20

Der Markt war eine Explosion aus Gerüchen, Farben und Geräuschen. Händler riefen ihre Waren in, wie Cullen feststellte, mindestens drei verschiedenen Sprachen aus. Sein Talisman übersetzte selbstverständlich alle drei, und die Worte stürzten in einem heillosen Getöse durcheinander.

Beinahe so wie das Getöse in seinem Kopf. Er hatte gestern Abend Mist gebaut. Großen Mist.

In dem Moment, als Cynna sich aus seinen Armen befreite, hatte er es gewusst. Und auf dem Weg zurück in ihre Zimmer war es mehr als deutlich geworden. Sie hatte kaum gesprochen … was noch besser gewesen war als ihr übertrieben fröhliches Geplapper, als sie vor ihrer Tür angekommen waren. Er hatte sie mit einem wütenden Kuss zum Schweigen gebracht … und damit bewiesen, dass er, wenn er einmal damit angefangen hatte, nicht mehr damit aufhören konnte, Mist zu bauen.

Sie hatte seinen Kuss erwidert, aber genauso verwirrt wie leidenschaftlich. Und misstrauisch. Er konnte es ihr nicht verübeln. Er hatte gewusst, dass sie noch nicht so weit war, und er hatte sie trotzdem gedrängt.

Sie hatte ihn nicht in ihr Zimmer gebeten. Was ihn kaum überrascht hatte.

An diesem Morgen hatten sie sich alle im Gemeinschaftsraum zum Frühstück versammelt. Fast alle – es gab eine Vermisste und einen Neuankömmling. Seitdem sie mit der Ersten Rätin mitgegangen war, hatte niemand mehr Gan gesehen. Und der Neuankömmling war Steve Timms. Am Vorabend, als Cullen sich um den Verstand gevögelt hatte, hatte Brooks Steve und Marilyn Wright einen Besuch abgestattet. Sie war immer noch bewusstlos, aber die Heilerin hatte mit der Behandlung begonnen und war vorsichtig optimistisch. Da Ruben der Frau vertraute, war Steve nun vorerst zu ihnen zurückgekehrt.

Sie sprachen darüber, wer, falls Cynnas magische Suche erfolgreich wäre, sich auf den Weg machen sollte, um das Medaillon zu holen, und wer nicht. Cullen selbst hatte zu dieser Frage schon eine feste Meinung. Glücklicherweise hatte Brooks bereits beschlossen, dass er und McClosky mehr Last als Hilfe wären. Timms würde Cullen, Cynna und wen immer die Gnome mit ihnen schicken würden begleiten. Brooks würde hierbleiben, um Marilyn Wrights Zustand im Auge zu behalten. Und auch McClosky würde in der Stadt bleiben und sich nach Herzenslust über Handelsbeziehungen informieren.

Cynna hatte alles mit einem Nicken akzeptiert und nur hinzugefügt, dass sie nicht wusste, ob sie das Medaillon sofort finden würde. Wenn ihr erstes Suchritual nicht erfolgreich verliefe, würde sie es weiter versuchen und die Parameter jedes Mal neu anpassen und den Standort wechseln, so lange, bis es klappte.

Für Cullen war das nichts Neues, aber die anderen wussten sicher nicht genug darüber, wie sie ihre Gabe anwendete, um sich darüber im Klaren zu sein, wie viele Versuche unter Umständen nötig sein würden. Er hatte sie gefragt, ob es ihr helfen würde, Energie aus seinem Diamanten zu ziehen. Sie hatte verneint. Er hatte sie gefragt, ob er ihr irgendwie behilflich sein könnte. Sie hatte verneint. Als er daraufhin ankündigte, auf den Markt gehen zu wollen, um sich ein wenig umzuhören, hatte sie ziemlich erleichtert ausgesehen.

Verdammt!

Cullen blieb vor einem Stand stehen, der Papier anbot. Handgeschöpft, wie er erkannte, und nicht von hoher Qualität. Papiermühlen brauchten wohl mehr Technologie, als in Edge vorhanden war, und importiertes Papier war vielleicht teuer und nicht überall zu bekommen.

Heute Morgen hatten die Gnome ihnen akzeptable Kleidung zur Verfügung gestellt. Cullen trug eine Lederhose, wie sie die Wachen hier bevorzugten, mit einer weiten Jacke aus fein gewebtem indigofarbenem Wollstoff. Glücklicherweise hatte sie Taschen. Er hatte Taschen vermisst. Aus einer zog er jetzt den billigen Stift, den er sich von Cynna geborgt hatte – in den Tiefen ihrer riesigen Tasche hatte sie sechs oder sieben davon gefunden –, und begann, Fragen zu stellen.

Das hatte er bereits den ganzen Morgen getan. Der Stift gab ihm einen Grund, mit den Leuten zu sprechen. Er gab vor, wissen zu wollen, wer solche Stifte anfertigen könne und wer daran interessiert sei, sie zu verkaufen. Aber in Wirklichkeit schnappte er Klatsch und Tratsch auf, erfuhr ein bisschen mehr über diese Gesellschaft. Ganz nebenbei machte er sich einen Spaß daraus, dem Gnom, der ihm folgte, das Leben schwerzumachen. Was dem kleinen Kerl offensichtlich ganz und gar nicht behagte.

Edge war in vielen Bereichen auf einem vorindustriellen Stand, aber die Magie sorgte dafür, dass das Leben komfortabler war, als zu dieser Zeit in Europa. Die Gesundheitsversorgung war anständig, denn es gab nicht nur viele Heiler, sondern sogar so etwas wie ein staatliches Gesundheitssystem, das sich um allgemeine Probleme wie sauberes Wasser und Epidemien kümmerte. Das Abwassersystem war hervorragend, viel besser als das jeder vergleichbaren vorindustriellen Gesellschaft auf der Erde. Selbst in den Slums gab es sauberes Wasser, Abfallbeseitigung und öffentliche Toiletten.

Druckerpressen existierten, aber die meisten Bücher und Flugblätter wurden noch gesetzt wie zu Zeiten Gutenbergs. Metall war teuer. Edge war zwar reich an Erz, und Magie half bei der Schmelze, aber verarbeitet wurde es noch von Hand. Die besten Waffen bekam man bei den Ahk, die geschickte Handwerker und Zauberer waren, wenn es um Waffen und die Kunst des Kampfes ging. Kleidung war teuer; die wirklich gute Ware wurde importiert. Den Status konnte man an der Kleidung und am Schuhwerk erkennen. Die Armen trugen Sandalen.

Wie Cullen im Moment. Natürlich war auch er arm, denn er besaß buchstäblich nichts.

Plastik kannte man selbstverständlich hier nicht. Jeder, dem er den Stift gezeigt hatte, war fasziniert von dem Material gewesen. Einige waren skeptisch, andere aufgeregt gewesen. McClosky, dachte Cullen, würde viel Spaß bei seinen Verhandlungen haben. Edge würde den US-Markt und den Weltmarkt gehörig aufmischen … vorausgesetzt, dass nicht alle Einwohner starben.

Sein Timing war perfekt. Heute machte Cynna sich auf Spurensuche. Das Schicksal aller – dieser ganzen Welt außer den Sidhe – hing von ihrer Fähigkeit ab, ein deutliches Muster zu sichten, denn nur so würde es ihr gelingen, das Medaillon zu finden. Das hatte man ihnen wenigstens versichert. Und er hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als mit ihr zu schlafen.

Oh, er war ehrlich zu ihr gewesen! Er hatte ihr gesagt, dass er nur das tat, was er wollte, dass er seine eigenen Bedürfnisse befriedigte, nicht ihre. Was er dann ja auch getan hatte.

Er war wirklich ein brillanter Egoist. „Danke“, sagte er zu dem dürren, dunkelhäutigen Mann an dem Papierstand. „Ich komme wieder auf Euer Angebot zurück, wenn ich einen Weg gefunden habe, die Stifte herstellen zu lassen.“ Er schlenderte weiter.

Jahre. Er hatte Jahre gebraucht, um die falschen Instinkte zu entwickeln. Jetzt waren andere gefragt. Er wusste, wie er Beziehungen unverbindlich hielt, was er tun musste, damit eine Frau nicht zu viel erwartete. Aber nicht, wie er sie dazu brachte, ihm zu vertrauen. Das hatte er noch nie zuvor gewollt.

Und Cynna fasste nur schwer Zutrauen. Das verstand er. Er war genauso. Sie hatte sich die einzige verlässliche Person in ihrem Leben zum Vorbild genommen und sogar die Religion ihrer Tante angenommen, obwohl sie sich ihrer Beweggründe, soweit er es beurteilen konnte, zum Glück nicht bewusst war.

Zuerst hatte ihr Vater sie verlassen. Auch wenn Daniel Weaver nicht aus eigenem Antrieb gegangen war, Cynna war in der Überzeugung aufgewachsen, alleingelassen worden zu sein. Auch ihre Mutter hatte sie verlassen, auf langsamere und unendlich schmerzhaftere Weise. Eigentlich hatte Cynna ihre Mutter schon lange verloren, bevor diese vor ein Taxi getaumelt war. Da war es ganz natürlich, dass Cynna wie ihre Tante sein wollte … die gestorben war, wie sie gelebt hatte. Allein.

Cullen runzelte die Stirn. Tante Meggie hatte einiges zu verantworten. Selbst ein Lupus konnte allein auf sich gestellt überleben. Er hatte es bewiesen. Aber Überleben war kein Leben.

Der Markt erstreckte sich über mehrere Straßen. Hochwertige und importierte Waren – importiert hieß, sie kamen aus anderen Welten – wurden in größeren Läden verkauft, aber fast alles andere bekam man an den kleinen Ständen und bei fliegenden Händlern.

In einem Stadtteil nahe beim Fluss wurden vor allem Obst und Gemüse angeboten. Der Fischmarkt war ganz in der Nähe. In einem anderen Teil wurden Stoffe und Kleidung verkauft.

Einen Sklavenmarkt gab es nicht. Auch um das herauszufinden, war er hierhergekommen. Sklaverei war überall in Edge gesetzlich verboten, und die Gnome nahmen es mit ihren Gesetzen sehr genau. Sklavenhandel wurde mit dem Tode bestraft.

Ein Punkt für die Gnome.

Cullen hielt sich eine Weile bei den Talismanen, Tränken und Zutaten für magische Rituale auf. Einige waren eindeutig unecht, aber andere waren wirklich faszinierend. Er hatte einen der Gnome überreden können, ihm ein wenig Taschengeld zu geben, aber es war nicht genug, um die beiden Talismane, die ihn interessierten, zu kaufen, deswegen ging er unverrichteter Dinge weiter.

Von da aus schlug er eine enge, ungepflasterte Straße ein. Auch hier gab es noch ausreichend magische Lichter, aber die Menschen trugen den gleichen groben Wollstoff, den ihm die Ekiba gegeben hatten, und manche sahen geradezu zerlumpt aus.

Die meisten waren Menschen. Vor allem die Zerlumpten.

Cullen blieb an einem winzigen Stand stehen und kaufte sich etwas zu essen – ein flaches Brot, das mit würzigem Hackfleisch und einer Art Kohl gefüllt war. Er erstand zwei Stück, plauderte ein bisschen, fragte, wo er etwas zu trinken kaufen könne, und ging weiter, während er darüber nachdachte, was er bisher erfahren hatte.

Erstens: Überall wurde darüber geredet, dass ein Tor zur Erde geöffnet worden war, und die Leute fragten sich, welche Möglichkeiten dieser Umstand für Edge mit sich bringen würde. Zweitens: Mehr wussten sie nicht. Es gab Gerüchte, dass auf dem Kahn, der kürzlich angelegt hatte, auch Menschen von der Erde gewesen sein sollten, aber die meisten hielten das für unwahrscheinlich. Warum sollte eine Handelsdelegation irgendwo anders als mitten in der Stadt durch dieses Tor eintreten?

Niemand erwähnte das Medaillon des Kanzlers. Niemand erkannte Cullen. Sie nahmen an, dass er ein Mensch war, aber aus einer der anderen Welten. Denn, wie sich herausgestellt hatte, waren die meisten Menschen, die in Edge lebten, nicht Theilos – die, die durch den Spalt gefallen waren –, sondern ihre Nachkommen. Und die meisten Theilos stammten nicht von der Erde. Ein paar Menschen waren willentlich hierher ausgewandert, aber sie waren die Ausnahme. Was auch verständlich war, wenn man bedachte, wie schlecht ihr Ansehen hier war. Sicher hatten sie eher unter Vorurteilen als unter gewaltsamer Unterdrückung zu leiden, aber auch das änderte nichts daran, dass sie auf der sozialen Leiter ganz unten standen.

Zu Hause waren die Lupi generationenlang von Menschen gejagt worden. Das war jetzt illegal – aber nur, wenn Lupi gerade ihre Menschengestalt angenommen hatten. Daher war es merkwürdig, dass ihm die Not der Menschen in Edge unangenehm war. Vielleicht fühlte er sich ganz automatisch zu den Unterdrückten hingezogen.

Während er darüber nachdachte – und seinen Beobachter beobachtete; es war so lustig, dabei zuzusehen, wie der kleine Kerl sich schnell duckte, um nicht erwischt zu werden –, verließ er das hauptsächlich von Menschen bewohnte Stadtviertel. Er hatte vergessen, sich etwas zu trinken zu besorgen, und hatte Durst, deshalb steuerte er eine Taverne an. Er würde Bier trinken, ein wenig den Gesprächen zuhören und anschließend ins Kanzleramt zurückkehren, um zu sehen, wie Cynns Arbeit verlaufen war.

Ein groß gewachsener Mann von einer für Cullen undefinierbaren Spezies und mit einem Extrasatz Arme verstellte ihm die Tür und brummte ihm etwas zu. Sein Talisman sagte: „Geh weg, menschlicher Abschaum.“

Cullen blieb stehen und blickte hoch in das hässliche Gesicht. „‚Geh weg, menschlicher Abschaum‘?“, wiederholte er ungläubig. „Das kann nicht dein Ernst sein.“

„Menschen sind im Gypsum nicht erlaubt.“

Er hätte ihm sagen können, dass er kein Mensch sei. Stattdessen setzte er ein liebenswürdiges Lächeln auf. „Aber ich habe Durst. In diesem Fall wirst du doch sicherlich zur Seite treten.“

Der Mann der ihm unbekannten Spezies knurrte.

Das Knurren gab den Ausschlag. Der Wolf in Cullen mochte es nicht, angeknurrt zu werden, und er hatte nicht übel Lust, dem Wolf seinen Willen zu lassen. Sein Lächeln wurde breiter. Der überdimensionierte Idiot würde sicher komisch gucken, wenn der schwache, kleine Mensch sich auf einmal wandelte. „Ich bin ein friedlicher Kerl. Ich zähle bis drei, spätestens dann solltest du die Tür freigegeben haben. Eins …“

Ein glockenhelles Lachen unterbrach ihn. Mit gerunzelter Stirn warf er einen Blick über seine Schulter … und dann roch er, wer sich ihm näherte. Seinen Körper erfasste eine ganz andere Art der Erregung.

Heute trug sie Grün, ein blasses, silbriges Grün. Ihr hauchdünnes Kleid war wie ein Sari geschnitten. Darunter trug sie nichts. Die nackten Brüste waren klein und rund und hübsch, die Brustwarzen von blassem, jungfräulichem Pink.

Und ihr Duft …

„Hört auf, mit dem armen Halb und Halb zu spielen“, sagte die Sidhe-Frau, und in ihrer Stimme lagen Belustigung, Spott und Zweideutigkeit. „Er weiß doch nicht, was Ihr seid.“ Sie legte kokett den Kopf auf die Seite. „Ich bin nicht sicher, ob ich es weiß. Nicht so … so genau, wie ich es gerne hätte.“

Die Sichtung war gut verlaufen. Langweilig, aber gut. Die erste magische Suche erbrachte allerdings nicht viel.

„Kein Glück?“, fragte Ruben leise.

Sie befanden sich in einem Küchengarten, dem einzigen Ort im Kanzleramt, wo sie mit den nackten Fußsohlen auf der Erde stehen konnte. Das war zwar für eine magische Suche nicht unbedingt nötig, aber es half ihr, wenn sie an ihre Grenzen gehen musste.

„Nein.“ Sie zuckte die Achseln. „Entweder ist es zu weit weg, oder es ist mit Schutzbannen versehen. Zeit für Plan B.“

„Ihr denn noch habt ausreichend Energie?“, fragte Bilbo besorgt. Er und zwei andere Gnome warteten hinter Ruben auf dem mit Kopfsteinen gepflasterten Gartenweg.

„Ja.“ Tatsächlich fühlte sie sich großartig, obwohl sie gerade eine vollständige Suche durchgeführt hatte. Sie fragte sich, ob die Magie in Edge sie besser auftankte als die auf der Erde. Oder es lag an dem tollen Sex gestern Abend. Denn Sex, wie jeder Wicca bestätigen würde, wirkte Wunder auf den magischen Energiehaushalt.

„Das kann ein bisschen länger dauern“, warnte sie ihre Zuschauer und ging in die Hocke. „Ich muss mich erst vorbereiten.“

Sie hatte sich für ihre Erdung einen robusten, weitverzweigt wachsenden Thymian ausgesucht, weil sie darauf stehen, sitzen und herumtrampeln konnte, ohne dass er Schaden nahm. Außerdem duftete er gut. Sie schloss die Augen und ließ sich tragen von den Düften des Gartens, den leicht feuchten und weichen Pflanzen und der Erde, bis sie sich zentriert und bereit fühlte.

Und erregt. Beinahe unerträglich erregt. Der letzte Abend hatte ihren Körper daran erinnert, was ihm fehlte, und er wollte mehr. Aber das konnte sie jetzt für sich nutzen. Sexuelle Erregung war Energie und sehr viel schöner als Schmerz. Theoretisch konnte sie auch den Schmerz für sich nutzen, aber bisher hatte sie es nie ausprobieren wollen.

Ihre Haut fühlte sich zu eng und kribbelig an. Ein angenehmes Ziehen zwischen ihren Beinen zog ihre Aufmerksamkeit auf ihr Wurzelchakra.

Warum war Cullen nicht hier?

Sei still, rügte sie ihren Verstand. Hatte sie Cullen nicht selbst gesagt, er solle auf den Markt gehen? Sie brauchte ihn nicht, damit er ihr bei einer Suche die Hand hielt. Sie hatte ihn nicht dabeihaben wollen, weil sie den Kopf freihaben, nicht an ihn denken wollte … und doch tat sie jetzt genau das. Und zu allem Überfluss ärgerte sie sich, dass er, trotz allem, nicht erschienen war.

Wie erwachsen von ihr. Cynna seufzte.

Wieder richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den Thymian, auf die Luft, den Moment und das, was sie empfand. Nach kurzer Zeit war sie wieder ruhig und zentriert und konnte sich auf ihr neuestes kielezo, das magische Tattoo für das Medaillon, konzentrieren. Vorsichtig ließ sie Energie in ein kilingo fließen, einen Zauber, der die kielezos miteinander verbinden sollte.

Normalerweise war es langwierig und mühselig, mit einer magischen Suche eine Fährte aufzunehmen, wenn sie keine Verbindung zu dem Objekt selbst bekam. In diesem Fall musste sie die Suche immer wieder von vorne beginnen und sich von einem Ort zum anderen bewegen, bis sie eine Spur gefunden hatte, die das Objekt zurückgelassen hatte. In den letzten Jahren hatte Cynna jedoch mit einer anderen Methode experimentiert, in der der Faktor Zeit eine Rolle spielte. Dabei suchte sie den Raum, der sich an die Anwesenheit des Medaillons vor ungefähr einem Monat „erinnerte“.

Eines der kielezos stand für die Zeit, die vergangen war. Das war ihr Ziffernblatt. Zu Hause hätte sie dieses Ziffernblatt nach der Anzahl der Nächte eingeteilt, die vergangen war, seitdem die Person – denn gewöhnlich handelte es sich um eine Person – vermisst wurde. Da dies in Edge nicht funktionieren würde, hatte sie die Gnome gebeten, ihr etwas zu geben, das an einem einzigen „Tag“ hergestellt worden war – so genau wie möglich. Sie hatten ihr eine Strickarbeit gegeben. Darauf hatte sie das Muster gesichtet, das für die Lebenszeit stand. Jetzt musste sie vier kielezos miteinander verbinden: eins für die Fährte, eins für den Tag, das kielezo des Medaillons und das für die Zeit, die vergangen war.

Sie „zog“ eine Linie zwischen dem kielezo des Medaillons und der Fährte, verband dann beide mit der Zeit, die vergangen war und verknüpfte dann Letztere mit dem Tag. Den kielezo des Tages hatte sie kraft ihres Willens so angepasst, dass er die von ihr gewünschte Anzahl von Tagen repräsentierte. Als die Verbindungen zu stimmen schienen, erhob sie sich.

Cynna konzentrierte sich mit aller Kraft auf ihre nackten Füße und versuchte, ganz bewusst die Erde, die Pflanzen und den Boden durch die Haut zu erspüren. Sie hob die Ferse und senkte sie dann langsam wieder. Dann die andere. Mit gebeugten Knien und ohne dass die Füße je den Kontakt mit dem Boden verloren, stampfte sie einen uralten Rhythmus. Während dieser immer heftiger wurde, zog sie Energie aus ihrer Gabe, ein Vorgang, der so einfach und natürlich war, wie tief Atem zu holen … halten, halten … Die durch das Trommeln ihrer Füße erzeugte Energie nahm unaufhörlich zu, wurde durch ihre Arme, die sie jetzt langsam hob, gebündelt … langsam, ganz langsam … und die miteinander verbundenen kielezos hoben sich mit ihren Armen und summten unsichtbar in der Luft.

Fünf und fünf und fünf und fünf und fünf und fünf, sagte sie zu dem kielezo des Tages. Sie schlug die Arme über dem Kopf zusammen. Atmete aus. Und fand es.

Dort. Oh ja. Dort … und hier entlang, in diese Richtung. Sie hatte es.

Cynna lächelte, ein wenig benommen und sehr müde. Triumphierend. „Ich habe eine Fährte. Sie ist schwach, aber deutlich. Der Fluss. Das Medaillon ist auf dem Fluss gefahren, in Richtung Süden.“

Ruben lächelte. „Gute Arbeit.“ Sie hörte einen Hauch von Erleichterung aus seiner Stimme heraus.

Die Erleichterung der Gnome war weniger leise, verflog aber schnell wieder, und sie begannen geschäftig, Befehle zu geben. Nun war es sicher, dass die Fährte aus der Stadt herausführte. Sie würden wieder aufbrechen müssen. Bilbo versicherte ihnen, dass alles für ihre Abfahrt in einem Glockenschlag bereit wäre, das hieß also in zwei Stunden.

„Ich hoffe, Gan taucht rechtzeitig wieder auf.“ Sie machte sich ein wenig Sorgen um die ehemalige Dämonin.

Ruben sah sie an. „Hat Mr. Seabourne Ihnen gesagt, wann er zurück sein wird? Oder sollen wir vielleicht jemanden nach ihm schicken?“

„Oh nein, das ist nicht nötig. Er ist wieder hier.“ Sie musste nicht erst eine vollständige magische Suche durchführen, um sich dessen sicher zu sein. Sie brauchte noch nicht einmal sein Muster. Sie musste sich nur fragen, wo Gegenstände oder Menschen, die sie gut kannte, waren, und ihre Gabe sagte es ihr – vorausgesetzt, sie waren in der Nähe. „Ich sage ihm, dass wir in Kürze abreisen werden.“

Auf dem Weg zurück zu ihren Räumen bog Cynna nur einmal falsch ab, fand aber im Übrigen problemlos ihren Weg durch das Labyrinth. Trotzdem dauerte es lang genug, um sich die Frage zu stellen, warum sie sich sofort bereit erklärt hatte, Cullen zu holen. Nur weil ihr Körper mehr von ihm wollte, hieß das nicht, dass ihre Gefühle auch dazu bereit waren.

Vielleicht deutete sie auch zu viel in den letzten Abend hinein. Was hatte sich denn geändert? Der Sex war toll, aber es war nicht das erste Mal gewesen … wofür der Reiter, der noch zu klein war, um ihren Leib zu wölben, Beweis genug war. Ihr lag etwas an ihm, das stimmte. Aber schließlich war er ihr Freund, und an Freunden lag einem immer etwas. Gestern Abend hatte sie sich verletzlich gefühlt, aber das hieß nicht … dass sie sich in ihn verliebt hatte, um Himmels willen.

Vernarrt. Sie war in ihn vernarrt, mehr nicht. Es würde vorbeigehen.

Cynna war müde und angespannt, als sie vor seiner Tür stand. Sie klopfte unbeabsichtigt fest. Ihre Hand schob die Tür halb auf. „Ich bin es“, rief sie und drückte die Tür ganz auf. „Rate mal, was passiert ist.“

Ihre Beine waren auf einmal wie Blei. Ein merkwürdiges Gefühl hatte sie erfasst, als wenn sie eine Mischung aus Angel Dust und Kokain gedrückt hätte, ein Gefühl wie Feuer und Eis. Und sie sagte: „Oh, du bist beschäftigt. Macht nichts, das hier dauert nur eine Minute.“ Sie machte ein paar große Schritte, während ihr dieses Feuer und Eis durch die Adern rannen.

Cullen war oberhalb der Taille nackt. Genauso wie die Elfenfrau, die sich an ihn klammerte. Als die Tür sich geöffnet hatte, hatte er sich umgedreht, um sie anzusehen, mit schweren Lidern und benommenem Blick und einer Hand auf der Brust der Frau … einer hübschen kleinen Brust. Auch die Elfenfrau hatte den Kopf gedreht, aber dann sofort wieder da weitergemacht, wo sie aufgehört hatte. Sie leckte Cullen über den Hals.

Ein großer Fehler.

Mit nur vier langen Schritten war Cynna bei ihnen und schwang das Bein in einem Halbkreis, mit der Innenseite des Knöchels in das Gesicht der Elfenschlampe zielend.

Cullen blinzelte – und setzte sich so unglaublich schnell in Bewegung, als würde jemand eine DVD vorspulen. Er verschwamm vor ihren Augen, verdammt, so schnell bewegte er sich, um sich schützend vor die Elfenschlampe zu stellen und die Arme in einem perfekten Unterarmblock hochzureißen.

Cynnas Fuß traf gegen seinen linken Unterarm. Er aber reagierte nicht mit einem Gegenschlag, der sie aus dem Gleichgewicht gebracht hätte, sondern sie konnte ihren Schwung so nutzen, dass sie sich drehen und erneut die Schlampe angreifen konnte.

Sie war nicht mehr da. Eben noch hatte sie selbstzufrieden hinter Cullen gestanden, die hübschen Lippen abfällig verzogen. Und jetzt war sie … einfach verschwunden.