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Kurz vor neun Uhr am nächsten Morgen war Cullen zurück in dem unterirdischen Büro in dem großen, hässlichen Gebäude, mit einem alten Metallschreibtisch als einziger Gesellschaft.

Dieses Mal hatte ihm keiner eine Ganzkörperdurchsuchung angedroht. Er hatte sich von ganz allein ausgezogen.

Ursprünglich war Cullen als Wicca ausgebildet worden. Deshalb fühlte er sich auch nackt am wohlsten, wenn er einen mächtigen Zauber wirkte. Er hätte einen Umhang tragen können, aber die verdammten Dinger waren schwer wieder sauber zu bekommen, denn sie mussten nicht nur von physischem Schmutz gereinigt werden. Nacktheit war da praktischer. Wenn die Ansicht seines nackten Hinterns jemandem peinlich sein sollte … nun, das Leben war ernst genug, oder etwa nicht?

Viel Spaß hatte er weiß Gott im Moment nicht. Diese verdammten ignoranten Schmarotzer von der Regierung.

Dieser angebliche Experte für Gnome hatte Edelsteine im Wert von einer halben Million hergegeben, ohne auch nur eine einzige Erklärung für den Schutzschildzauber dafür zu bekommen. Nichts, null, nada. Den Zauber hatten sie jetzt immerhin – am Abend zuvor hatte der Gnom ihn aufgezeichnet. Die Hälfte der Glyphen war ihnen unbekannt, und wie die Muster wirken sollten, wussten sie erst recht nicht. Der runzelige Zwerg hatte partout nichts mehr dazu sagen wollen, und die Behörde hatte nachgegeben.

Cullen war schon so weit gewesen, sich zu weigern, den Zauber durchzuführen. Brooks hatte ihn überredet weiterzumachen, vor allem, weil er verdammt noch mal recht hatte. Außerdem war Brooks überzeugt davon, dass es Cullen sein musste, der das Ritual durchführte.

Cullen selbst war auch dieser Meinung.

An einem Punkt war der Rat geschlagen gewesen, aber er schien es nicht begriffen zu haben. Als man ihm sagte, dass Lily nicht mit nach Edge gehen würde, hatte er gelächelt und weiter darauf bestanden, dass sie mitkäme. Er hatte gedacht, sie würden sich anders entscheiden, wenn sie erst einmal die Tragweite ihrer Entscheidung verstanden hätten.

Natürlich wusste er nichts vom Band der Gefährten. Und er würde auch nichts davon erfahren. Das ging ihn nichts an.

Auch wenn Cullen ein ausgebildeter Wicca war, war er zu ungeduldig, als dass er die Tradition um der Tradition willen respektiert hätte. Er hatte schon seit Langem gelernt, dass nicht der ganze Körper eingetaucht werden musste, um komplett gereinigt zu werden. Stattdessen wusch er sich die Hände, seine Füße und die Hauptchakren – eine Mischung aus östlichen und westlichen Praktiken, die Traditionalisten aus beiden Hemisphären missfallen hätte. Aber sie wirkte.

Er tauchte den Finger in eine Schale mit Salzwasser und berührte das Kronenchakra auf seinem Kopf. Ein Prickeln überlief ihn, als sein Bewusstsein sich öffnete. Er sah und fühlte zugleich die violette Energie des Chakras, die zu den anderen energetischen Punkten in seinem Körper floss und sie ins Gleichgewicht brachte. Er wartete, bis die Verbindung hergestellt war. Dann öffnete er die Augen, nahm seine Krücken und schwang sich zur Tür, nur mit einem kleinen Diamanten um seinen Hals und einem großen an seinem Finger bekleidet.

Der Flur war nicht leer. Zwei Typen in dunklen Anzügen vom Secret Service musterten ihn. Professionell waren sie, das musste man ihnen lassen – keiner von beiden starrte auf die Körperteile, die normalerweise in der Öffentlichkeit bedeckt waren. Einer murmelte etwas in sein Headset.

Cullen nickte ihm so professionell, wie er konnte, zu und steuerte auf die Tür zu, die sie bewachten. Kurz zuvor hatte er mit der Beraterin der Präsidentin gesprochen, die verantwortlich für die Anwesenheit der beiden war. Marilyn Wright benutzte reichlich Parfum, war aber im Übrigen intelligent und relativ unbelastet von Vorurteilen.

Eine nette Abwechslung also zu McClosky vom Wirtschaftsministerium. Unglücklicherweise war es McClosky gewesen, der die Verhandlungen um den Schutzschildzauber geführt hatte, unterstützt von dem missratenen Gnomexperten.

Vor der Tür war Ruben Brooks’ Rollstuhl geparkt. Cullen stellte seine Krücken daneben, öffnete die Tür und betrat humpelnd das Zimmer. Nichts erinnerte mehr daran, dass dies einmal ein Konferenzraum gewesen war.

Der Gnom hatte darauf bestanden, dass möglichst wenige Personen anwesend waren. Nach heftigem Gefeilsche hatten sie sich auf zehn Personen geeinigt, plus Cullen. Sechs Menschen und vier andere Andersblütige saßen auf Kissen auf dem Betonboden wie eine Kindergartengruppe, die Schwarzer Peter spielte. Alle drehten sich jetzt zu ihm um, um ihn anzusehen. Belustigt beobachtete er, wer wohin guckte – oder den Blick abwandte.

Nicht, dass es im Moment viel zu sehen gegeben hätte, denn er hatte sich eben erst mit kaltem Seewasser gewaschen. Später, wenn die Magie ihn süß wie Honig und heftig wie ein Sturm durchströmte, würde das anders sein.

Lily hielt den Blick fest auf sein Gesicht gerichtet. Die Assistentin der Präsidentin hob eine Augenbraue. McClosky warf ihm einen hastigen Blick zu, bevor er seine ganze Aufmerksamkeit wieder seinen Schuhen widmete, und Steve Timms interessierte sich lediglich dafür, wer Waffen und nicht, wer Klamotten trug. Steve war sich der großen Verantwortung, die er heute hatte, bewusst. Er bewachte sowohl Brooks als auch Marilyn Wright.

Cynna lächelte Cullen an. Sie saß zwischen Gan und Lily, ihre riesige Tasche zwischen sich und Lily. Darin befand sich ein großer Vorrat an Hershey’s Kisses, um die kleine Nicht-ganz-Dämonin falls nötig zu bestechen. Auf Lilys anderer Seite saß Brooks auf einem gepolsterten Klappstuhl statt eines Kissens. Er nickte Cullen nur kurz zu. Der Gnom und der andere Typ zeigten kein Interesse an seiner Nacktheit, und die Frau mit den Stoßzähnen … war interessiert. Ganz eindeutig sexuell interessiert, was er überraschend irritierend fand.

Gan sagte: „He! Hübscher Schwanz.“

„Danke“, sagte Cullen ernst. „Finde ich auch.“

„Wie lang wird er, wenn du …“

Lily brachte sie zum Schweigen, McClosky prustete, und die Assistentin der Präsidentin kicherte. Wenigstens war Cullen sich ziemlich sicher, dass sie es gewesen war.

Er warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. Sieben Minuten.

Von Uhren gemessene Zeit war ein artifizielles Konstrukt, aber Zahlen waren mit Magie aufgeladen, vor allem, wenn man sie mit einer bestimmten Absicht benutzte. Nach einigem Hin und Her hatten er und der Rat sich darauf geeinigt, um 9 Uhr 05 mit dem Zauber zu beginnen. Die zwei Primzahlen, die von der Null getrennt wurden, definierten die Parameter für den Zauber.

„Meine Damen und Herren, die Vorstellung beginnt gleich“, sagte Cullen und atmete den Duft des Raumes ein. Ein paar der Anwesenden hatten Angst, aber dafür gab es auch gute Gründe. Doch sie schienen sich unter Kontrolle zu haben. „Gibt es noch Fragen?“

„Müssen wir unseren Geist leeren oder so?“, fragte McClosky.

„Nur wenn Sie mit den Toten in Kontakt treten wollen. Dies ist keine Séance.“

Marilyn Wrights kühle, trockene Stimme erinnerte ihn an Mika. „Werden wir anderen auch etwas spüren?“

Er zuckte die Achseln. „Es ist nicht mein Zauber. Was meinen Sie, Ehrenwerter Rat?“

„Wenn Ihr habt eine Gabe, Ihr habt vielleicht Sicht oder Gefühl von Schild. Wenn keine Gabe, Ihr seht und fühlt nichts.“ Er zeigte Lily ein unterwürfiges Lächeln. „Für die Sensitive, wenn Energien stärker werden, wird sie sie wahrscheinlich auf ihrer Haut spüren.“

Der Rat hatte versprochen, dass er, wenn der Schutz des Schildes aktiv war, auch erklären würde, woher er etwas über Lily wusste. Cynna vermutete, dass die Gnomältesten, die auf der Erde lebten, durch Gan von Lilys Gabe erfahren hatten und diese Information an die Gnome in Edge weitergegeben hatten.

Das war eine Möglichkeit. Eine andere war, dass die Leute von Edge mit einer gewissen Göttin im Bunde waren – die, die Lupi vernichten, den Codex Arcanum an sich bringen und ihn in Lily kopieren wollte, nachdem sie ihren Körper und ihren Geist geleert hatte. Cullen hielt das für nicht wahrscheinlich. Lily hätte Sie vermutlich an ihnen gespürt, als sie sie berührt hatte, um herauszufinden, ob einer von ihnen mit Ihr in enger Verbindung stand. Aber dennoch konnte eine solche Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden.

Verdammt, Lily hätte lieber nicht jetzt dabei sein sollen. Zwar erwartete er nicht, dass etwas schiefging, und wenn doch, würde Lilys Gabe sie schützen, aber … na, egal. Er musste die Dinge nehmen, wie sie kamen. Was er für richtig hielt, war jetzt nicht wichtig.

Cullen schloss langsam die Augen und öffnete sie wieder. Normalerweise waren beide Arten zu sehen bei ihm vorhanden, aber der normale Blick war so stark, dass er den anderen unterdrückte. Er musste sich erst einen Moment konzentrieren, um sich auf den anderen Blick einlassen zu können. Er überprüfte den Altar, seinen Inhalt und die drei Kreise, die ihn umgaben – seinen eigenen, der noch nicht gezogen, der aber schon von vier schwarzen und vier weißen Kerzen markiert war, den Schutzschildzauber, den der Gnom mit weißer Kreide gezeichnet hatte, und den Kreis von Personen, die auf dem Boden in den ersten beiden Zirkeln saßen.

Er überprüfte ebenfalls den silbernen Anhänger, den der kahle Mann trug, und den Stein, der in das Schwert der Kriegerin eingelassen war. Gestern hatte er sie als Talismane erkannt – komplex, aber nicht sehr mächtig und nur zeitweise aktiv.

Wie vorher schon war ihre Energie auf ihre Träger gerichtet. Er warf noch einen Blick auf die Uhr. Und begann mit dem Ritual.

Der Betonboden war rau und kühl unter Cullens Füßen. Er humpelte schwer auf seinem Fußknoten, aber das war immer noch besser, als die Krücken mit in das Energiefeld zu nehmen.

Gestern hatten sie den Teppich herausgerissen, und zwei Hexen aus Sherrys Coven hatten den Boden mit Seewasser geschrubbt … was den Gnom köstlich amüsiert hatte. Der selbstgefällige kleine Mistkerl dachte wohl, dass es sich bei der Reinigung um einen merkwürdigen lokalen Aberglauben handelte, aber Cullen wusste es besser. Er konnte die Energie sehen. Ein erfahrener Zauberer, gleich welche Technik er anwendete, musste für die meisten Rituale nicht alles reinigen, aber für die großen war es nötig. Für sie war es wichtig. Und hier handelte es sich um Kraftlinienmagie. Eine schlampige Vorbereitung würde es noch schwieriger machen, das vollkommene Gleichgewicht zu erreichen.

Als er an der ersten Kerze vorbeiging, schnippte er mit dem Finger. Eine Flamme erschien.

Jemand schnappte nach Luft. Er ging weiter im Uhrzeigersinn. Konzentriert auf die Energien, die er mit sich zog, schritt er den Kreis ab. Dreimal.

Der Gnom hatte behauptet, dass Cullen keinen Zauberkreis benötigen würde. Cullen hatte jedoch nicht auf ihn gehört. Waren alle Zauberer in Edge so nachlässig? Oder waren ihre Techniken so hoch entwickelt, dass sie keinen Kreis ziehen mussten, um ihre Magie unter Kontrolle zu halten?

Er zumindest brauchte einen Kreis. Der Schutzschildzauber wehrte Energien ab. Sein Kreis würde dafür sorgen, dass keine Energien nach außen drangen. Zugegeben, er hätte den Kreis auch einfacher ziehen können, aber dies war eins der wenigen Dinge, auf die er einen Einfluss hatte, und er war fest entschlossen, es richtig zu machen. Außerdem würde es dem FBI gar nicht gefallen, wenn eventuell austretende Magie ihre Computer lahmlegen würde.

Er ging an Cynnas lederbekleidetem Rücken im dritten Kreis vorbei. Sie roch leicht erregt, und er musste lächeln. Doch dann spürte er das feine Gewebe aus Energie, das sie bedeckte, und er wurde wieder ernst.

Nicht, dass es nicht ein verdammt guter Zauber gewesen wäre. Sherry und drei andere aus ihrem Coven hatten einen ausgezeichneten Schutzzauber auf ihren Ledermantel gesponnen. In den feinen Fäden würde sich jeder Zauber verfangen, bevor er die Frau berühren konnte, die sie schützen sollten. Wenn er nicht zu mächtig war. Genügend starke Energie würde auch diese Fäden zerreißen.

Gemischte, fremde Gefühle grollten in ihm wie entfernter Donner. Ein Mantel mit einem Schutzzauber war nicht genug. Cullen wollte Cynna überhaupt nicht hier haben.

Aber der Gnom wollte es. Und der Gnom bekam immer, was er wollte.

Niemand sagte ein Wort, während Cullen trotz der Schmerzen in seinem Fußstumpf dreimal den Kreis abging. Zauberkreise wurden in zwei Dimensionen gezogen, aber ihr Schutz war kugelförmig, und als er es geschafft hatte, sah er ein geisterhaftes Kuppeldach über ihnen allen schweben, das von den Kerzen gehalten wurde.

Schön und homogen, entschied er mit einem Nicken. Er durchquerte den leeren Raum zwischen den Glyphen und ging zu dem Altar. „Ich werde jetzt die Elemente anrufen“, sagte er den anderen. Er sah den Gnom an. „Schließt die Tür.“

Der Rat rümpfte die Nase, aber er stand auf und ging dann doch recht bereitwillig zu der Stelle des Kreises, die noch nicht mit Kreide geschlossen war. Mit schnellen Strichen zeichnete er ein Zeichen, das Cullen kannte: das Kryllus, ein etruskisches Symbol für Abschluss oder Fertigstellung.

Vielleicht war der Zwerg wirklich in Ordnung. Aber Cullen hätte nicht darauf gewettet.

Der Altar war eine sechzig mal sechzig Zentimeter große Granitplatte, die er sich von Sherrys Coven geliehen hatte. Sie hatte vier Mann und einen Karren gebraucht, um sie hierher zu bringen. Darauf befanden sich Cullens Athame, ein Glaskelch mit Wasser, eine Drachenschuppe, eine kleine Öllampe und zwei Handvoll Kräuter auf einem Bett aus feuchter Erde in einer Steinschale.

Zwei der Kräuter hatte Cullen nicht beschaffen können. Deshalb hatten die Feds ihre Beziehungen spielen lassen. Die Yohimbe kam aus einem Labor in Kanada; das Aashringi war von einem Jet der Air Force aus Indien eingeflogen worden. Für die Regierung zu arbeiten, hatte auch Vorteile, musste Cullen zugeben, als er sich jetzt vor den Altar kniete. Nicht viele, aber einige wenige.

Der Gnom hatte die Komponenten zwar genau benannt, aber wie Cullen die Elemente anrief, blieb ihm überlassen. Er machte keine großen Umstände und flüsterte die bekannten Worte, während er die Hand im Uhrzeigersinn über jeden Gegenstand bewegte: Kräuter, Drachenschuppe, Lampe, Kelch.

Die anderen würden nur sehen, wie der Lampendocht plötzlich entflammte, nicht die Farben, die unter seiner Hand tanzten oder seinen Diamanten, der als einzelner farbloser Punkt leuchtete. Cullen nahm sein Athame. Er zeichnete eine Linie von einer Farbe zur anderen, um sie zu verbinden. Dann richtete er die Klingenspitze auf seine Brust und drückte.

Blut tröpfelte warm aus der Wunde. Und die Farben strömten in ihn hinein.

Felsen stürzten seine Wirbelsäule hinunter. Wind blies durch sein Gehirn. Wasser durchflutete seine Lungen. Feuer brannte in seiner Kehle und in seinem Mund. Sein Penis wurde hart, und er fletschte die Zähne, als die Energie durch ihn hindurch pulsierte.

Nur undeutlich hörte er, wie Lily ruhig, aber skeptisch fragte: „Ist das ein Blutritual?“

„Keine Sorge“, sagte Cynna. „Das Blut ist nicht für den Zauber bestimmt. Er bringt damit die Elemente ins Gleichgewicht, bevor er den eigentlichen Zauber beginnt.“

Der Rat meldete sich zu Wort, mit so schriller Stimme, dass er sich wie Gan anhörte. „Ihr nicht habt gesagt, dass Ihr Gleichgewicht auf diese Weise bekommt! Das ist … das ist primitiv!“

Du hast mir auch nicht alles gesagt, mein Freund. Aber Cullen wurde zu sehr von seinen körperlichen Empfindungen überwältigt, um sprechen zu können.

Cynna sagte: „Die Elemente über den Körper ins Gleichgewicht zu bringen, ist eine alte Tradition, die gut funktioniert. Außerdem ist er ein Tänzer. Er kennt seinen Körper.“

„Aber er mir nicht hat gesagt, dass er das macht! Er hat Geheimnisse!“

„Ihr etwa nicht? Na also. Und haltet die Klappe.“

Cullen grinste.

„Sein Fuß“, sagte Brooks ruhig. „Sehen Sie sich seinen Fuß an.“

Und wirklich, er stand. Auf beiden Füßen. Fest auf dem Boden. Mit geschlossenen Augen. Er hob die Lider.

Die elementaren Energien hatten seinen anderen Blick geschärft und verändert. Ob mit offenen oder geschlossenen Augen, er sah nichts als Farben – wild durcheinanderwirbelnde Farben. Sein Kreis war ein orangefarbenes Flammenmeer, der zweite Kreis matt, inaktiv. Und seine Füße … Er senkte den Blick. Der linke Fuß tat noch ein bisschen weh, aber er sah wieder ganz normal aus. Alles war dort, wo es sein sollte.

Wer hätte gedacht, dass die Elemente die Heilung beschleunigen würden? Wie das geschehen konnte, würde er später herausfinden. Jetzt musste er erst einmal nach den anderen sehen.

Die Energie des Gnoms umhüllte ihn wie eine graubraune Decke, als wolle sie verstecken, was darunter war. Gans Magie war genauso schrill wie sie selbst – ein grelles Orange mit himmelblauen Flecken. Pink in ein Dutzend Schattierungen lag über der Frau mit den Stoßzähnen. In der Nähe der Chakren schimmerte es blau-violett. Die Magie des lehmfarbenen Mannes passte zu seiner Haut – erdig mit grünen und lavendelfarbenen Streifen.

Cullen überprüfte die Talismane der Edgeleute und nickte. Sie schimmerten schwach pastellfarben, genau so, wie er es vermutet hatte.

Menschliche Magie war normalerweise durchscheinender als die der Andersblütigen und einheitlicher in der Farbe. Energie stieg wie ein silberfarbener Nebel von Ruben Brooks auf, hier und da durchsetzt mit schwarzen und violetten Tupfen. Diese Farben sah man selten. Das Silber war natürlich keine Überraschung, da es sich um die Farbe der Hellseher handelte, und Brooks ein ausgeprägter Präkog war. Aber die anderen Farben …

Aber auch darüber würde er erst später Spekulationen anstellen.

Cullen hob die Augenbrauen, als sein Blick auf McClosky vom Wirtschaftsministerium fiel. Magie lag eng um seinen Brustkorb wie dickes Moos – eine verdrängte Gabe, die sich nicht hatte entfalten können.

Lily war die Ausnahme in diesem Farbenmeer. Ihre Magie sah aus wie immer – wie Eis, farblos, aber die Farben um sie herum schwach reflektierend. Neben ihr saß Cynna im Schneidersitz. Der Schutzzauber lag wie ein feines Netz über ihrer eigenen Magie. Die tanzte. Wie die aufgehende Sonne funkelte sie in den hellen Farben des Elements Luft. Außer …

Überrascht sah Cullen genauer hin. Über ihrem Bauch – ihrer Gebärmutter – lag ein lavendelfarbener Schleier, kühl und ruhig. Er hatte noch nie die Magie eines Fötus in einem so frühen Stadium gesehen, aber er hatte es auch noch nie versucht, nachdem er die Elemente in einem Blutritual gebunden hatte. Die Energie war nur schwach und die Farbe blass, aber sie setzte sich deutlich von den anderen ab, tanzte nicht mit ihnen.

Lavendel – eine weiche Farbe. Die Farbe der Andersblütigen.

„Cullen“, sagte Cynna. „Atmest du?“

Nein. Er hatte das Gleichgewicht verloren. Flammen leckten an seinen Fingern, Wurzeln rankten sich an seinen Beinen empor, und in seinen Lungen schwappte der Ozean. Ihm wurde schwindelig. Sein Bewusstsein begann zu schwinden, und Panik erfasste ihn. Er musste sich bewegen.

Nein. Luft. Sein erster Impuls, als das Feuer in ihm brannte, war, sich zu bewegen. Aber wichtiger war es, zu atmen – Luft in seinen Körper zu bekommen und damit auch seine Energie. Sie war hier. Er wusste es, obwohl er sie nicht spürte. Er atmete langsam und angestrengt ein, tief in den Bauch hinein.

Der nächste Atemzug fiel ihm schon leichter, als das Element Luft sein Blut auflud und das Element Erde seine Knochen und Sehnen. Mit dem dritten Atemzug sickerte Wasser aus seinen Lungen zurück in sein innerstes Gewebe. Er atmete bewusst weiter, kam wieder ins Gleichgewicht und ging zu dem Kreidekreis und der Glyphe, die ihm als Eingang dienen sollte.

Dann griff Cullen nach der Kraftlinie unter seinen Füßen.

Er konnte sie nicht sehen. Zu viel Erde lag zwischen ihm und dem wilden Strom. Er hatte blind gearbeitet, wie jeder andere Zauberer auch, und sich ganz auf seine Intuition verlassen. Aber er fühlte sie, oh ja, er fühlte sie jetzt, da die Elemente unter seiner Haut kribbelten und in seinem Inneren drängten, sehr stark. Die Energien zog es zueinander. Sein Penis schlug aus wie eine Wünschelrute.

Er zeigte mit seinem Athame auf den Boden. „Venio!“

Das Wort diente als Fokus, als Werkzeug für seinen Willen, der der Energie befahl zu kommen. Es gab keine besonderen Worte für Macht – oder besser gesagt, alle Worte hatten Macht –, aber die meisten Zauberer benutzten eine andere als ihre Alltagssprache. Trotzdem mussten es Worte sein, deren Bedeutung sie kannten. Um den eigenen Willen an Worte zu binden, musste man sie fühlen.

Cullen sprach Latein mit der Energie, und die Energie antwortete. Schnell.

Sie rollte aus den Tiefen der Erde herauf, schneller, als er erwartet hatte. Schneller, als der dreimal verdammte Gnom ihm gesagt hatte, und stärker. Die ganze verdammte Kraftlinie folgte seinem Ruf.

Es blieb keine Zeit, dem kleinen Wurm den Hals umzudrehen. Nicht einmal für Eile blieb genug Zeit. Wenn er jetzt das Gleichgewicht verlieren würde, wäre das sein Tod. Also sprach er langsam, sogar sanft, jedes Wort so bewusst wie möglich betonend, als hinge sein Leben davon ab:

„Res[1] aqua repleo.

Res terra repano.

Res aero respiro.

Res ignus retorqueo.

Resero! Resero! Resero!“

Beim letzten Wort berührte Cullen die Glyphe mit der Klinge seines Messers. Und dann brach die Hölle über ihn herein.

Er lenkte nicht die ganze Kraftlinie; das konnte kein körperliches Wesen. Aber die Energie schoss durch ihn hindurch – Feuersturm, Erdbeben, Tornado, Flut –, in sein Messer und auf den Punkt, auf den es zeigte. So viel rohe Energie im Gleichgewicht zu halten, war unmöglich.

Die Rückströmung war grausam.

Seine Muskeln verkrampften sich. Er konnte nichts dagegen tun, bekam das Messer nicht von der Glyphe los, die den Eingang bezeichnete. Energie wurde frei und strömte – in ihn, den Zauber, den Raum.

Cullen stürzte zu Boden, mit schmerzenden Sehnen, von Krämpfen geschüttelt. Er sah nichts mehr. Es gab nur noch die Dunkelheit, den Schmerz und das Tosen in seinem Inneren. Er schrie – vielleicht nur in seinem Kopf –, und Feuer antwortete. Dorthin, geh dorthin …! Er fand die Glyphe erneut, rammte die Klinge hinein, und die wilde Energie des Feuers raste das Messer hinunter und in den Zauber.

Dann rief er das Element Erde. Ja, geh dorthin, wie ich es dir befehle. Repano, befahl er ihm, und der Rest der Erdmagie drängte an ihm vorbei und sank in die Glyphe. Er rief das Wasser, und es kam, eine türkisfarbene Flut, die in die Glyphe floss,

Aber die Luft – die eigensinnige, widerspenstige Luft – gehorchte ihm nicht. Die anderen kreischten, als sie durch den Raum wehte, an Haaren und an der Kleidung zerrte und sich zu einem Wirbel verdichtete. Er schluckte sie hinunter, und seine Muskeln verkrampften sich erneut, aber diesmal nur schwach. Auch sein Herz ballte sich zu einem harten, heißen Knoten in seiner Brust zusammen, als sein Körper aufgeben wollte. Doch das duldete er nicht. Keuchend stemmte er sich auf die Ellbogen, wollte sich hochdrücken …

„Verdammt!“, schrie Cynna, die aufgesprungen war, und ihr Haar wurde vom Sturm gepackt, als sie mit dem Finger auf die Glyphe zeigte. „Geh! Tu, was man dir sagt!“

Die Luft wirbelte einmal, zweimal um sie herum und ließ sie einen Schritt zurücktaumeln. Und dann tat sie, was man ihr gesagt hatte.

Die plötzliche Stille kam für Cullen wie ein Schock. Er hatte Schmerzen, am meisten in seinem rechten Knie. Der Schmerz war so stark, dass er die anderen beinahe betäubte. Offenbar hatte er es sich verrenkt, als er sich hin und her geworfen hatte wie ein Fisch, der durch einen Stromschlag getötet wurde. Seine Muskeln fühlten sich an wie Wackelpudding. Langsam bewegte er seinen Kopf, um den Zauber anzusehen.

„Cullen?“ Cynna war schon fast bei ihm.

Er bedeutete ihr zurückzubleiben. „Warte eine Minute.“

Die strahlenden Farben von Erde, Luft, Feuer und Wasser peitschten um den Zauberkreis des Gnoms herum. Die Energielinien schlängelten sich so rasant umeinander, dass er das Muster nicht erkennen konnte … und doch kam es ihm bekannt vor.

„Sind wir in Gefahr?“, fragte Brooks mit flacher Stimme, als interessiere ihn die Antwort auf diese Frage nicht besonders.

„Nein, nein“, sagte der Gnom und erhob sich. „Gefahr vorbei.“

„Ihr habt uns getäuscht“, fuhr Marilyn Wright ihn an. „Ihr habt uns versichert, der Zauber sei ungefährlich.“

„Sollte ungefährlich sein, aber der Cullen Seabourne rief ganze Kraftlinie. Ich nicht weiß, wie er es macht. Aber der Zauber ist ausgezeichnet – hat alle Magie gut geschluckt.“ Er breitete die dürren Ärmchen aus. „Gefahr vorbei.“

Während die Energie noch durch den Raum zischte, sich ein- und wieder auseinanderrollte, verliefen die Farben ineinander. Verschwammen. Nahmen wieder die eisige, beinahe feste Intensität von Netzknotenenergie an. Was eigentlich nicht möglich war. Magie ging nicht zurück zu ihrem reinen Zustand. Und doch war es so. „Irgendetwas stimmt hier nicht.“

„Doch stimmt“, sagte der Gnom zufrieden. „Alles gut. Ganze Kraftlinie ist viel Energie, sehr viel dank Euch. Kirelashidah!“

Und die Energie erzitterte und glitt aus dem Zauber heraus, teilte sich in Bänder, die sich mit anderen Bändern verknüpften. Auf einmal erkannte er das Muster. „Dreckskerl!“ Cullen stemmte sich mühsam hoch und geriet ins Stolpern, als sein Knie unter ihm nachgab. „Raus! Raus! Das ist ein Tor! Ein verfluchtes Tor!“

Der Gnom schrie etwas Unverständliches. Cullen schlug nach einem Energieband mit seinem Athame und durchtrennte es. Das freie Ende peitschte durch den Raum wie ein Feuerwehrschlauch unter vollem Wasserdruck, und in der Mitte des Raumes verschwand der Fußboden.

Und mit ihm der Altar. Und Cynna, die eben noch neben ihm gestanden hatte.

Cullen brüllte auf und setzte zum Sprung über den sich auftuenden Abgrund an, um den Gnom zu töten. Der lehmfarbene Mann warf sich auf ihn.

Der Kerl war stark und wendig genug, Cullen noch während des Fallens einen Kinnhaken zu verpassen. Doch durch den bekam er einen klaren Kopf. Auch Cullen war stark und wendig – und ein Lupus – und selbst mit einem verrenkten Knie und den Wackelpuddingmuskeln sehr schnell.

Er schlug den Mann mit seinen Handballen mit voller Wucht an den Kopf.

Cullens Hand explodierte fast, aber der Schlag hatte seinen Gegner immerhin benommen gemacht. Dann ertönte ein Schuss, dann noch einer, sehr laut in dem geschlossenen Raum. Als er den Mann vor sich herschob, sah er gerade noch, wie die Frau mit den Stoßzähnen Steve Timms in ein wirbelndes Licht stieß, wo eben noch der Fußboden gewesen war.

Das Tor wuchs weiter. Er war immer noch sehr schwach von seinem Kampf mit der freien Kraftlinienenergie. In diesem Zustand konnte er die Energie des Diamanten nicht kontrollieren. Mit einer Handbewegung löschte er die Kerzen. Sein Zauberkreis löste sich auf.

Der Raum drehte sich eine Sekunde lang um ihn, als Cullen die Magie wieder in sich aufnahm – die Feuerenergie und seine eigene. Als er wieder klar sah, bemerkte er die beiden Agenten des Secret Service, die mit gezogener Waffe in der offenen Tür standen. „Bringt sie raus!“, schrie er. „Nicht schießen! Bringt nur alle hier raus!“

Die Stoßzahnfrau warf Brooks in den hell erleuchteten Abgrund, und einer der Idioten drückte doch ab.

Das Licht erlosch.

In der Dunkelheit schrie jemand. „Mit dem Rücken an die Wand!“, rief er denen zu, die nicht wie er die Katastrophe hatten kommen sehen. „Stellt euch mit dem Rücken an die Wand! Das Tor hört bei den Glyphen auf!“

Große, starke Hände packten seine Schultern. Seine Nase sagte ihm, wem die Hände gehörten. Er knurrte und schlug mit der Faust dorthin, wo der Magen sein sollte. Und traf.

Der Schmerz war fürchterlich, denn er hatte mit der Hand zugeschlagen, mit der er dem dicken Schädel ihres Partners eins verpasst hatte. Doch der Treffer schien ihr nichts auszumachen. Er hörte nicht einmal ein Uff! von ihr, obwohl auch sie verwundet war. Er roch das Blut und wusste, dass Steve sie mindestens einmal getroffen hatte, bevor sie ihn dann in das Loch gestoßen hatte.

Doch das schien ihr nichts auszumachen. Sie stieß ihn, und, oh Dame, diese Frau hätte selbst einen Dämon niedergerungen.

Gut, dass er sich an ihre Arme gehängt hatte. Seine Beine gaben unter ihm nach, aber er klammerte sich mit aller Kraft fest, und gemeinsam taumelten sie auf den Rand des tosenden Abgrunds zu. Ihre Stärke war seine Rettung – bevor sie fallen konnten, warf sie sich zurück und zog ihn mit sich.

Cullen versuchte, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie ohrfeigte ihn, und während seine Ohren noch klingelten, versuchte sie seinen Griff zu lösen. Mit der anderen Hand stach er nach ihren Augen. Sie grunzte und ließ los, sodass er zu Boden fiel. Er rollte sich zur Seite und stieß gegen ein Paar Beine. Auch diesen Geruch kannte er. „Geh zurück, verdammt!“, schrie er Lily an. Damit sie auch wirklich einmal tat, was man ihr sagte, erhob er sich mühsam und zerrte sie durch die wirbelnden Linien, die die Grenzen des Zaubers des Gnoms markierten. Er drückte sie an die Wand. „Rühr dich nicht vom Fleck!“

Mehr konnte er nicht tun. Er drehte sich um, machte vier schnelle Schritte und tauchte in das grelle Weiß des Tores.