlig umsonst.“

Die Schneckenmänner – Obab wurden sie genannt – hatten die Tritonen als Erste ausgeschaltet. Niemand wusste mit Sicherheit, wie ihnen das gelungen war. Tritonen verbanden ihren Verstand mit dem ihrer Reittiere, aber sie waren auch in der Lage, Leben in ihrer Nähe sofort zu spüren. Deswegen war es beinahe unmöglich, sie zu überwältigen. Trotzdem war es den Obab irgendwie gelungen, sodass das Schiff von führerlosen Seeochsen gezogen wurde.

Wahrscheinlich, dachte Cynna, konnten sie sich glücklich schätzen, dass die Obab nicht auch die Seeochsen getötet hatten. Huey – der, wie sich herausstellte, der Kapitän des Schiffes war – hatte einen der beiden verbliebenen Tritonen abgestellt, um die Seeochsen abwechselnd zu reiten und sie, solange sie vor Anker lagen, ruhig zu halten.

„Das war wichtig“, sagte Cynna. „Die Leichen der Tritonen mussten aus den Geschirren geholt werden. Du bist immun gegen das Gift, da du noch vollständig umgewandelt bist …“

„Das behaupten sie.“ Gan sah verärgert aus. „Aber sie können lügen.“

„Du glaubst, die Gnome haben dich angelogen, als sie dir sagten, du seiest immun? Immerhin bist du nicht tot, also … He, vorsichtig!“, fuhr sie die beiden Wachen an, keine von beiden ein Mensch, die Cullens Trage durch den engen Türrahmen manövrierten. Beinahe hätten sie ihn fallen lassen.

„Okay, sie hatten recht. Aber sie könnten lügen, wenn sie wollten. Bilbo mag mich nicht. Ihm wäre es egal, wenn ich getötet würde.“

Cynna wusste nicht, warum Gan sich so aufregte. Und im Moment war es ihr auch egal. Sie folgte der Wache mit ihrer schlafenden Last in die winzige Kabine. Statt eines Bettes stand hier eine gepolsterte Eckbank, ähnlich der im Kanzleramt. Die zwei Seiten waren lang genug für Menschen; die beiden Wachen legten Cullen auf einer davon ab. Sie musste sich auf die andere Seite setzen, damit sie Platz hatten, um die Trage aus der Kabine zu jonglieren.

Es tat gut zu sitzen. Ihre Knie versuchten immer wieder, gegeneinander zu schlagen.

Gan war ihr in die Kabine gefolgt und betrachtete sie, einen nachdenklichen Ausdruck auf dem unansehnlichen kleinen Gesicht. Cynna seufzte. „Hör zu, es ist spät. Ich wäre beinahe getötet worden, und Cullen war für eine kurze Zeit tatsächlich tot. Können wir morgen früh über das sprechen, was dir auf der Seele brennt, was immer es sein mag?“

„Hier gibt es keinen Morgen.“

Sie zwang sich zur Geduld. „Wenn wir aufwachen.“

„Von mir aus.“ Aber sie ging nicht. Sie sah erst Cullen an, dann Cynna. „Du bist ganz aufgeregt wegen Cullen Seabourne. Ich weiß nicht, warum. Er ist doch nicht mehr tot.“

„Das tun Menschen eben.“

„Benehmen Menschen sich immer komisch, wenn es um die Menschen geht, die sie ficken?“

Cynna unterdrückte ein hysterisches Kichern. „Manchmal ja, manchmal nein. Wir machen uns Sorgen um unsere Freunde, wenn sie verletzt sind.“

„Ich habe keine Freunde. Na ja, außer Lily Yu. Ihr ist es nicht egal, ob ich getötet werde, aber sie ist nicht hier.“

Das traf Cynna mitten ins Herz. Vermenschliche sie nicht, ermahnte sie sich. Gan war vielleicht nicht mehr ganz Dämonin, aber erst seit Kurzem. Sie war wahrscheinlich gar nicht fähig, sich einsam zu fühlen. Sie verwechselte vermutlich Verbündete mit Freunden – sie wollte jemanden auf ihrer Seite wissen, um ihre Überlebenschancen zu erhöhen. Nicht, weil sie sich verloren oder allein fühlte.

Aber alle Logik half hier nichts. Wider besseres Wissen ließ Cynna sich auf die Knie hinunter und blickte tief in die absurd großen, hübschen Augen dieses hässlichen orangefarbenen Gesichts. Im Moment waren diese Augen misstrauisch zusammengekniffen. „‚Freund‘ ist ein großes Wort für mich. Es hat eine tiefe Bedeutung. Es bedeutet Vertrauen. Vielleicht sind du und ich auf dem Weg, Freunde zu werden. Ich glaube nicht, dass wir es schon sind, aber mir würde es gar nicht gefallen, wenn du getötet würdest.“

„Na klar, weil ich in andere Welten wechseln kann und du mich vielleicht noch brauchst.“

Cynna schüttelte den Kopf. „Selbst wenn du das nicht könntest, würde ich traurig sein, wenn du sterben würdest.“

„Vielleicht lügst du ja.“

„Ich lüge nicht, aber um mir das zu glauben, musst du mir vertrauen. Deswegen kann Freundschaft auch nicht auf einen Schlag entstehen. Es braucht Zeit, bis man weiß, ob man sich gegenseitig trauen kann.“

Die Falten auf ihrer Stirn wurden noch ein wenig tiefer. „Wärst du meinetwegen genauso traurig wie Cullen Seabournes wegen?“

„Nein. Aber traurig.“

Gan starrte sie noch einen Augenblick lang nachdenklich an und stieß dann einen tiefen Seufzer aus. Als sie zur Tür schlenderte, murmelte sie kopfschüttelnd. „Das ist alles so verwirrend. Schrecklich verwirrend.“

Cynna ging ihr nach, um die Tür hinter ihr zu schließen. Gan schloss keine Türen.

„Bist du jetzt eine zugelassene Dämonentherapeutin?“, sagte Cullen.

„Du bist wach.“ Sie drehte sich um, ein Lächeln auf den Lippen. „Wie fühlst du dich?“

„Wie eine ausgequetschte Zitrone. Hast du meinen Diamanten an dich genommen?“

Sie nickte, auf einmal von einem seltsamen Gefühl ergriffen, das es ihr unmöglich machte zu sprechen. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte … oder vielleicht gab es zu viel, was sie nicht sagen wollte. Oder denken wollte. Sie fühlte sich … schüchtern?

Cynna hat sich seit der vierten Klasse nicht mehr schüchtern gefühlt, und dieses Mal wollte sie anders damit umgehen als damals. Maria hatte ihr die blutige Nase nie verziehen.

„Komm her.“ Cullen klopfte auf die Bankecke, als würde sie tatsächlich noch Platz darauf finden.

Ihre Füße beschlossen, dass es eine gute Idee wäre, und trugen sie zu ihm. Da neben ihm auf der Bank kein Platz mehr war, ließ sie sich auf den Boden nieder. Er hob den Arm und sie lehnte sich erleichtert an ihn, den Kopf an seiner Brust, seinen Arm um ihre Schultern. Er spielte mit ihrem Haar.

Mehr wollte sie nicht. In diesem Moment war das alles, was sie wollte. Er war am Leben, und er war bei ihr, berührte sie, wollte sie im Arm halten. Es gab vieles, worüber sie sich Gedanken machen musste, aber jetzt wollte sie nur dies. Ihr fielen die Augen zu.

Vielleicht genügte es ihm genauso wie ihr, denn er sagte lange nichts. Wenn nicht seine Finger gewesen wären, die durch ihr Haar glitten, hätte Cynna geglaubt, er sei eingeschlafen. Schließlich murmelte er: „Ich habe so gut wie alles gehört. Ich war mehr oder weniger tot, deswegen verstehe ich nicht, wie ich überhaupt etwas hören konnte, aber es war so. Du hast nicht zugelassen, dass sie mich über Bord warfen.“

Die Kehle schnürte sich ihr zusammen. Nach einem Moment brachte sie heraus: „Siehst du? Verdrängung muss nicht immer schlecht sein.“

Cullen zupfte an einer Strähne ihres Haares. „Ich will dich ganz sicher nicht dazu ermutigen, aber dieses Mal war deine Fähigkeit zu verdrängen ganz nützlich.“

„Du wirst dich doch wieder ganz erholen, oder? Du kannst den Schaden, den das Gift angerichtet hat, heilen?“

„Das habe ich schon, sonst wäre ich nicht aufgewacht. Jetzt habe ich nur noch einen Herzschaden.“

Sie stieß einen Schrei aus.

Er zupfte wieder an ihrem Haar. „Das passiert, wenn der Sauerstoff wieder in die Herzzellen strömt, nachdem sie zu lange Zeit darauf verzichten mussten … fünf Minuten laut der neuesten Studien. Es ist wohl so, dass unser Kontrollsystem nicht zwischen Krebszellen und den Zellen, die wieder mit Sauerstoff gefüllt werden, unterscheiden kann. Deswegen lösen die Mitochondrien die Apoptose aus …“

„Vielen Dank, Cullen, so genau wollte ich es nun auch wieder nicht wissen.“

„Ich werde in ein paar Tagen wieder ganz hergestellt sein. Was ich nicht verstehe, ist, warum mein Herz wieder zu schlagen angefangen hat, nachdem es erst ganz ausgesetzt hatte.“

„Ich habe eine Herzmassage gemacht.“

„Du hast gebetet.“

„Na ja … das stimmt. Aber ich habe auch eine Herzmassage gemacht. Ich wollte Gott nicht die ganze Arbeit allein machen lassen.“

„Am Schluss hast du die Dame angerufen.“

Sie erinnerte sich. Bring ihn zurück. „Eure Dame wirkt keine Wunder – das hast du mir zumindest immer gesagt.“

„Nein, ich habe dir gesagt, dass sie nicht wie dein Gott handelt. Aber manchmal erfüllt sie die Bitte einer Rhej. Nicht oft, aber manchmal.“

„Ich bin keine Rhej. Ich bin noch nicht einmal ein Rhej-Lehrling.“

„Das musst du mit der Dame regeln. Sie scheint zu denken, dass du ihr gehörst.“ Seine Stimme war schläfrig, wurde leiser.

„Es war die Herzmassage, die dich gerettet hat.“ Und vielleicht die Dame. Cynna gehörte vielleicht nicht ihr, aber Cullen.

„Na klar.“

Sie musste ihn schlafen lassen. Und auch sie selbst brauchte Schlaf, und sie war weiß Gott müde genug. Aber sie wollte dort bleiben, wo sie war.

Und sie wollte auch nicht immer denken müssen. Aber durch das ganze Gerede hatte ihr Gehirn wieder in den Arbeitsmodus geschaltet und erinnerte sie an harte Fakten. Als sie gedacht hatte, er würde sterben … sterben, Herrgott. Er war klinisch tot gewesen. Sie hatte nur noch Kraft gehabt, seinen Tod zu verdrängen, und genau dafür hatte sie sie verwendet.

Aber jetzt musste sie der beunruhigenden Wahrheit ins Auge sehen. Er bedeutete ihr etwas. Er bedeutete ihr viel, berührte sie, wie niemand zuvor sie je berührt hatte. Nicht einmal Rule. Sie würde lernen müssen, ihre Vorstellung von Treue abzulegen, weil sie ohne ihn nicht mehr sein konnte.

Draußen erhob sich leise ein Chant. „Du, der du Mershwin kennst“, flüsterte Cynnas Talisman, „du, der du unseren gefallenen Kameraden kennst, hol ihn zu dir …“

„Was ist das?“, fragte Cullen.

Sie zog den Übersetzer-Talisman aus ihrem Pullover. Die Flüsterstimme verstummte. Sie hatte das Gefühl, es sei aufdringlich oder unhöflich zu lauschen. „Beerdigungen. Außer den Tritonen wurden noch zwei der Wachen getötet.“ Sie seufzte. „Wir sollten lieber ein wenig schlafen.“

„Cynna.“ Er griff nach ihrem Arm. „Als du versucht hast, Theera in den Hintern zu treten – oder was immer du treffen wolltest …“ Er lächelte erschöpft und nur kurz. „Ich habe dich nicht abgeblockt, weil ich hypnotisiert war oder weil ich nicht wollte, dass du ihr etwas antust. Sondern weil ich nicht wollte, dass sie zurückschlägt. Sidhe können ganz schön hart zuschlagen.“

Sie begriff erst nach und nach, was er ihr damit sagen wollte – wie ein Hund, der sich um sich selbst dreht, bevor er sich zum Schlafen niederlässt. Doch dann lächelte sie. „Okay. Gut.“ Sie zögerte kurz und tat dann, was sie tun wollte. Sie küsste ihn zart, bevor sie wiederholte: „Schlaf ein bisschen.“

„Ich schlafe besser, wenn du neben mir liegst.“

Sie auch, begriff sie. Fast zu müde, um diese Erkenntnis beängstigend zu finden, sagte sie: „Siehst du hier irgendwo ein normal großes Bett?“

„Leg die Kissen auf den Boden.“

Sie dachte darüber nach oder versuchte es wenigstens. Aber ihr Gehirn hatte sich in Brei verwandelt, und wenn er sie nahe bei sich spüren wollte, während er schlief, warum nicht? Die schmalen kleinen Bänke konnte sie ohnehin nicht leiden.

Kurze Zeit später lagen die Kissen nebeneinander auf dem Boden, und Cynna ließ sich darauf nieder. Cullen lag bereits dort. Mit einem Wedeln der Hand und einem gemurmelten Wort löschte sie die Lichter. Die Dunkelheit umfing sie dicht und warm – wie eine Decke im Winter.

Sein Atem ging gleichmäßig und leise, aber er schlief nicht. Als sie sich hinlegte, hob er den Arm und zog sie dicht zu sich heran. Fantasie Nummer drei, dachte sie und schloss die Augen. Früher hatte sie sich oft ausgemalt, wie es wäre, immer mit demselben Mann zu schlafen … nicht mit ihm Sex zu haben, sondern mit ihm nachts zusammen zu sein. Als sie noch jung und dumm gewesen war, hatte sie manchmal Männer aufgerissen, nur weil sie nicht alleine schlafen wollte.

Die Fantasie war immer schöner als die Wirklichkeit gewesen. In der Wirklichkeit hatte sie der Ellbogen des Fremden gestoßen, wenn sie sich auf die Seite drehte. In der Wirklichkeit zog man sich gegenseitig die Decke weg, fühlte sich beengt und hatte schlechten Atem. Ein Mann, den sie kaum gekannt hatte, hatte sogar nach dem Aufwachen als Erstes mit ihr reden wollen, herrje! Die Wahrheit war, dass sie sich manchmal sogar noch einsamer fühlte, wenn sie nicht allein war.

Aber jetzt lag sie neben Cullen. Der gestorben war, weil er sie beschützt hatte. Der keinen Herzschlag mehr gehabt, nicht mehr geatmet hatte. Das hieß, er war tot gewesen, auch wenn der Zustand nur vorübergehend gewesen war.

Er hat das Baby beschützt, sagte sie sich … aber es klang irgendwie falsch. Glaubte sie wirklich, er hätte zugelassen, dass der Schneckenmann sie tötete, wenn sie nicht schwanger gewesen wäre?

Er roch vertraut und angenehm. Er fühlte sich warm und lebendig an. Sie brauchte ihn. Ihre Augen brannten.

Schon gut, Dame, sagte sie der, von der sie wusste, dass sie existierte, auch wenn ihre Existenz Cynnas Leben komplizierter machen würde. Du hast ihn zurückgebracht. Und jetzt?

Obwohl sie noch lange lauschte, hörte sie nichts als seinen ruhigen Atem, das sanfte Klatschen der Wellen gegen den Schiffsrumpf und den leisen Chant in einer Sprache, die sie nicht verstand. Aber irgendwie beruhigte er sie.

Dann schlief sie ein.