26

Zwei „Tage“ später …

Cullens Blick glitt über die, die gekommen waren, um ihn auszustoßen. Dreizehn. Nur dreizehn stolze Etorri hatten sich die Mühe gemacht, sich zu versammeln, um ihren Clan von seinem gefährlichen, schädlichen Einfluss zu befreien.

So ein kleiner Clan und so stolz, so sehr respektiert von den anderen Clans. So ein gutes du. Sie konnten nicht zulassen, dass ihre Ehre beschmutzt wurde. Wenn er sich nicht ihrer Vorstellung von Ehre anpassen wollte, dann würden sie eben ihre Konsequenzen ziehen.

Dreizehn waren gekommen … doch nicht sein Vater.

Sicher kommt er noch. Er kommt später, aber er kommt. Er versteht mich nicht, kann nicht vor dem Clan für mich eintreten, wie es ein Vater tun sollte, aber er hat nicht gemeint, was er gesagt hat. Er lässt mich nicht allein in dieser …

Dreizehn Männer … und eine Frau. Alt, gebeugt, die Augen vom grauen Star getrübt, ergriff die Rhej der Etorri das Wort. „Cullen Seabourne, tritt vor.“

Jetzt würde es geschehen. Und sein Vater war nicht gekommen. Er hatte es doch so gemeint. Dass Cullen für ihn tot sei, wenn er sich dem Befehl des Rho verweigerte. Er hatte es so gemeint.

Cullen hielt sich sehr gerade und starrte die alte Frau an, die offenbar dachte, dass er gehorsam mitmachen würde. Seine Kehle brannte. Seine Augen brannten. „Ich stehe direkt vor dir, und du bist nur halb blind. Du kannst mich doch sicher sehen?“

„Tritt vor“, wiederholte die Rhej.

Er zuckte die Achseln. „Nein.“

Der Mann zu seiner Linken war ähnlich gebaut wie er selbst und hatte elegante Hände und einen sauber geschnittenen Bart. Seine Stimme war viel tiefer, als seine Statur vermuten ließ, ein Bariton, beinahe schon ein Bass. „Mach es nicht noch schwerer für uns alle, Sohn.“

Sohn? Hitze kribbelte auf seiner Haut wie ein Blitz kurz vor der Entladung. Er könnte zuschlagen. Er könnte sie alle verbrennen – deshalb hatten sie es wohl auch alle so eilig, ihn loszuwerden. „Du bist mein Rho“, sagte er zu dem Mann, der auch sein Onkel war. „Für ein paar Minuten zumindest noch bist du mein Rho. Du bist nicht mein Vater. Man hat mir gesagt …“ Er musste innehalten und schlucken, was die Wirkung dessen, was er sagen wollte, verdarb. „Ich weiß aus sicherer Quelle, dass ich keinen Vater habe.“

„Das muss nicht sein. Du kannst immer noch der Zauberei entsagen und bei uns bleiben …“

„So, wie ich auch dem Wandel entsagen kann?“ Er hatte es ihnen immer und immer wieder zu erklären versucht. Sie wollten es einfach nicht verstehen, konnten es vielleicht auch überhaupt nicht verstehen, dass nämlich das eine ebenso ein Teil von ihm war wie das andere. Ebenso lebensnotwendig wie die Luft zum Atmen, das eine wie das andere.

„Nein.“ Die Stimme der alten Frau war scharf. „Das kann er nicht. Sieh die Schuld bei mir, Cullen Seabourne, wenn du unbedingt jemandem die Schuld geben musst. Ich habe gesehen, dass du nicht bleiben wirst. Dein Rho hat gehofft, er könnte das, was ich gesehen habe, ändern, indem er dich überzeugt, dem zu entsagen, was ein Teil von dir ist. Er hat es gut gemeint, aber nur falsche Hoffnungen geweckt. Du wurdest als Etorri geboren, aber dein Schicksal liegt nicht bei den Etorri.“

Sie hatte recht behalten. Die alte Hexe hatte recht gehabt. Sein Schicksal lag bei den Nokolai, nicht bei den Etorri.

Als er zu diesem Schluss gekommen war, wurde ihm bewusst, dass er träumte – denselben alten Traum, den sein Unterbewusstsein nach all den Jahren immer noch nicht aufgegeben hatte. Aber dieses Bewusstsein änderte nur den Traum und beendete ihn nicht.

Er lag jetzt auf dem Boden. Starke Hände hielten seine Hände, seine Knie und seine Füße. Nebelschwaden wirbelten über ihm und den anderen – ihre Gesichter verloren sich in diesem Dunst, aber die Stimme des Rho hörte er laut und deutlich: „Ich belege Cullen Seabourne, geborener Etorri, mit der seco.“

„Lass mich los, du Dummkopf!“, rief eine Frau aus dem Nebel. Er konnte sie nicht sehen.

Ah ja – jetzt gerieten die Dinge ein wenig durcheinander, aber es musste seine Mutter sein. Sie war gekommen, um den Rho, die Rhej, den ganzen Clan auszuschimpfen, die Gute. Sie hatten sie nicht an der seco selbst teilnehmen lassen, aber sie hatte es versucht. Cullen wappnete sich innerlich für den nächsten Teil …

„Oder ich puste euch allen die Köpfe weg.“

Das stand nicht im Drehbuch. Cullen wandte den Kopf, als der Dunst sich hob und erblickte Cynna, die ein paar Meter entfernt mit gespreizten Beinen dastand, ihre Kaliber 357 fest in einer Hand, gestützt von der anderen in echter FBI-Ich-mach-euch-fertig-Manier. Sie war sauer. „Vielleicht erschieße ich euch alle auch so“, knurrte sie. „Ihr blöden Idioten – lasst ihn sofort los.“

Er roch Cynna, ihren würzigen Moschusduft. Sie war erregt. Genau wie er.

Mit hämmerndem Herzen erwachte Cullen nun wirklich, die Haut feucht vor Angstschweiß, mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. Die Luft war schwer von Cynnas Duft, die hinter ihm lag, den Bauch an seinem Rücken. Und ihre Hand lag auf seinem Schwanz.

Er atmete zischend aus, als sie ihn umfasste und die Hand nach oben bewegte. Mit der Fingerspitze strich sie über seine Eichel. Lust durchzuckte ihn, heißer und so viel klarer als der Nebel in seinem Traum. „Cynna …“

„Pst“, sagte sie. „Schlaf wieder ein. Achte gar nicht auf mich.“

Er musste lächeln. Sie wollte wohl den Spieß umdrehen? Und er wollte auch, ganz eindeutig, wollte in sie eindringen, hart und schnell. Aber … „Ich kann nicht.“

„Ähm … bist du sicher? Weil die Beweise eine andere Sprache sprechen …“ Wieder bewegte sie ihre Hand und drückte dieses Mal leicht seine Hoden.

Cullen schloss die Augen. Es war schön, ihre Berührung zu spüren, so verführerisch … aber er konnte sie nicht ansehen. Er konnte nicht. Er lag ganz still.

Dann zog sie mit einem Mal die Hand zurück. „Hast du Angst um dein Herz?“

„Ja“, sagte er, dankbar für die Ausrede. „Ich glaube, es ist geheilt, aber Vorsicht ist besser als Nachsicht.“

Cynna machte ein leises Geräusch, das sich möglicherweise skeptisch anhörte. Aber sie drängte ihn nicht, und dafür war er ihr dankbar.

Noch lange danach lag Cullen in der kleinen Kabine wach und starrte in die Dunkelheit. Seine Augen wollten sich nicht schließen, und sein Körper war unzufrieden mit ihm, weil er sie abgewiesen hatte. Endlich übermannte ihn dann doch der Schlaf.

Genau das hätte sie getan, dachte er, während er langsam in die andere Dunkelheit, in der die Träume geboren wurden, abtrieb. Wenn Cynna ihn damals schon gekannt hätte, wäre sie gekommen und hätte es ihnen allen gezeigt. Sie hätte ihn nicht alleingelassen.

Auf einem Pferd zu sitzen, entsprach nicht Cynnas Vorstellung von Vergnügen. Seit Stunden ritt sie nun schon durch den Nieselregen und machte ein finsteres Gesicht. Aber seitdem die Fährte des Medaillons den Fluss verlassen hatte, waren Pferde das einzig mögliche Transportmittel. Zumindest hatten ihr das alle versichert.

„Mein Hintern wird mir das nie verzeihen“, murmelte sie und änderte zum hundertsten Mal ihre Sitzposition.

Cullen grinste. „Vielleicht haben sie im nächsten Dorf Pferdesalbe. Ich massiere sie dir gerne ein.“

Sie hielten ihre magischen Lichter über dem Boden, damit die Pferde sehen konnten, wohin sie traten. Cullens beide Lichter schwebten neben den Knien des Tieres, und diese von unten kommende Beleuchtung ließ ihn aussehen wie einen schönen Teufel.

Gott allein wusste, wie sie aussah … und sie hoffte, dass Er es für sich behalten würde.

Cullen schien sich auf einem Pferderücken ganz zu Hause zu fühlen, was sie fürchterlich wurmte. Als sie ihre Reittiere in dem Hafen, in dem sie das Schiff verlassen hatten, gekauft hatten, hatte er erwartet, es würde schwierig werden, ein Pferd zu finden, dass ihn akzeptierte. Die meisten Pferde mochten den Geruch eines Lupus nicht. Aber in Edge waren die Pferde an merkwürdig riechende Reiter gewöhnt, und sein Wallach war zudem, wie sich herausgestellt hatte, nicht anspruchsvoll. Zwei Karotten, und Cullen war sein neuer bester Freund.

Cynna warf ihm einen anerkennenden Blick zu. Nachdem er sie gestern abgewiesen hatte, hätte sie eigentlich sauer oder verletzt sein müssen. Aber aus irgendeinem Grunde war sie das nicht.

Ihre Blicke trafen sich. Seine Miene war ausdruckslos. Was Cullen ungefähr so überzeugend aussehen ließ wie einen Pfau, der vorgab, ein Spatz zu sein. „Bist du sicher, dass dein Herz das aushält?“

„Sagtest du etwas von Pferdesalbe?“ Steve ritt näher heran. „Mann, ich würde für eine Salbe töten, wenn sie den Schmerz lindern könnte.“

Wenn jemand noch mehr Probleme mit ihrer Fortbewegungsart hatte als Cynna, dann war es Steve. Nicht, weil er noch nie geritten war. Anders als sie, war er auf dem Land aufgewachsen und als Kind geritten. Aber das war schon Jahre her, und er befand sich erst seit Kurzem nicht mehr auf der Liste der Verletzten. Zudem waren seine Verletzungen schwer gewesen. Cynna hatte wenigstens zwei starke Beine und einen gesunden Körper … obwohl sie, nachdem sie stundenlang eben diese Beine um den Rumpf eines Pferdes geschlungen hatte, jetzt ganz neue Muskeln kennenlernte.

„Es wäre besser, wenn du keine Munition verschwendest“, riet ihm Cullen. „Vielleicht brauchen wir sie noch.“

Die beiden sprachen über das Gebiet, das sie durchritten. Obwohl Cynna ihr schmerzendes Gesäß etwas anderes weismachen wollte, hatten sie den Fluss noch nicht besonders weit hinter sich gelassen – vielleicht dreißig Kilometer – und befanden sich nun in einer niedrigen, sanft ansteigenden Hügellandschaft mit ein paar vereinzelten Bäumen. Glücklicherweise gab es eine Straße. Zwar aus festgestampfter Erde, wie die meisten Straßen hier, aber offenbar häufig genug frequentiert, um gut in Schuss zu sein.

Doch vor ihnen erhoben sich Berge. Nicht sehr hohe Berge, aber in Cynnas Augen sahen sie riesig und bedrohlich aus. Sie befanden sich im Ahk-Gebiet.

Die Fährte führte direkt darauf zu.

Bilbo war ganz aufgeregt deswegen. Zuerst hatte er gesagt, sie würden warten, bis weitere Wachen eingetroffen waren. Dann hatte er beschlossen, dass sie mit einem Trupp Soldaten in das Land eindringen würden. Sie hatten gewartet, bis sie die Erlaubnis dazu erhalten hatten. Das Problem war jedoch, dass die Ahk laut Tash so etwas wie Gäste nicht kannten und sie daher vielleicht lange auf eine Erlaubnis warten mussten. Wer sich auf ihrem Land befand, war entweder ein Ahk oder ein unbefugter Eindringling.

Im Moment ritt er neben Wen und schwatzte wieder munter drauflos. Er führte eine dieser langen, seltsamen Unterhaltungen mit einem der anderen Räte in der Stadt über zwei oder drei Ekiba hinweg. Die beiden Reiter sahen recht lustig aus – der kleine Gnom auf seinem Minipony neben dem großen, kahlen, fast nackten Ekiba auf seinem hohen Pferd.

„Ich sehe mal nach“, sagte Steve zu Cullen und trieb sein Pferd mutig mit den Fersen an. Das Tier fiel in einen schnellen Trab.

Auch Cynnas Pferd war schon ein paarmal getrabt. Sie mochte es nicht besonders. „Nachsehen? Was?“, fragte sie Cullen.

„Tashs Scout ist zurück, und Steve ist unruhig. Er wird mal eben schauen, ob wir das Dorf bald erreicht haben.“

„Bitte, lieber Gott“, sagte sie inständig. „Ich glaube, der Nieselregen wird bald ein richtiger Regen.“

„In Irland nennt man das ‚lindes Wetter‘.“

„Warst du schon einmal in Irland?“

„Sogar schon mehrfach. Meine Mutter hatte einen Cousin, der ein irisches Mädchen geheiratet hatte. Es ist wirklich, wie man sagt, die grüne Insel.“

„Und dass es dort Kobolde gibt, sagt man auch.“

„Ah, nein, das ist eine andere Geschichte.“ Und er erzählte sie ihr. Sie war wahrscheinlich zu neunzig Prozent pure Erfindung, aber sehr unterhaltend.

Cullen sah nicht aus wie ein Mann, den Albträume oder ein verstecktes Trauma quälten, und er verhielt sich auch nicht so. Aber gestern Nacht …

Vielleicht bildete sie es sich nur ein. Cullen war ein Meister der Verstellung. Vielleicht wollte er sie, indem er sie abwies, so heißmachen, dass sie zustimmte, ihn zu heiraten, damit er das Sorgerecht für sein Kind bekam. Möglicherweise hatte sie sich die Ausdruckslosigkeit in seiner Stimme nur eingebildet. Und selbst wenn nicht, hatte sie sie sicher nur falsch interpretiert, nämlich, dass er aufgewühlt gewesen war und Zeit brauchte, um sich wieder zu fangen.

Aber seine Haut hatte sich feucht und kalt angefühlt, wie nach einem Schock. Das hatte sie sich sicher nicht eingebildet. Konnte ein Albtraum das bewirkt haben? Konnte ein Traum so lebendig sein, dass der Körper reagierte, als sei er schwer verletzt worden?

Auch das Zittern war wirklich gewesen, wenn das das richtige Wort dafür war. Bevor sie ihn geweckt hatte, hatte er vibriert wie eine Stimmgabel. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie von diesem Zittern geweckt worden war. Doch da er selbst nicht davon wach geworden war, hatte sie beschlossen, ihn zu wecken.

Vielleicht lag sie aber auch mit ihren Vermutungen ganz daneben. Das hatten Vermutungen manchmal so an sich. Aber dieses Mal glaubte sie, recht zu haben. Sie wusste, dass man manchmal mit aller Kraft so tun musste, als ob alles in Ordnung wäre, um sich zu beruhigen. Letzte Nacht hatte er es gebraucht, dass sie mit ihm zusammen so getan hatte. Er hatte es mehr als Sex gebraucht.

Aber tief in ihrem Inneren sehnte sie sich beinahe schmerzhaft danach, dass er sich ihr anvertraut hätte. Dass er seinen Schmerz mit ihr geteilt hätte.

Das Dorf, das gefährlich nahe an den Bergen der Ahk lag, hieß Shuva. Laut Tash konnte Shuva nur deshalb existieren, weil dort der Markt stattfand. Die Ahk waren keine Bauern, deshalb kauften sie ihre Waren auf dem Markt, hier und in anderen grenznahen Dörfern.

Shuva war ein kleines Dorf mit winzigen Häuschen. Viele der Dächer glänzten schwarz in der feuchten Luft – Schieferplatten, dachte Cynna. Andere, mit Stroh gedeckt, waren dunkle, matte Flecken im Nachtregen. Sie ritten auch an ein paar größeren Gebäuden vorbei – einer Schule, einem Laden und etwas, das aussah wie eine Kirche oder ein Tempel. Aus diesem drangen keine Stimmen, aber in seinen Fenstern flackerte Licht, und im Vorbeireiten hörte sie Musik – das munter-wilde Jagen von Geigen.

Sie warf Cullen einen Blick zu. Er schien zu lauschen, und auf seinen Lippen lag ein gedankenverlorenes Lächeln, dessen er sich sicher nicht bewusst war. Lupi liebten Violinenmusik.

Der Ort war nur dürftig beleuchtet, nicht so hell wie die Stadt. Hier sorgten mehr Kerzen und Feuer für die Beleuchtung, weniger magische Lichter. Wie hielt man nur drei Monate Dunkelheit aus?

Ihnen voran ging ein großer Mann neben Bilbos Pony her. Er war ein Mensch – oder sah zumindest so aus – und hatte einen buschigen Bart und lange, dunkle Haare, die er zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Seine Gesichtszüge waren angloamerikanisch, seine Haut getönt wie die eines Mannes, der viel Zeit im Freien verbrachte. Er war im Kosakenstil gekleidet: eine dunkle, schwere Tunika mit einem bestickten Band um den Hals, eine Fellweste, weite Hosen, die er in schwere Stiefel gestopft hatte.

Er war der Sheriff. Sozusagen. Eines aus der Schar der Kinder, die sie am Eingang des Dorfes empfangen hatte, hatte gesagt: „Michael holt den Sheriff, damit er Euch willkommen heißen kann.“ Wenigstens glaubte Cynna, dass der Junge das gesagt hatte, aber der Talisman mischte seine Worte mit denen der anderen Kinder, die ihn zum Schweigen bringen wollten und dann darauf bestanden, dass Derreck kein echter Sheriff war. So nannten sie ihn nur manchmal.

Zuerst waren ihnen die Kinder gefolgt, dann aber von ihren Müttern und Vätern ins Haus gerufen worden. Um diese Zeit waren die Straßen nicht sehr belebt. Es war ungefähr der achte Glockenschlag, was hieß, dass die meisten Leute zu Abend gegessen hatten und es sich zu Hause gemütlich machten. Jeder der Einwohner, die sie bisher gesehen hatten, hatte menschlich ausgesehen.

„Ich dachte, dass Menschen nur in der Stadt wohnen“, sagte Cynna zu Cullen, der neben ihr ritt. „Riechen sie nach Menschen für dich?“

„Oh ja. Mit meinem anderen Blick sehen sie ebenfalls wie Menschen aus.“ Er riss die Augen in gespieltem Schrecken auf. „Du denkst doch nicht, dass Bilbo uns getäuscht hat, oder?“

Sie schnaubte. „Glaubst du? Ich wüsste nur nicht, warum. Er muss doch gewusst haben, dass wir es irgendwann herausfinden, warum also sich die Mühe machen? Aus reiner Gewohnheit?“

Die hinter ihnen reitende Wache – einer der beiden Menschen – sagte leise etwas. Cynnas Talisman flüsterte ihr die Worte ins Ohr. „Menschen wird geraten, sich nicht außerhalb der Stadt niederzulassen, aber sie tun es trotzdem. Sie mögen es nicht, wenn wir ganz auf uns gestellt leben, weil wir dann zu glauben beginnen, dass wir auch die Verantwortung für uns selbst übernehmen können.“

„Harry“, sagte die weibliche Wache, die hinter ihm ritt, warnend. Sie war kein Mensch. Ein Halb und Halb vielleicht, mit ihren spitzen Ohren und dem kurzen rötlichen Fell einer Katze nicht unähnlich.

„Was?“ Böse sah er seine Freundin an. Cynna wusste, dass sie Freunde waren, weil sie gesehen hatte, wie er eines Nachts auf Deck mit ihr geschlafen hatte. Sie hatte dabei geschnurrt. „Jede andere Spezies in Edge hat ein Gebiet, über das sie das Sagen hat, so, wie sie es für richtig hält. Nur die Menschen nicht.“

„Halb und Halb auch nicht“, sagte sie wie jemand, der dieses Argument schon sehr oft angeführt hatte.

„Ja, aber beinahe alle von euch haben menschliches Blut. Deswegen sieht man auch auf euch herab.“

Cullen warf einen Blick über die Schulter. „Anscheinend ist das hier ein Dorf, in dem ausschließlich Menschen wohnen, aber das Gebiet selbst gehört den …“ Er brach ab und überließ es ihnen, den Satz zu vollenden.

„Hoko“, sagte der Wachmann mit Namen Harry. „Er ist ein Sidhe. Manchmal mit Rohen verbündet. Manchmal nicht. Hoko verlangt Pacht von den Bauern in dieser Gegend, wenn ihm danach ist, aber ansonsten lässt er die Leute in Ruhe. Deswegen sind viele Menschen in dieses Gebiet gezogen.“

Cynna fragte: „Warum ist dieser Derreck kein echter Sheriff?“

„Das würde bedeuten, dass sie sich selbst regieren, nicht wahr? Das Dorf ist ein Lehen von Hoko, der sicher keinen Sheriff ernannt hat, deswegen haben die Dorfbewohner einen gewählt. Was den Menschen nicht erlaubt ist.“

„Warum?“, fragte Cynna. „Warum ist man denn dagegen, dass Menschen sich selbst regieren?“

„Weil wir so verdammt kriegerisch sind“, schnaubte Harry. „Als wenn die Ahk anders wären.“

„Kinder“, sagte die Frau plötzlich. „Das ist der wahre Grund. Menschen sind einfach zu fruchtbar – und sie können sich auch mit fast allen anderen Spezies vermehren. Wenn man euch die Unabhängigkeit zugesteht, wird eure Reproduktion nicht so reguliert, wie es jetzt geschieht. In ein paar Generationen wären die Menschen in Edge in der Überzahl.“

„Die Fortpflanzung wird reguliert?“, fragte Cullen scharf.

„Unter Menschen, ja.“ Harry klang bitter. „Überall in Edge. Ashwa ist einer der wenigen Punkte, in dem sich alle einig sind.“

Ashwa?“

„Die Praktik …“

„Harry“, sagte die weibliche Wache, „du solltest jetzt wirklich lieber den Mund halten.“

Er warf ihr einen mürrischen Blick zu. „Du hast das Thema doch angeschnitten.“

Sie starrte nach vorn, die Miene erstarrt. „Pst.“

Tash ritt auf sie zu. Sobald Harry sie sah, verstummte er.

Tash hatte ihnen eine Herberge versprochen. Die schlechte Nachricht war, dass es nicht genug Zimmer gab. Die gute, dass in diesen Zimmern Betten standen – richtige große Betten mit richtigen Matratzen. Cynna war voller Vorfreude, als sie sich in dem nahe liegenden Stall von ihrem Pferd herunterrutschen ließ. Ihre wackligen Beine schienen sich plötzlich in Pudding verwandelt zu haben.

Cullen lachte leise, legte ihr den Arm um die Taille und hielt sie fest. „Wir brauchen wirklich ein Einreibemittel, oder du wirst dich morgen nicht mehr rühren können.“ Er bat den Stallburschen, ihnen ein wenig davon zu bringen. Sie verstand, was er sagte, weil ihr Talisman ihr die Übersetzung ins Ohr flüsterte.

Cynnas Augenbrauen schossen in die Höhe. Offenbar sprach Cullen nun die Hochsprache. Sie war davon ausgegangen, dass der Austausch nicht stattgefunden hatte … aber entweder hatte die Elfenfrau ihm den Zauber gegeben, bevor sie ihn hypnotisiert hatte, oder Cullens Prioritäten waren selbst unter dem Einfluss eines Feenzaubers noch klar: erst der Zauber, dann Sex.

„Wie war noch das Wort, das Harry benutzt hat? Ashwa“, sagte sie, als sie mit Cullen, der das Einreibemittel in der Hand hielt, den Stall verließ. „Weißt du, was das bedeutet?“

Er schüttelte den Kopf. „Das war nicht in dem Paket, das ich von Theera bekommen habe, und ich habe auch bei meinem Marktbesuch niemanden von Ashwa sprechen hören. Es kam mir so vor, als habe er verbotenerweise davon gesprochen, nicht wahr?“

Steve trat hinter sie. „Wovon gesprochen? He, ist das Pferdesalbe?“

„Ja“, sagte Cullen, „und du bekommst auch etwas davon ab. Hast du schon mal den Begriff Ashwa gehört?“

„Nein.“ Er stützte die Hände in die Hüften und drückte den Rücken durch. „Mann, mir tut alles weh.“

„Ich weiß, was das heißt.“ Das war Gan, die wunderbar mit ihrem kleinen Pony zurechtkam. „Aber ich darf es euch nicht sagen.“

„Noch nicht einmal für eine Extraportion Schokolade?“ Wenn sie brav gewesen war, hatte Cynna Gan jeden Tag nach dem Abendessen einen Hershey’s Kiss gegeben. Überraschenderweise benahm sich die ehemalige Dämonin recht gut – für eine ehemalige Dämonin. Sie war abwechselnd missmutig, selbstsüchtig, boshaft und unhöflich, aber sie richtete keinen Schaden an, nur weil ihr danach war.

Eigentlich, dachte Cynna, war Gan gar nicht richtig böse. Nicht so, wie manche Menschen böse waren. Echte Bösartigkeit entstand aus einem umgekehrten Einfühlungsvermögen – man musste wissen, was den anderen verletzte. Gan war nicht fähig, sich in andere einzufühlen, aber dafür konnte sie nichts. Sie würde es vielleicht langsam lernen.

Gans Gesicht legte sich in Falten, als sie das verführerische Angebot überdachte. Endlich schüttelte sie den Kopf. „Nicht einmal für Schokolade. Sie könnten es herausfinden. Frag deinen Daniel Weaver. Er darf es euch auch nicht sagen, aber vielleicht tut er es trotzdem, weil er dein Vater ist. Gib ihm aber nichts von meiner Schokolade“, fügte sie hastig hinzu.

Sie waren vor der lang gestreckten Holzveranda der Herberge angekommen. Cynna blieb stehen und sah sich suchend um. „Ja.“

„Ja, was?“, fragte Cullen.

„Die Fährte. Aus irgendeinem Grund ist sie jetzt undeutlich, aber das Medaillon war hier.“

„Hier in diesem Dorf? Oder in der Herberge?“

„In der Herberge.“ Sie schloss die Augen, konzentrierte sich. „Vor drei Wochen, vielleicht weniger. Wir holen auf.“ Sie öffnete die Augen. „Und vielleicht kann uns jemand denjenigen beschreiben, der es bei sich hatte. Hier kommen sicher nicht viele Reisende durch. Ich wette, sie erinnern sich noch daran, wer vor drei Wochen bei ihnen übernachtet hat.“

Wie sich herausstellte, erinnerten sie sich sogar sehr gut daran.