8
Ein leichter Wind kitzelte die nackten Bäume und rieb Äste und Zweige gegeneinander wie Finger aus Sandpapier. Derselbe Wind zupfte an Cynnas Haar und kühlte ihre Wangen. Der Himmel war wie mit Aquarellfarben gemalt, schwarz mit vereinzelten kohlefarbenen Strichen, wo Wolkenfetzen die Lichter der Stadt reflektierten. Nur einige wenige Sterne lugten durch den Dunst.
Sie konnte Cullens Gesichtsausdruck nicht sehen, nur die hellen Umrisse seines Gesichts in der Dunkelheit. „Du hast mir einen Antrag gemacht“, sagte sie verdutzt. „Du hast mir einen Heiratsantrag gemacht.“
„Ja.“
„Hochzeit.“
„Das wäre eine vernünftige Lösung.“
„Lupi heiraten nicht. Niemals.“
„Oh, stimmt ja. Gut, dass du mich daran erinnerst. Das hatte ich ganz vergessen.“
Cullens Sarkasmus verpuffte. Die ganze Situation war zu seltsam. Sie konnte nicht sagen, wie sie sich fühlte … doch, sie konnte. Sie war glücklich. Sie wusste nicht, warum, aber sein Antrag – so sinnlos und rätselhaft er auch war – machte sie glücklich. Das hieß, dass sie genauso verrückt war wie er, aber wen interessierte das? Cynna lächelte über ihre beiderseitige Verrücktheit und tätschelte seinen Arm. „Ich werde dich nicht heiraten.“
Stirnrunzelnd blickte er auf ihre Hand, als nähme er sie zum ersten Mal wahr. „Warum nicht? Das ist eine saubere Lösung. Wir sind Freunde, wir haben guten Sex miteinander, und wir haben ein Kind zusammen gemacht. Die Ehe würde uns beiden die gleichen Rechte an dem Kind geben, und wenn … nun, da sei die Dame vor, aber falls du verletzt werden solltest, hätte ich auch etwas zu sagen.“
Sie lachte lauthals. „Du meinst, wenn ich hirntot bin, kannst du ihnen sagen, sie sollen mich künstlich am Leben erhalten, bis das Baby geboren ist? Na, das ist ja ein reizender Gedanke.“
Er legte den Kopf in den Nacken und seufzte laut. „Warum habe ich das Gefühl, dass du meinen Vorschlag nicht ernst nimmst?“
„Weil du verrückt bist, nicht dumm. Willst du mir etwa treu sein?“ Sie kicherte. „Komm schon. Lass uns dem Drachen einen Besuch abstatten.“
Er wandte sich schweigend von ihr ab und humpelte den Weg hinunter.
Sie folgte ihm. Ohne die Bäume über ihnen war es heller, und der Betonweg lag bleich vor ihr, sodass es einfacher war zu sehen, wohin sie ihre Füße setzte. Während sie ging, fragte sie sich, ob er wohl sauer war, weil sie gelacht hatte.
Wahrscheinlich nicht. Cullens Gemütsbewegungen waren nicht sehr subtil. Wenn er wütend wurde, dann wusste man es sofort.
Vielleicht hatte sie ihn verwirrt. Sie hatte nicht so reagiert, wie er es erwartet hatte. Aber was hatte er denn erwartet? Manche Frauen träumten von Hochzeitskleidern und fliegenden Brautsträußen von dem Moment an, an dem sie ihre erste Barbiepuppe in den Händen gehalten hatten. Cynnas erste Barbie hatte Kung-Fu gelernt und die anderen Puppen entweder zusammengeschlagen oder beschützt.
Sie hätte schwören können, dass Cullen sie gut genug kannte, um zu wissen, dass sie keine Frau war, die man heiratete. Durch diese ganze Baby-Geschichte konnte er nicht mehr klar denken, das musste es sein. Anscheinend war sie nicht die einzige Verrückte. Ein beruhigender Gedanke.
Aber so verrückt, einen Lupus zu heiraten, war sie nicht. Cynna mochte vielleicht nicht viel über die Ehe wissen – oder jede andere feste Partnerschaft, denn ihre Beziehungen schienen sich immer recht schnell totzulaufen. Aber Treue war nicht verhandelbar, und Rule war der einzige treue Lupus auf dem Planeten.
Außerdem wäre es grausam, einen Lupus zu heiraten. Sie wusste zwar nicht, was die anderen Lupi mit einem der Ihren machen würden, der eines ihrer elementarsten Gesetze verletzte, aber es war sicher nichts Angenehmes.
Vielleicht würden die Nokolai ihn vor die Tür setzen, wenn Cullen tatsächlich so weit gehen und sie heiraten würde. Herrgott! Allein der Gedanke tat ihr weh. Sie wusste nicht, wie es für einen Lupus war, clanlos zu sein. Wenigstens konnte sie es ihm nicht richtig nachfühlen, nicht, wie ein anderer Lupus es konnte. Aber sie wusste, dass es das schlimmste Schicksal war, das sie sich vorstellen konnten.
Cullen hatte beinahe sein ganzes Leben clanlos verbracht. Er war erst seit einigen Monaten ein Nokolai … drei Monate, dachte sie, vielleicht vier. Er war, kurz bevor sie sich kennengelernt hatten, in den Clan aufgenommen worden.
Was hatte er sich nur dabei gedacht? Wie konnte er das alles aufs Spiel setzen?
Vielleicht tat er es gar nicht. Was wusste sie schon. Und ihn konnte sie nicht fragen, verdammt. Er würde ihr das sagen, was ihm in den Kram passte – vermutlich würde er nicht offen lügen, aber er verdrehte die Wahrheit gern so lange, bis sie ihm passte.
Außerdem wollte sie nicht, dass er dachte, sie würde ernsthaft über seinen Antrag nachdenken. Sie konnte Rule fragen, welcher Sünden wegen ein Lupus aus seinem Clan ausgestoßen werden konnte. Sie würde es hypothetisch formulieren müssen. Wenn sie …
Irgendein blödes Stück Natur brachte sie ins Stolpern, weil sie nicht aufgepasst hatte. Beinahe wäre sie kopfüber gestürzt. „Verdammt!“
Cullen blieb stehen und drehte sich zu ihr um. „Herrgott noch mal! Hier.“ Er machte eine Geste, als würde er etwas in die Luft werfen – und plötzlich erschien ein Lichtball, hüpfte auf und ab und hing dann zwischen ihnen, schimmernd wie ein riesiges Glühwürmchen.
Sie starrte es an. „Magisches Licht. Du weißt, wie man magisches Licht macht?“
„Mika hat es mir gezeigt. War ganz schön peinlich, um ehrlich zu sein. Es ist nämlich geradezu lächerlich einfach. Man braucht nur ganz wenig Energie.“
„Und du lässt mich die ganze Zeit durch die Dunkelheit stolpern.“
„Zuerst hattest du deine Hand in meiner Hose. Das gefiel mir.“
„Du …“
Sage deinem Gefährten, er soll seinen Schutzschild gegen Gedankensprache öffnen, damit ich mit ihm sprechen kann.
Cynna schrak zusammen – und machte große Augen. Aus dem Schatten vor ihnen löste sich etwas Langes, Dunkles und tapste den Weg hinunter auf sie zu. Etwas sehr Langes, Dunkles. Mit Augen. Die Augen waren silbergrau, die Pupillen geschlitzt. Und sie befanden sich ungefähr drei Meter über dem Boden.
Ihre Angst überraschte sie nicht. Das war wohl eine durchaus normale Reaktion, wenn man einen Drachen erblickte. „Äh … Cullen? Mika will mit dir sprechen.“
Cullen stemmte die Hände in die Hüften und sah dem Drachen mit gerunzelter Stirn entgegen. „Was ist?“
Deine Frau will dich angreifen, aber sie glaubt, dass ein Angriff unfair wäre. Erklär mir das.
„Hör auf, deine Nase in unsere Köpfe zu stecken“, fuhr er ihn an.
Meine Nase ist nicht … ah. Du hast eine Metapher gebraucht. Ich muss meine Nase nirgendwohin stecken. Eure Gedanken sind laut. Unklar, aber laut.
Cynna hatte bereits einen Drachen von Nahem gesehen. Bei ihrem verrückten Flug aus der Hölle war sie auf einem von ihnen geritten. Trotzdem minderte das weder ihre Angst noch ihre Faszination. Doch als Mika näher kam, verspürte sie nur noch Ehrfurcht.
Der magische Lichtball war nicht so hell wie eine Taschenlampe. Erst als er sich hin und her wiegte, erhaschte sie einen Blick auf den langen Körper. Die gewaltigen Flügel waren zu einem dunklen Buckel auf seinem Rücken gefaltet. Sein Hals war lang und muskulös und so beweglich wie eine Schlange. Er hielt den Kopf ungefähr auf Schulterhöhe.
Der Kopf war dreieckig, die Schnauze beinahe zart. Der bewegliche Kamm, ähnlich denen, die von chinesischen Künstlern dargestellt wurden, lag wie schwarze Spitze um die Augenhöcker, die Ohrlöcher und den Kiefer. Im sanften Glühen des magischen Lichtes schimmerten die Schuppen auf seinem Gesicht in einem Dutzend Rottönen.
Als Mika stehen blieb, war sein lippenstiftroter Kopf noch eineinhalb Meter entfernt – und er sah sie unverwandt an. Es war schwer, nicht in die großen, feuchten Augen mit den beweglichen Ober- und Unterlidern zu sehen. Fairness verwirrt mich. Menschen denken oft daran, aber mit beinahe jedem Gedanken ändern sie die Bedeutung des Wortes. Manchmal bedeutet „unfair“ falsch. Manchmal bedeutet es jedoch, etwas ist unerfreulich. Fair kann auch heißen, dass man etwas wie vereinbart bekommt, aber Fairness ist auch wichtig, wenn es keine Vereinbarungen gibt. Wie jetzt zum Beispiel. Ihr habt nicht vereinbart, dass du deinen Gefährten nicht angreifst, oder doch?
„Äh … nein. Aber ihm fehlt ein Fuß. Es ist nicht fair, jemanden anzugreifen, der behindert ist.“
Ein Fuß oder zwei, er ist dir überlegen, körperlich. Er würde jeden Kampf mit dir gewinnen.
„Nein, das würde er nicht, weil er nicht zurückschlagen würde. Und allein deswegen ist es schon unfair.“
Die großen Lider klappten langsam auf und zu. Finden Menschen es unfair, jemanden anzugreifen, der nicht zurückschlagen will? Das ist verrückt. In diesem Falle würden nur die, die sich weigern zu kämpfen, einen Kampf gewinnen, was ganz offensichtlich nicht stimmt.
„Ich glaube …“ Moralische Fragen waren nicht ihre Stärke. Was würde Vater Michael sagen? „Ich glaube, Fairness ist wie Gerechtigkeit, nur persönlicher. Es gibt unterschiedliche Vorstellungen darüber, was fair ist und was nicht, weil es eine persönliche Frage ist.“
Fairness ist also eine subjektive Interpretation von Gerechtigkeit?
„Nein“, sagte Cullen plötzlich. „Fairness bedeutet moralische Gerechtigkeit oder moralisches Gleichgewicht. Unfairness bedeutet, etwas ist moralisch im Ungleichgewicht. Deswegen ist es so subjektiv – Moral ist immer schwer zu fassen. Ein Kind findet vielleicht, dass es unfair ist, wenn es seine Hausaufgaben machen muss, während seine Freunde draußen spielen. Es versteht noch nicht den moralischen Aspekt von Disziplin. Und natürlich haben auch manche Erwachsene kein besseres Verständnis von Moral als ein Kind. Sie rufen gleich ‚unfair‘, wenn sie nicht bekommen, was sie wollen.“
Ah.
Stille senkte sich über sie, sowohl mental als auch physisch. Der Drache rührte sich nicht. Cynna roch schwach seinen Duft – eine Mischung aus Zimt, heißem Sand und Moschus. Sie meinte sogar seinen warmen Atem zu spüren. Sie dachte an Dis und Dämonen und einen furchterregenden, wunderbaren Flug auf dem Rücken eines Drachen. Ihr Herz schlug schnell.
Endlich blickte Mika Cullen an. In einem unserer Gespräche waren wir uns einig, dass Moral die Idee ist, die ein Wesen von dem hat, was richtig ist.
„Das stimmt.“
Die menschliche Moral ist voller Widersprüche mit Zähnen, deren Spitzen nach innen zeigen und mit denen sie an sich selbst nagt. Schuld allerdings ist ein vernünftiges Konzept, das von den meisten bewussten Wesen geteilt wird. Ich werde Fairness unter diesem Aspekt betrachten. Deine Gefährtin glaubt, dass sie eine Schuld auf sich nimmt, wenn sie dich zu Boden schlägt. Deswegen hat sie sich entschieden, ihrem Wunsch nicht nachzugeben.
„So ungefähr, ja“, stimmte Cullen zu und sah Cynna amüsiert von der Seite her an.
Wenn die Menschen sich offenbar so viel Sorgen um ihre Moral machen und sich gleichzeitig so uneins sind, was diese angeht, muss Fairness ein sehr komplexes, subjektiv variables Konstrukt sein. Ist es verhandelbar?
„Zum Teil.“
Was ist das für ein Handel, den du mir vorschlagen willst?
„Drei Personen aus Edge sind gekommen und …“
Edge? Wo ist … ah, ich verstehe. Du meinst Dsighliai.
„Kann sein“, sagte Cullen trocken. „Ich glaube, Edge ist die englische Übersetzung.“
Deine Gefährtin nimmt an, dass sie nach Edge gehen wird. Wie will sie das machen?
„Sie wollen, dass Cynna mit ihnen geht, und offenbar wissen sie, wie man ein Tor öffnet. Kennst du Edge?“
Willst du Verhandlungen um Informationen führen?
„Vielleicht später. Jetzt …“ Er warf Cynna einen Blick zu. „Die Leute aus Edge wollen einen Schild errichten, bevor wir die Bedingungen besprechen. Einer von ihnen, ein Gnom, behauptet, er kenne einen Schutzschildzauber, kann ihn aber nicht selbst ausführen. Ich soll ihm dabei helfen. Heute Nacht suche ich die Bestandteile zusammen. Seit du hier bist, hast du einige Schuppen verloren.“
Stille. Das verhieß nichts Gutes.
Cullen ließ nicht locker. „Cynna ist eine sehr gute Finderin. Sie könnte jede Schuppe, die du verloren hast, finden, und wir sammeln sie für dich ein. Als Entschädigung für diesen Dienst könntest du uns einen Anteil – sagen wir, die Hälfte – an den Schuppen geben, die sie …“
Blitzartig schoss der riesige Körper in die Höhe – vier Meter, sechs Meter, vielleicht sogar mehr –, die Flügel gespreizt, die Vorderbeine erhoben und den Schlangenhals gekrümmt. Zischend riss Mika das Maul auf und zeigte seine Zähne. Meine Schuppen gehören mir!
Beinahe hätte sich Cynna vor Angst in die Hose gemacht.
Cullen sah hoch. „Ja, sie gehören dir.“
Mika stellte sich nicht wieder auf alle viere, aber er hörte auf zu zischen. Sie können nicht nicht mir gehören. Was du vorschlägst, ergibt keinen Sinn.
„Menschen – und Lupi – tauschen das, was ihnen – und uns – gehört, gegen das, was sie bzw. wir wollen, ein. Ich spreche von einem Tausch.“
Was mir gehört, wird immer mir gehören.
Die mentale Stimme war sehr deutlich, unnachgiebig. Mika war nicht interessiert an einer philosophischen Diskussion über Eigentum. Cynna sah Cullen an. Er runzelte die Stirn und schüttelte leicht den Kopf.
Auch er wusste nicht, wie man einen Drachen dazu bewegen konnte, seinen Besitzanspruch aufzugeben. Gab es einen Weg, an eine Schuppe zu kommen, ohne … „Urheberrecht“, sagte sie plötzlich.
„Was?“
„Das Urhebergesetz. Das Modell passt hier.“ Sie sah hoch zu dem weit über ihnen schwebenden Drachenkopf. „Objekte bedeuten den Menschen nicht dasselbe wie dir, Mika, aber andere Dinge schon. Dinge, die wir herstellen insbesondere. Du … äh, du kennst doch Bücher und Theaterstücke?“
Selbstverständlich. Es lag sehr viel Verachtung in dem Gedanken.
„Vielleicht hast du von Shakespeare gehört.“
Einer eurer Geschichtenerfinder.
„Ja. Tja, wir sprechen immer noch von Shakespeares Theaterstücken. Obwohl der Mann seit ein paar Jahrhunderten tot ist, sagen wir, es sind seine Stücke, weil er sie gemacht hat – so wie du deine Schuppen gemacht hast. Trotzdem dürfen die Menschen seine Stücke benutzen. Sie können sie aufführen, darüber reden, aus ihnen zitieren. Dasselbe gilt für Bücher. Und Gemälde. Jeder Urheber besitzt sein Werk, und daran ist nichts zu ändern, aber der Urheber kann anderen Rechte daran zugestehen im Tausch gegen etwas, das er will.“
Langsam senkte sich Mika zu ihnen herunter. Als seine Füße den Boden berührten, sagte er: Was meinst du mit Rechten?
„Wir bitten dich, uns zu erlauben, eine deiner Schuppen in einem Zauber zu benutzen. Die Schuppe gehört immer noch dir, aber wir haben das Recht, sie zu verwenden. Als Gegenleistung finde ich alle deine verlorenen Schuppen und bringe sie dir wieder.“
Du kannst sie finden? Alle?
„Ja, wenn sie sich im Umkreis von hundert Kilometern von mir entfernt befinden. Das ist wohlgemerkt eine der Bedingungen. Weiter entfernte Objekte kann ich nicht finden.“
Der lange Körper senkte sich noch tiefer. Mika ließ sich nieder, die Vorderfüße untergezogen, den riesigen Schwanz um sich herum gelegt wie eine Katze, die sich für ein Schläfchen zusammenrollt. Wir werden das besprechen.
Zwei Stunden und vierzig Minuten später hatte der Wind Cynna die Tränen in die Augen treten lassen. Ihr Gesicht fühlte sich an wie erfroren, die Finger waren taub vor Kälte, und ihre Schenkel schmerzten, weil sie die Beine so fest gegen den warmen Körper gepresst hatte.
Der Rest von ihr war angenehm warm, als Mika jetzt wieder zur Landung ansetzte. Leder hielt Wind ab, und sowohl der Drache, auf dem sie ritt, als auch der Mann hinter ihr hatten es warm gehabt.
Gott, sie liebte es, auf Drachen zu fliegen.
Cullen glitt als Erster herunter, was sich als eine gute Idee herausstellte. Als sie folgte, gaben ihre Knie nach, sobald ihre Füße den Boden berührt hatten. Er fing sie auf und grinste. Dem Funkeln in seinen Augen nach zu schließen, hatte der Flug ihn ebenso berauscht wie sie. „Bist du nicht ans Reiten gewöhnt?“
„Nicht an diese Art.“ Cynna grinste zurück, vor Erschöpfung wacklig auf den Beinen, aber immer noch wie berauscht. „Du weißt wirklich, wie man einer Frau etwas bieten kann.“
Sie hatte sieben Schuppen gefunden. Zurückgebracht hatten sie jedoch nur fünf, denn zwei, so schien es, gehörten Mika nicht mehr. Sie waren sehr klein, so groß wie der Nagel ihres kleinen Fingers. Cullen sagte, die Magie wäre aus ihnen gewichen.
Die anderen fünf waren größer, eine sogar so groß wie ihre Hand mit gespreizten Fingern. Das war die, die Cullen haben wollte – es war immer noch sehr viel Magie darin. Die anderen drei musste Mika beim Fliegen verloren haben. Eine hatten sie in einer ruhigen Straße gefunden, eine andere auf dem Dach eines Bürogebäudes. Die letzte … nun, dieser Typ hätte besser daran getan, sie sofort herzugeben, als sie ihm gesagt hatten, der Drache wolle seine Schuppe zurück. Es war nicht ihr Fehler, wenn ihm nichts Besseres eingefallen war, als einem Drachen in die Augen zu sehen, und ein bisschen Hexerei würde ihm nicht schaden.
Bist du sicher, dass wir alle gefunden haben?
Mika stellte diese Frage nun schon zum dritten Mal. „Alle, die sich in einem Umkreis von hundert Kilometern befinden.“
Mehr als einhundert, weil sie jedes Mal, wenn sie gelandet waren, um eine Schuppe aufzuheben, noch einmal neu gecheckt hatte. Was auch ohne Zweifel der Grund war, warum sie jetzt so hundemüde war. Jedes Mal hatte sie eine vollständige magische Suche durchgeführt, was bedeutete, dass sie immer wieder von vorne hatte anfangen müssen. Aber wenn man mit Drachen verhandelte, hatte Cynna sich gedacht, war es besser, auf Nummer sicher zu gehen, dass man seinen Teil der Abmachung einhielt. „Vergiss nicht, mir meine Tasche zurückzugeben.“
Mika mit der Jeanstasche um den Hals bot einen merkwürdigen Anblick. Nachdem Cynna die erste Schuppe hineingelegt hatte, hatte er darauf bestanden, sie sich umzuhängen.
Der Drache drehte sich um, trotz seiner Masse so anmutig wie eine Katze. Du wirst mit mir kommen und meine Schuppen dahin tun, wo ich sie haben will. Dann kannst du deine Tasche wiederhaben.
Cullen hatte gesagt, dass Mika umdekoriere. So konnte man es auch ausdrücken. Man konnte aber auch sagen, er riss alles ab, obwohl Cynna vermutete, dass die neue Einrichtung für einen Drachen praktischer war als die alte.
Das Carter-Barron-Amphitheater hatte viertausend Konzertbesuchern Sitzplätze geboten. Davon waren nur die obersten ein oder zwei Reihen geblieben. Der Rest war eingerissen worden und lag zu behelfsmäßigen Dämmen gehäuft auf zwei Seiten der Betonschräge, deren unterer Teil mit Erde bedeckt war.
Dort landeten sie jetzt auf hartem Grund. Mika hatte sich vor seinem Nest eine schiefe Ebene gebaut, wo er landen und abfliegen und sonnenbaden und sonst etwas machen konnte. Dahinter ging es steil in die dunkle Tiefe, dorthin, wo einmal die große Bühne gewesen war, mit Wänden an drei Seiten und einem hohen Dach.
Mika glitt einfach den Abhang hinunter zur Bühne. Cullen sprang und landete leichtfüßig. Cynna hätte es vielleicht geschafft, halbwegs würdevoll abzusteigen, wenn ihre Muskeln nicht so müde von dem Ritt auf dem Drachen gewesen wären. So rutschte sie einfach die letzten Meter die Schräge hinunter und landete mit einem dumpfen Schlag im Staub. „Mist!“
„Alles in Ordnung?“ Cullen bückte sich zu ihr hinab. Das magische Licht umgab schwebend seine Schulter.
„Ja.“ Sie stand auf, klopfte sich den Staub ab und sah sich um. Vor allem sah sie Drachen. Mika füllte nicht den ganzen Raum aus. Aber doch beinahe.
Ein leises Mauzen ließ Cynna zusammenzucken. Sie machte große Augen. Eine kleine graue Katze war wie aus dem Nichts aufgetaucht und rieb sich jetzt an den dicken Vorderbeinen des Drachen. „Was zum Teufel …?“
„Mikas Katze“, sagte Cullen. „Obwohl ich den Eindruck habe, dass die Katze findet, dass Mika ihr Drache sei.“
Mika klappte den Kiefer herunter und entblößte Zähne, um die ihn der weiße Hai beneidet hätte. Cynna ließ ihre Tasche fallen. Mikas Zunge schoss vor und leckte die Katze. Die schnurrte. Die beiden Geschöpfe sahen sich einen Moment lang an, dann wandte sich die Katze ab und zuckte mit dem Schwanz, bevor sie den Abhang hinaufschoss und in der Dunkelheit verschwand.
„Das ist …“ Cynna brach ab. „Drachen haben keine Haustiere. Oder doch? Diese Katze … ein paar von Mikas Schuppen sind größer als sie.“
„Ich würde sie nicht ein Haustier nennen. Sie haben eine Abmachung.“
Auch Mika hatte sich umgedreht. Ich will, dass du meine Schuppen in diese Ecke zu meinem Staub legst.
Der Staub, von dem Mika sprach, war nicht derselbe wie der auf Cynnas Jeans. Es war Goldstaub. Die Drachen hatten nie erklärt, warum sie ihn haben wollten und was sie damit machten, aber jeder von ihnen bekam monatlich sieben Unzen reinen Goldstaubs als Bezahlung, damit sie dort lebten, wo die Menschen sie brauchten.
Cynna tauschte noch einen Blick mit Cullen und griff dann nach ihrer Tasche. Beide gingen sie an dem sich Meter um Meter dahinziehenden glatten, schuppenbedeckten Drachenleib vorbei. Mika hatte sich der Ecke, in die er gedeutet hatte, zugewendet, den Kopf beinahe bis zum Boden gesenkt, um die vier kleinen Kunststoffbehälter richtig sehen zu können, die beinahe wie Puppeneisschränke aussahen. Drei der Behälter waren verschlossen, der Deckel des vierten war geöffnet.
Wartet, befahl er ihnen.
Ein tiefer, pulsierender Ton füllte den Raum um sie herum. Ihr Verstand schaltete sich aus, und ihr ganzer Körper spannte sich an, als wollte er sich dem Geräusch öffnen. Ohren allein reichten nicht, um die überirdische Schönheit eines Drachenliedes zu hören.
So plötzlich, wie er begonnen hatte, verstummte Mika wieder.
Cynna seufzte enttäuscht. Rule hatte ihr davon berichtet, wie die Drachen sich in Dis versammelt hatten, um gemeinsam zu singen. In dieser Welt lebten sie weiter voneinander entfernt, aber sowohl Lily als auch Rule glaubten, dass sie sich immer noch zusammenfanden und sangen.
Jetzt ist es offen. Leg sie dorthin, neben meinen Staub.
Cynna schüttelte den tranceähnlichen Zustand ab und kniete sich neben die kleinen Kunststoffbehälter. Manchmal sangen Drachen aus Gründen, die nur sie allein kannten, was wohl auch auf Menschen zutreffen mochte. Manchmal sangen sie auch, um Magie zu wirken. „Du hast dein Gold mit einem Zauber gesichert?“
Ein Hauch von Verachtung trieb durch ihre Gedanken. Mika hielt die Frage für dumm.
Sie stapelte vier der Schuppen neben dem offenen Goldstaubbehälter ordentlich aufeinander und achtete darauf, dass Mika wusste, welche sie … nun ja, nicht behielt, weil es ja immer noch Mikas war. Die sie für Cullen zurückbehielt, damit er sie morgen verwenden konnte.
Jetzt, da seine verlorenen Schuppen wieder sicher versorgt waren, wurde Mika gesprächig. Er rollte sich behaglich zusammen und sah sie an. Wirst du in die Welt gehen, die du Edge genannt hast?
„Ich glaube, ja“, sagte sie.
Sag niemandem dort deinen geheimen Namen.
„Äh … Menschen haben keinen geheimen Namen.“
Natürlich habt ihr den. Die meisten von euch leben nicht lang genug, um ihn zu erfahren. Ich glaube, du wirst deinen bald bekommen, aber vielleicht wirst du es nicht wissen.
Dann sagte Mika vermutlich etwas zu Cullen, weil Cullen leise lachte. Er stellte eine Frage über die Delegation aus Edge, aber sie hörte nicht hin. Der Drang zu gähnen war einfach zu stark. Der letzte Adrenalinschub war vorbei, und sie konnte kaum die Augen aufhalten. Sie war froh, dass Cullen das Reden übernahm.
Als sie erwachte, schimmerte die Luft im Morgenlicht wie Perlmutt, ihr Kopf lag in Cullens Schoß, und seine Lippen strichen über ihre.
Schnell richtete er sich auf, als sie die Schläfrigkeit aus den Augen blinzelte. Unwillkürlich fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen, um ihn zu schmecken. Hastig setzte sie sich auf. „Warum hast du mich so lange schlafen lassen?“
„Du warst müde. Ich nicht, und Mika hatte Lust auf ein Schwätzchen.“
„Ich schlafe lieber im Bett.“ Sie fuhr sich mit der Hand durch ihre kurzen, abstehenden Haare. „Worüber habt ihr beide geredet?“
„Vor allem über Edge. Er sagt, wir sollen nicht vergessen, dass Dämonen zusammengesetzte Wesen sind.“
Das stimmte, denn sie nahmen etwas von allem, was sie verzehrten, in sich auf. Aber warum sollte das von Bedeutung sein? „Warum?“
Cullen zuckte die Achseln.
Sie runzelte die Stirn. Sie gefiel sich selber nicht. Schlecht gelaunt. Schmutzig. Sicher stank sie aus dem Mund. Sein Atem hatte frisch gerochen. Heilten Lupi sogar schlechten Atem? Das wäre sehr ungerecht. „Wo ist Mika?“, fragte Cynna, die erst jetzt bemerkte, dass sie allein waren.
„Frühstück. Er kann sehr leise sein, wenn er will. Du solltest wissen, dass ich mit niemandem zusammen war, seit der Sache in dem Hotelzimmer.“
„Wie bitte?“ Sex. Er meinte, er habe keinen Sex gehabt. Wie konnte er dieses Thema ansprechen, wenn sie aus dem Mund roch? „Warum nicht? Ich meine … warum sagst du mir das?“
Er zuckte die Achseln und stand auf, so geschmeidig wie gestern Abend Mika. „Die meisten Frauen finden so etwas wichtig. Ich dachte, du vielleicht auch.“
„Nein.“ Und dann platzte es aus ihr heraus: „Es ist fünf Wochen her.“
Er zog einen Mundwinkel hoch. „Offenbar hast du eine übertriebene Vorstellung von meiner Geilheit. Als ich noch jünger war vielleicht … nein, ganz sicher. Aber ich bin jetzt fast sechzig und nicht mehr daran interessiert, alles, was sich bewegt, zu vögeln.“
Sechzig. Das vergaß sie immer wieder. Er sah so alt aus wie sie selbst. „Ja, ich habe gesehen, was für ein sentimentaler Romantiker du auf deine alten Tage geworden bist.“
„So bin ich eben. Scheißsentimental. Komm.“ Er streckte ihr die Hand entgegen. „Du darfst mir ein Frühstück spendieren.“
Cynna bezahlte das Frühstück für ihn. Sie verdrehte die Augen, als die Kellnerin sich beinahe überschlug, um an ihren Tisch zu eilen – Cullen hatte diese Wirkung auf Frauen. Auch auf manche Männer. Sie fragte ihn, was Mika ihm über Edge erzählt hatte, und sie besprachen den Zauber, den er bald ausführen würde.
Und die ganze Zeit über hörte sie immer wieder: „Ich war mit niemandem zusammen seit dem Mal mit dir.“ Die Worte hatten etwas in ihr geweckt, etwas Wachsames, Hungriges und Schweigendes. Etwas, mit dem sie nichts zu tun haben wollte. Aber dieses Etwas weigerte sich, wieder einzuschlafen.