27
Tash richtete sich auf und schüttelte den Kopf. „Ich kann nichts für ihn tun. Kein Heiler kann hier etwas ausrichten – es ist nicht mehr genug Verstand da, den man heilen könnte. Ich kann ihm nur die Gnade des Todes anbieten.“
Cynna stockte der Atem. „Nein. Das würdest du nicht tun. Du würdest dich nicht einfach …“
Tash blickte Bilbo an, der den Kopf schüttelte. „Wir noch nicht haben entschieden.“
Tash, Bilbo, Cynna und Cullen befanden sich in einem vollgestopften Lagerraum in einem der hinteren Zimmer der Herberge. Es stank nach Urin. Ein Mann – ein Mensch – saß in sich zusammengesunken auf Decken auf einer schmalen Pritsche und spielte mit seinen Fingern. Er schien seine Besucher gar nicht wahrzunehmen. Dann und wann wimmerte er. Einmal kicherte er.
Er hatte einmal gut ausgesehen, dachte Cynna. Muskulös, vielleicht ein wenig grobschlächtig. Jetzt war er ein bärtiger, windeltragender Idiot.
„Wir können ihn nicht hierbehalten“, sagte der Wirt. Er wischte sich immer wieder die Hände an seiner Schürze ab, als würde er sie sich in Unschuld waschen wollen. „Wir haben auf einen vorbeireitenden Ekiba gewartet, damit wir die Nachricht verbreiten und seine Leute finden können. Was mit ihm passiert ist, ist nicht unsere Schuld.“ Er schüttelte den Kopf. „Nicht, dass ich verstehen würde, was mit ihm passiert ist. Ich kann einfach nicht glauben, was Ihr mir über Bell erzählt habt, obwohl … nun ja, er ist tatsächlich gegangen, aber er war schon immer ein Herumtreiber.“
Laut Aussage des Wirtes und seiner Frau war dieser Mann vor drei Wochen bei ihnen erschienen und hatte für eine Nacht bezahlt. Als er am nächsten Tag nicht abreiste, hatten sie nach ihm gesehen und ihn in diesem Zustand vorgefunden. Am Tag vorher hatten sie ihn mit einem Jungen sprechen sehen, der ungefähr dreizehn Jahre alt war, Bell Hammon hieß und für sie gelegentlich kleinere Arbeiten erledigte. Hammond war ein Herumtreiber und stammte nicht aus diesem Dorf, hatte aber seit über einem Jahr hier gewohnt. Auf einmal jedoch war er verschwunden – nur Stunden bevor der Wirt seinen Gast in uringetränkten Laken seine Finger zählend gefunden hatte.
„Im Ahk-Gebiet treibt man sich nicht herum“, sagte Tash, „wenn man kein Dummkopf ist. Ihr sagt, Hammond wurde gesehen, als er auf dem Weg in die Berge war?“
Der Wirt nickte unglücklich. „Ich dachte, Derreck hätte sich geirrt. Es musste so sein. Bell ist nicht gerade helle, aber er ist nicht so dumm, Ahk-Land zu betreten. Ihr nehmt diesen Kerl doch mit, nicht wahr? Wir können ihn nicht hierbehalten.“
Cynna verließ das Zimmer und überließ es Bilbo, mit dem Wirt zu klären, wer die Verantwortung für diesen armen Mann hatte. Wenn man das, was von ihm noch übrig war, einen Mann nennen konnte.
Cullen kam ihr nach. „Lass uns ein wenig Luft schnappen.“
Sie nickte. Der Eintopf, der ihnen zum Abendessen serviert worden war, lag ihr schwer im Magen. Der Mann tat ihr so leid.
Sie gingen nicht weit. Es war kälter geworden, und in den Schnee, der durch die eisige Luft wirbelte, mischten sich Eiskörner. Doch die Veranda war überdacht, und es war windstill. In der kühlen, reinen Luft verging ihre Übelkeit.
Cynna stand am Geländer und sah zu, wie das Weiß des Schnees mit dem Schwarz der Winternacht verschmolz. Cullen stellte sich hinter sie. Er hatte sein magisches Licht nicht entzündet, sodass nur ihr kleiner Lichtball ein wenig Helligkeit verbreitete.
„Mir ist aufgefallen“, sagte er leise, „dass unser Dieb erst seinen Verstand verloren hat, nachdem er das Medaillon verloren hatte.“
Er hatte recht. Der Mann hatte es bis hierher geschafft. Dem Wirt war er ganz normal vorgekommen – bis zum nächsten Tag … „Die Erste Ehrenwerte Rätin sagte, dass das Medaillon den Verstand desjenigen frisst, mit dem es keine Verbindung herstellen kann. Sie sagte nicht, dass es erst dann passiert, wenn jemand anders das Medaillon in Besitz nimmt. Doch ganz so sieht es aus.“
„Vielleicht wollte sie nicht, dass wir auf die Idee kommen, es selbst zu behalten.“
Cynna erschauderte. „In die Versuchung komme ich ganz bestimmt nicht. Ich frage mich nur, warum dieser Bell Hammond es genommen hat. Woher wusste er überhaupt von seiner Existenz? Der Wirt hat es nicht gesehen. Dieser arme Mann hätte es dem Jungen doch sicher nicht gezeigt. Und selbst wenn, hätte Hammond nicht gewusst, was es war.“
Cullen schüttelte den Kopf. „Wir übersehen irgendetwas.“
„Sehr viel, vermute ich.“ Aber heute Abend war sie zu müde, um weiter darüber nachzudenken. Cynna seufzte. „Ich brauche Schlaf.“
Er legte die Arme um sie. „Es ist ganz schön voll in unserem Bett.“
Die Betten, hatten sie festgestellt, waren sehr groß … groß genug für drei Leute. Sogar noch mehr, wenn die Leute so groß wie Gnome waren. Und da es so wenige Zimmer gab, würden sie und Cullen ihr Bett mit Steve teilen. „Es hätte schlimmer kommen können. Wir hätten ja auch Gan als Bettnachbarin kriegen können.“
„Da hast du auch wieder recht. Ich wette, sie macht sich ganz schön breit. Ach übrigens … ich komme noch nicht mit dir mit. Tash hat zwei Leute verloren, und obwohl diese Herberge, verglichen mit einem blanken Boden als Lager, wunderbar komfortabel ist, ist sie doch schlecht zu verteidigen. Wen, Steve und ich haben angeboten, die Wache zu unterstützen. Ich übernehme die erste Runde.“
Cynna beugte sich ein wenig in seinen Armen zurück und sah ihn an. Ihr magisches Licht schwebte über ihrer Schulter und tauchte die Konturen seines schönen Gesichts in weiches Licht. Komisch, dass ihr immer seltener auffiel, wie aufregend schön er war. Meistens war er einfach nur Cullen für sie. „Ich könnte auch eine Wache übernehmen.“
„Schwangere Frauen sind vom Wachdienst ausgeschlossen.“
Sie dachte nach und beschloss, dass das nicht unvernünftig klang. Es fiel ihr zwar nicht leicht, es zu akzeptieren, aber … „Ich glaube, ich könnte acht Stunden Schlaf mal wieder gut brauchen.“ Cullen schlief nur dann acht Stunden, wenn sein Körper heilen musste. Wenn er einmal sechs Stunden schlief, fand er das für seine Verhältnisse viel zu viel.
Als Cynna sah, wie sich seine Züge entspannten, wusste sie, dass er erleichtert war. Er hatte gefürchtet, sie würde einen Streit anfangen. Sie versuchte, streng zu gucken. „Du willst mir also zu verstehen geben, dass ich mit Steve Timms schlafen muss.“
Er grinste. „Du hast nichts zu befürchten. Er hat mir gesagt, dass er nicht in fremden Revieren wildert.“
„Was ist er, ein Jäger? Ich bin keine Beute.“
„Ich weiß, aber Steve ist nicht die hellste Lampe im Kronleuchter, was den Umgang mit anderen angeht. Aber die gute Nachricht ist: Er übernimmt die letzte Schicht. Wenn du also mit ein bisschen weniger als acht Stunden auskommst, haben wir das Bett eine Weile für uns.“
Oh. In diesem Fall … sie ließ die Hand über seine Seite gleiten. „Wie geht es deinem Herzen?“
Er antwortete erst nicht, dann sagte er leise: „Besser. Meinem Herzen geht es besser.“
Cynna bewegte sich, als das Bett sich senkte. „Schlaf wieder ein, Liebes“, sagte Cullen leise. Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Steves Schicht fängt erst in vier Stunden an.“
Sie schlief ganz tief und fest und träumte von einer Frau mit Katzengesicht, die Cullen vögeln wollte. Cynna erklärte ihr gerade, dass Cullens Penis nicht für Geschlechtsverkehr mit Katzen gemacht sei, als die Tür aufschlug.
Cullen rollte sich über die Seite aus dem Bett direkt in den Stand. Ein zweieinhalb Meter großes Monster mit Stoßzähnen und einem zwei Meter langen Schwert kam brüllend durch die Tür gestürmt. Bevor Cynna sich von ihren Decken befreit hatte, warf Cullen Flammen nach ihm.
Sein Schrei wollte kein Ende nehmen und mischte sich mit anderen. Der verkohlte Körper fiel zu Boden und blockierte die Tür, als Cynna endlich am anderen Ende des Bettes neben Steve auf die Beine kam.
„Runter!“, rief Steve – als ein zweites Monster in der Tür stand.
Cullen duckte sich. Steve schoss. Der erste Schuss schien das Monster zu erschrecken – es riss die Augen auf und zögerte. Der zweite Schuss traf es mitten zwischen die Augen.
„Das Fenster!“, schrie Cullen und zog eine der Leichen von der Tür weg. Vielleicht hoffte er, die Tür schließen zu können.
Cynna wirbelte herum und drückte den Fensterladen auf. „Scheiße! Da kommen zwei über das Verandadach. Unten auf der Straße sind noch mehr, alle zu Pferde. Ahk“, fügte sie hinzu, als sie endlich begriff. „Es sind Ahk.“
Jemand grollte etwas hinter ihr. Schon als sie zur Tür herumfuhr, übersetzte ihr Talisman. „Ihr kämpft tapfer, aber mit eins zu zwanzig seid Ihr uns unterlegen. Ergebt Euch, und wir werden alle, die noch am Leben sind, verschonen.“
In der Tür stand niemand. Der Sprecher musste außerhalb der Schusslinie auf sie lauern.
Cullen schleuderte eine Stichflamme durch die Tür. „Und das sollen wir Euch glauben? Ich wüsste nicht, warum. Und von dem hier habe ich noch mehr.“
Wieder ertönte das Grollen. Der Zauber übersetzte: „Dieses Mal töten wir Euch noch nicht. Ihr seid neu in Edge und kennt die Ahk nicht. Und das Feuer … grieegwashabettama.“
Oder so ähnlich. Bei dem letzten Wort, das der Zauber nicht übersetzte, packte die verkohlte Leiche Cullen beim Knöchel.
Er schrie auf, ergriff das riesige Schwert, das eins der Monster hatte fallen lassen, und schwang es. Steve schoss auf jemanden draußen vor dem Fenster.
Offenbar hatte dieser Kerl auch einen Zauber. Oder er beherrschte die englische Sprache. Denn er hatte Cullen verstanden. „Was wollt Ihr?“, rief Cynna laut.
„Euch“, sagte der Talisman. „Ihr seid Cynna Weaver. Wir wollen Euch lebend. Wir werden die anderen verschonen, wenn Ihr Euch jetzt ergebt. Ich mache Euch dieses Angebot, damit Ihr wählen könnt.“
Wo waren die anderen? Die fünf restlichen Wachen, Tash, Gan, Bilbo, Wen – waren sie alle tot? Ihr Vater auch? Gott, sie hatte ihn doch gerade erst wieder gefunden, bitte … bitte.
Sie hörte Kampfgeräusche im Erdgeschoss. Aber einige aus ihrer Gruppe waren auf ihrem Stock untergebracht gewesen. Daniel Weaver zum Beispiel. Hier war es so ruhig … „Sagt Euren Männern, sie sollen nicht weiter vorrücken. Dann können wir miteinander reden.“
Ihr Zauber übersetzte das Kauderwelsch der Bassstimme. „Warum sollten wir das tun?“
„Weil ihr bestimmt nicht wollt, dass sie unnötig sterben. Genauso wenig wie ich will, dass meine Leute ohne Grund ihr Leben lassen müssen. Wenn sie angreifen, bevor wir uns einig geworden sind, werden wir sie töten.“
Es folgte eine Pause, dann bellte er etwas, das einfach mit „Stopp!“ übersetzt wurde, und fügte in einem Ton hinzu, der beinahe als normal bezeichnet werden konnte: „Seid Ihr die, die das Kommando hat? Werden die anderen Euren Befehlen folgen?“
„Na ja, eigentlich denkt der Ehrenwerte Rat, dass er es hat, aber das stimmt nicht. Ich habe es.“ Cullen hatte ihr es immer wieder gesagt. Jetzt würde sie herausfinden, ob er es auch so gemeint hatte.
„Der Gnom ist tot.“
Ihr stockte der Atem. Sie sah Cullen an. Was nun? Was sollten sie ohne den Gnom tun, der das Medaillon in Besitz hatte nehmen sollen? Sie konnten einige der Ahk töten, aber nicht alle. Sie waren zu wenige, und es gab keine Kavallerie, die zu ihrer Unterstützung kommen würde.
Cynna zitterte und schob es auf die Kälte. „Dann bin ich Eure Gesprächspartnerin. Aber Tash hat für den Gnom gearbeitet, und ich weiß nicht, wem …“
„Die, die Ihr Tash nennt, ist tot. Sie kämpfte sehr ehrenhaft für die, denen sie verpflichtet war.“
Tot? Tash war tot? Der Schock tastete mit feuchtkalten Fingern über ihre Haut. Sie fühlte sich taub und leer. Als wäre eine Wunde wieder aufgebrochen, von der sie vorher nichts gewusst hatte. Sie hatte Tash nicht als Freundin betrachtet, aber …
„Andere sind noch am Leben. Einer der Menschen ist bewusstlos, aber nicht schwer verletzt. Wie ich höre, ist er verwandt mit Euch. Die kleine Hässliche ist auch am Leben. Ich weiß nicht, was sie ist, aber vielleicht wollt Ihr, dass sie lebt. Sprich, kleine Frau.“
„Cynna Weaver.“ Gans Stimme, noch höher und schriller als sonst, kam aus dem Flur. „Ich will nicht tot sein. Vielleicht habe ich noch nicht genug Seele, um weiterleben zu können, wenn mein Körper tot ist, und außerdem finde ich es schön zu leben. Ich finde es wirklich schön. Du hast gesagt, du wärst traurig, wenn ich getötet würde. Tu, was er sagt, ja? Dann werde ich nicht getötet.“
Es war, als würde alle Luft aus ihren Lungen gepresst. Ihre Augen brannten, als sie Cullen ansah. Er bewegte einmal den Kopf hin und her, aber sie verstand nicht, was er ihr sagen wollte. Lass nicht zu, dass sie Gan töten? Vertrau ihnen nicht? Setz nicht unser aller Leben bei einem Handel aufs Spiel?
„Ergebt Ihr Euch?“, flüsterte der Talisman.
Fieberhaft überlegte sie, welche Möglichkeiten ihr blieben. Die Ahk waren Krieger. Hatten sie auch einen Ehrenkodex wie alle Krieger – ein Wort war bindend und so weiter? Cynna hatte den Eindruck, dass sie brutal, aber ehrlich waren. Aber es hing so viel von ihrer Entscheidung ab …
Cullen hielt etwas in die Höhe. Einen Edelstein?
Keinen einfachen Edelstein. Den, den die Elfenfrau ihm gegeben hatte. Das Ruf-mich. Cynna schluckte und versuchte, nicht zu hyperventilieren. Diese Schlampe zu Hilfe zu rufen, war möglicherweise ein Fehler, aber wenn jemand es mit den Ahk aufnehmen konnte, dann die Sidhe.
Sie nickte Cullen zu und sagte laut: „Ich habe also Euer Wort, dass alle die, die noch am Leben sind, verschont werden, wenn sie jetzt die Waffen niederlegen? Ihr werdet nicht Vergeltung üben?“
Sie hörte ein Grollen, und der Talisman sagte: „Ahk rächen sich nicht an denjenigen, die ehrenhaft kämpfen. Das haben Eure Leute getan. Ihr habt mein Wort.“
„Und Ihr habt das Kommando. Die anderen werden tun, was Ihr sagt.“
„Das werden sie.“
Sie ergab sich.
Cullen verschwand.