12
Kai lehnte an der rauen Rinde einer Eiche, die größer war als ihr Wohnhaus zu Hause, und atmete durch den Mund. Das magische Licht hinter ihrem Kopf, das zu ihr gehörte, hüpfte aufgeregt auf und ab. Ihr tat der Magen weh, sie hatte einen Geschmack im Mund, als wenn etwas darin vor mehreren Tagen gestorben wäre, und ihr Hals brannte. Und der Geruch erst …
Nathan hielt eine Wasserflasche in der einen, ihren kleinen Spaten in der anderen Hand. Seine Farben waren ruhig, wie gewöhnlich ein See aus Indigo und Dunkelrot mit silbernen Gedanken, die durch sie hindurchschwammen. Der Geruch machte ihm nichts aus. Genauso wenig wie die brennenden Körper. Dass sie sich übergeben hatte, schon, aber nur, weil es ihm zeigte, wie elend sie sich fühlte.
Er reichte ihr die Flasche und kniete sich auf den blätterbedeckten Lehmboden, um mit dem Spaten neben ihrem Erbrochenen ein Loch zu graben.
Kai spülte sich den Mund aus und spie die ersten beiden Schlucke wieder aus, dann trank sie vorsichtig. Die Scham schmeckte zwar beinahe genauso sauer wie das, was sie gerade erbrochen hatte, war aber leider nicht so schnell loszuwerden. Sie holte tief Luft. „Es tut mir leid. Ich müsste das hier eigentlich selbst wegmachen.“
Nathan sah über seine Schulter zurück. „Warum entschuldigst du dich?“
„Ich wette, du hast dir nicht die Seele aus dem Leib gekotzt, als du das erste Mal getötet hast.“
„Nein, aber Menschen sind oft zartbesaitet. Was merkwürdig ist, wenn man bedenkt, wie gewalttätig ihr von Natur aus seid.“ Er bedeckte den Inhalt ihres Magens mit Erde und stand auf. „Du hast nicht getötet, Kai.“
„Sie sind meinetwegen getötet worden. Weil ich ihren Willen manipuliert und sie dorthin geschickt habe – wo sie beinahe diese Leute umgebracht hätten. Wenn sie nicht dieses magische Feuer gehabt hätten …“
„Aber das hatten sie, obwohl ich nicht weiß, ob er tatsächlich ein Magier ist. Bist du plötzlich allwissend geworden, als ich nicht hingesehen habe?“
„Schon gut, schon gut. Ich konnte nicht wissen, dass diese Menschen in der Nähe des Waldes sein würden. Aber wenn ich nicht die Dondredii dazu gebracht hätte, wären sie nicht verbrannt worden.“ Sie lernte gerade, ihre Gabe zu benutzen. Deswegen hatte sie es getan.
„Wären sie nicht hier gewesen und getötet worden, hätten sie woanders selbst getötet. So sind sie. Sie sind Raubtiere. Nicht sehr geschickte Raubtiere“, fügte Nathan hinzu. Er trug ihre Sättel und Satteltaschen an den Rand der kleinen Lichtung und steckte den Spaten in eine Tasche zurück. „Einzeln sind sie schwach und ohne eigenes Bewusstsein. Nur in der Gruppe entwickeln sie etwas, das diesem sehr nahe kommt, aber …“
„Aber das ist krank. Ja, das habe ich bemerkt. Und ich war ihrer geistigen Gesundheit nicht gerade förderlich.“
„Du musst noch viel lernen. Deswegen hast du ja auch mit ihnen geübt statt mit Wesen, die mit einem wirklichen Bewusstsein ausgestattet sind. Kai, geht es dir gut? Kann ich dich für etwa eine halbe Stunde allein lassen?“
Sie nickte, obwohl sie ihn gerne gefragt hätte, was er mit „gut“ meinte. Irgendwie schien es ihr, als sei es ihr schon lange nicht mehr gut gegangen. „Warum?“
„Die Leute, die die Dondredii angegriffen haben, sind nicht durch den Wald gekommen. Sie sind durch ein Tor gekommen.“
„Oh Mist! Obwohl ich auch froh bin, dass wir ihnen begegnet sind.“
„Ich muss mich vergewissern, dass das die Leute sind, von denen meine Königin gesprochen hat.“
„Natürlich. Geh schon. Äh … bist du sicher, dass sie dich weder sehen noch hören können?“
Nathans Lächeln sah immer wie frisch zubereitet aus, als hätte er den Ausdruck gerade erst entdeckt. In ihm lag eine Mischung aus Belustigung und Freude. Sie hätte sich keine Gedanken machen müssen; es freute ihn, dass sie sich um ihn sorgte. „Ganz sicher.“
„Sollten wir nicht … ein paar von ihnen sind verletzt. Ich weiß, dass wir eigentlich nicht in Kontakt mit ihnen treten sollen, aber müssen wir nicht etwas unternehmen?“
„Sie haben die Ekiba gerufen. Die haben Heiler. Kann ich dich hier allein lassen?“
Sie warf einen Blick über die Lichtung auf die angebundenen Pferde. Von hier aus konnte sie Dell nicht sehen. Das gefleckte Fell der Raubkatze verschmolz mit den Schatten und der Dunkelheit unter den Bäumen. Auch hören konnte sie sie nicht. Aber sie wusste, was das Chamäleon gerade tat. Es fraß. Sehr zufrieden noch dazu. Dell war alles andere als zartbesaitet; das lag nicht in ihrer Natur, genauso wenig wie Blutsaugen in Kais Natur lag. Und trotzdem war das Band zwischen ihnen immer noch stark. „Dell wird schon merken, wenn sich irgendetwas nähern sollte, und bisher ist uns hier noch nichts begegnet, mit dem sie nicht fertig geworden wäre.“
„Ich habe nicht gefragt, ob du beschützt wirst. Ich habe gefragt, ob es dir gut geht.“
Sie sah in seine hellgrauen Augen, und ganz plötzlich ging es ihr gut. Ihn zu lieben war so einfach. Manchmal machte es alles andere ebenfalls leichter. Sie lächelte. „Ja, es geht mir gut.“
Er trat zu ihr und küsste sie zart. „Dann geht es mir auch gut.“
Nathan verschwand im Wald, so mühelos wie Dell und noch leiser. Kai machte sich auf den Weg zu den Pferden, weit weniger anmutig. Ihre Oberschenkel, die Hüften, ihre Hinterfront – alles tat ihr weh. Sie war gut in Form und konnte reiten, aber sie hatte seit Jahren nicht mehr auf einem Pferderücken gesessen.
Sie hatten drei Pferde – einen phlegmatischen Haselnussbraunen, den sie als Lasttier benutzten, die braune Stute, die Kai ritt, und Nathans knochigen, widerspenstigen Wallach.
Sie trat auf den rötlichgrauen Wallach zu. „Psst“, flüsterte sie ihm zu, als er schnaubte und zurückwich. Seine Farben flackerten in einem nervösen, ärgerlichen Orange. „Psst, na, na. Schon gut.“ Sie blieb stehen und glitt in den Fugue-Zustand – so schnell und mühelos, dass es ihr ein wenig Angst machte. Doch sie versuchte darüber hinwegzugehen, denn sonst würde die Angst nur noch größer werden.
Die Fugue war ein seltsamer, gläserner Zustand, in dem es keine Worte gab, nur ihren Willen. Sie träumte sich in ihre Liebe zu Pferden. Zu allen Pferden, sogar den großen, launischen Wallachen, die versuchten, sie zu beißen. Sie streckte die Hand aus, schickte ihm eine pinkfarbene Gedankenblase und tauchte aus der Fugue auf. „Siehst du? Ich sattle dich jetzt nicht. Ich bin nur gekommen, um mich um deinen Huf zu kümmern. Und Hilfe brauchst du doch, nicht wahr?“
Das Pink schlängelte sich in die Gedanken das Wallachs. Er legte die Ohren nach vorne und schnüffelte an ihrer Hand. Kai lachte leise. „Liebe bedeutet Fressen für dich, was, mein Junge? Tut mir leid, keine Leckerchen.“ Aber es gefiel ihm, als sie ihn am Ohr kraulte. Dann zog sie ihr Taschenmesser heraus. Mit der Nagelfeile würde sie den Huf gut säubern können.
Sie hob seinen Vorderhuf und kratzte Gras und Erde heraus. Die vertraute Tätigkeit beruhigte sie. In dieser Welt musste Nathan sich um beinahe alles allein kümmern, und die daraus resultierende Abhängigkeit machte ihr mehr zu schaffen als nötig. Aber um den Huf konnte sie sich wenigstens kümmern. Ihr Großvater hatte ihr beigebracht, wie man Pferde pflegte.
In der letzten Zeit fühlte sie sich so nutzlos, und an dieses Gefühl war sie nicht gewöhnt. Aber so vieles in ihrem jetzigen Leben war ungewohnt für sie. Allmächtige Königinnen. Reisen in eine andere Welt. Sich verlieben in … nein. In Nathan hatte sie sich verliebt, lange bevor sie wusste, was er war. Aber wiedergeliebt zu werden, das war neu.
Als sie die Hufe des Wallachs gesäubert hatte, trat sie zurück, sah ihn gedankenvoll an und suchte nach ihrer pinkfarbenen Gedankenblase in seinen Farben. Sie war geplatzt, so wie vorgesehen, und verschmolz nun mit den langsamen, einfachen Farben der Tiergedanken.
Kai konzentrierte sich auf die Farben des Pferdes, bis sie wieder im Fugue-Zustand war. Einmal dort angekommen, hatte sie Mühe, sich daran zu erinnern, was sie eigentlich vorgehabt hatte. Oh ja … ihre Farben zurückholen. Obgleich der Anblick ihres Pink in den matten Farben des Pferdes hübsch anzusehen war … Nein, sagte sie sich mit aller Entschlossenheit. Das einzelne Wort reichte beinahe, um sie aus der Fugue herauszuholen.
Vorsichtig, sanft, wollte sie die Farbe, die ihr gehörte, zurück. Wie Wünsche in einem Traum wickelten sich die pinkfarbenen Fäden von den Farben des Wallachs und lösten sich auf.
Sie blinzelte. Schwankte. Obwohl sie plötzlich sehr erschöpft war, verspürte sie große Befriedigung und Freude. Sie hatte es geschafft. Zweimal schon hatte sie die Gedankenblasen, die sie während der Fugue losgeschickt hatte, zurückgeholt. Wenn das möglich war, würde sie keinen bleibenden Schaden anrichten, während sie lernte, ihre Gabe zu benutzen.
Und da ihr Leben davon abhing, würde Kai die Erschöpfung schon ertragen.