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Die Enchiladas waren köstlich. Die Stimmung allerdings war angespannt.
Zum einen wegen des strikten Verbots, das S-Wort auszusprechen oder darauf anzuspielen, was sowohl Lily als auch Rule streng befolgten. Cynna wusste nicht, warum sie sich so in Zurückhaltung übten, aber sie war froh darüber. Das andere Thema, das sie mieden, war ihre Entscheidung, nach Edge zu gehen, und die Meinung der anderen dazu.
Keine leichte Aufgabe für alle Beteiligten. Glücklicherweise gab es noch andere Themen, über die sie sprechen konnten. Wie zum Beispiel Gnome.
Rule kannte einen Gnom recht gut. Max war grob, übellaunig, sehr groß für seine Art und unvergesslich hässlich. Er war auch ein sehr guter Freund. Um Rule zu retten, war er mit ihnen zusammen in die Hölle gegangen – nicht ohne den ganzen Weg über zu meckern, aber dennoch.
„Max hat die Anzahlung für seinen Club beim Lügenpoker gewonnen“, sagte Rule, als er sich den Teller ein zweites Mal belud. „Man hat ihn aus Las Vegas verbannt, weil er so gut blufft. Für einen Gnom ist Lügen eine Kunst. Ich glaube, auch bei ihnen gibt es Regeln, so etwas wie ethische Überlegungen, was das Lügen betrifft, aber bisher habe ich nicht herausgefunden, welche.“
„Also sollten wir das, was der Rat sagt, nicht einfach für bare Münze nehmen“, sagte Lily.
„Nicht, wenn die Gnome in Edge denen hier bei uns ähneln. Sie werden auch vermuten, dass wir lügen.“
Cynna schnaubte. „Kein Problem. Ich nehme an, dass der Unterarsch aus dem Wirtschaftsministerium das Lügen ebenfalls für eine Kunstform hält.“
Lily grinste. „Unterarsch. Ich gehe davon aus, dass du von McClosky sprichst.“
„Wie hast du das erraten?“
„Die Regierung kann und wird sich um sich selber kümmern“, sagte Rule. „Und das wirst du auch tun müssen. Nur weil der Gnom sagt, dein Vater sei in Edge, muss es nicht stimmen. Er wusste, wie er heißt. Aber er kannte auch Lilys Namen, und den weiß er nicht von Daniel Weaver.“
„Er hat einen Ehering, auf dem das Muster meiner Mutter ist.“
„Cynna.“ Lily berührte ihre Hand. „Daraus lässt sich nur schließen, dass Daniel Weaver – oder sein Ring – einmal in Edge war. Das beweist nicht, dass er jetzt noch immer dort ist.“
Alles in allem war sie erleichtert, als sie endlich die Haustür hinter sich zuziehen konnte.
Die Luft war kalt und still. Cynna atmete tief ein und hielt die Luft an, in der Hoffnung, so ihre Unruhe in den Griff zu bekommen. Irgendwo in der Nähe bellte ein Hund. Und irgendwo, noch näher, war ein Lupus, der sie beobachtete, auch wenn sie ihn nicht sehen konnte. Rules Vater hatte angeordnet, dass er von jetzt an bewacht wurde. Und was der Rho sagte, wurde gemacht. Cynna musste den Wächter nicht mit eigenen Augen sehen, um zu wissen, dass er dort war.
Sie steckte die Hände in die Taschen und schnitt ein Gesicht. Verdammt. Den Mantel hatte sie ganz vergessen. Sie hatte Rule nicht gedankt, der noch nicht einmal wusste, dass er ihn ihr gekauft hatte. Das hatte Lily in ihrem Bericht nicht erwähnt.
Auch den Pullover und die Hose musste sie Lily noch zurückzahlen. Sie hatte vergessen zu fragen, wie viel sie gekostet hatten.
Aber sie würde nicht wieder hineingehen. Nicht an diesem Abend.
Ihr Ford, der eigentlich dem Staat gehörte, stand am Straßenrand, aber sie ging nicht hin. „Sag ihnen, ich mache einen Spaziergang“, rief sie dem unsichtbaren Wachtposten zu. Sie warf die Schlüssel in ihre Tasche, zog sich den Riemen über den Kopf, sodass er wie ein Patronengürtel quer über ihrer Brust lag, und lief los.
Der neue Mantel war gefüttert und weich und erstaunlich warm. Jedes Mal, wenn sie die Arme schwang, flüsterte ihr das Leder etwas zu: Scht, scht, scht. Das Geräusch erinnerte sie an Reifen, die über Asphalt rollten, oder einen Schwamm, der eine Tafel sauber wischte. Bewegung.
Gehen war für Cynna die gesündeste Art, mit etwas fertigzuwerden. Obwohl sie eine Prügelei immer noch bevorzugte, widerstand sie diesem Impuls jetzt. Meistens. Außerdem war jetzt keiner in der Nähe, den sie hätte durchbläuen können, wenn sie nicht zurückgehen wollte, um Lily eins auf die Nase zu geben, die sie wahrscheinlich ganz schnell k. o. schlagen würde. Ein Schwarzer Gürtel zweiten Grads ließ sich von einem schäbigen Braunen nichts gefallen. Vielleicht würde sich ja Rule von ihr schlagen lassen, aber das war keine richtige Prügelei.
Dabei war sie gar nicht wütend auf Lily oder Rule … die sie nicht im Stich gelassen hatten. Wenn sie sich jetzt so fühlte, war das nur dumm und völlig unangebracht.
Verdammt! Finster starrte sie die dunkle Straße hinunter, als sie vom Bürgersteig trat.
Ein leises Geräusch, kaum wahrnehmbar, ließ sie herumfahren.
Nur eine Armeslänge entfernt von ihr stand ein eins achtzig Meter großer, schlanker, wütender Mann, mit Krücken unter den Armen. Zimtfarbenes Haar umrahmte ein Gesicht, für das Bildhauer gemordet hätten, um es in Stein meißeln zu dürfen. Er trug dieselbe zerrissene Jeans und schmutzige Jeansjacke wie zuvor. Der böse Blick war neu.
„Himmelherrgott noch mal“, fuhr Cullen sie an, „hat deine Mutter dir nicht beigebracht, erst nach rechts und nach links zu sehen, bevor du über die Straße gehst?“
Ihr Herz hämmerte wie verrückt. Das machte sie wütend. „Ich erinnere mich nicht mehr. Möglicherweise hat sie das, bevor sie sich zu Tode getrunken hat.“
„Arme kleine Cynna.“
Der Spott tat ihr weh. Ihr schlechtes Gewissen rieb noch zusätzlich Salz in die Wunde, denn ihre Mutter war nicht immer eine Trinkerin gewesen – zumindest nicht eine von der hilflosen, hoffnungslosen Sorte. Als Cynna noch klein war, hatte es immer Gemüse zu den Makkaroni mit Käse aus der Dose gegeben. Ihre Mutter hatte sie jeden Abend ins Bett gebracht, und manchmal hatte sie ihr sogar noch eine Gutenachtgeschichte vorgelesen. Sie war mit ihr zum Spielplatz gegangen und hatte die Schaukel für sie angestoßen.
Brüsk drehte sie sich um und begann über die Straße zu gehen.
„Oh, jetzt bleib doch und lass es raus.“ Er schwang sich an seinen Krücken neben ihr her. „Du willst doch nichts lieber, als mir eine zu knallen. Vielleicht lasse ich dich sogar.“
„Warum bist du hier? Warum bist du nicht im Hauptquartier bei deinem ach so tollen neuen Zauber.“
„Ich stalke dich.“
Das ließ sie stehen bleiben.
„Nennt man das nicht so, wenn ein Mann einer Frau hinterherläuft, die ihn loswerden will?“ Er ließ eine Krücke los und lehnte sie an seine Hüfte, dann stupste er sie in den Rücken. „Geh weiter. Da kommt ein Auto.“
Das Auto war drei Häuserblocks entfernt und fuhr ganz gemächlich, aber die Straße war möglicherweise wirklich nicht der beste Ort, um diese Diskussion zu führen. Cynna ging weiter. „Vielleicht knalle ich dir wirklich eine.“
Cullen sagte nichts, kein Wort, einen halben Häuserblock lang. Auch sie schwieg. Die Krücken behinderten ihn kaum, sodass er keine Mühe hatte, mit ihr mitzuhalten.
Merkwürdigerweise begannen die zuckenden Drähte in ihr zur Ruhe zu kommen. Vielleicht lag es an der Bewegung. Oder an der Unvermeidlichkeit der Unterhaltung, die sie gleich miteinander führen würden … eingebildete Monster sollten sich doch eigentlich mit einem Puff in Luft auflösen, wenn man sich ihnen stellte, oder?
Ihre Monster würden nicht verschwinden, aber aus der Panik war nun einfache Furcht geworden. Sie hatte schon viele Dinge gemacht, vor denen sie sich zuerst gefürchtet hatte. Deshalb würde sie das hier auch noch schaffen. Cynna stieß die Hände wieder in die Taschen. „Du wartest darauf, dass ich es zugebe.“
„Ja, das tue ich.“
Cynna atmete so tief ein, wie ihre Lunge an Luft aufnehmen konnte, und geräuschvoll wieder aus. „Ich bin schwanger.“
„Ich weiß“, sagte er sanft.
Oh verdammt, sie hasste es, wenn er in diesem Ton mit ihr sprach. Cynna ging schneller, aber sie konnte ihre Gedanken nicht abhängen. Oder ihre Gefühle. Oder ihn. Er hielt mit ihr Schritt.
„Wir wissen es sofort“, hatte Cullen ihr in dieser Nacht gesagt, als sie miteinander geschlafen hatten, das einzige Mal, und in seinen Augen hatten Tränen gestanden. Tränen, die ihr eine Heidenangst eingejagt hatten.
Lupi wussten sofort, wenn eine Frau, mit der sie Sex gehabt hatten, schwanger war, aber dieses Wissen war nur die eine Seite der Medaille. Die andere war, dass es nicht oft passierte. Magie wirkte sich negativ auf ihre Zeugungsfähigkeit aus. Das war der Grund für so viele ihrer Verhaltensweisen. Zum einen ihre unbedingte Promiskuität. Und die Art und Weise, wie der Sohn des Rhos ein Thronfolger wurde. Vielleicht sogar ihr Aussehen. Cullens äußerliche Perfektion war ein extremes Beispiel, aber Cynna hatte noch nie einen hässlichen Lupus gesehen. Die Männer – und Werwölfe waren alle männlich – waren wie Pfauen oder Schmetterlinge, deren Schönheit nur dazu da war, um Partnerinnen anzulocken.
Partnerinnen, im Plural. Für Lupi war der Plural sehr wichtig.
Als Cullen ihr gesagt hatte, dass sie schwanger war, hatte sie nur von der einen Seite der Medaille gewusst, der eingeschränkten Zeugungsfähigkeit. Sie hatte ihm nicht geglaubt, dass er es tatsächlich wissen konnte. Zum Teil auch, das gab sie zu, weil sie es nicht hatte wahrhaben wollen. Schließlich hatte sie die Pille genommen, verdammt noch mal. Cynna war vielleicht manchmal unvorsichtig, aber nie bei der Verhütung. Sie war sich so sicher gewesen, dass sie nicht schwanger sein konnte.
So hatte sie die letzten fünf Wochen darauf gewartet, dass sie ihre Periode bekam. Bis sie schließlich den verdammten Test gekauft hatte. „Du freust dich darüber“, sagte sie bitter.
„Freuen ist gar kein Ausdruck … Cynna.“ Er stellte sich vor sie, lehnte die Krücken an seine Seite und packte sie mit beiden Händen bei den Schultern. „Das ändert auch für mich alles. Alles.“
„Aber du wolltest es. Du wolltest ein Kind. Du hast gesagt, du hättest die Hoffnung schon aufgegeben.“
„Ja.“ Er ließ die Hände sinken. „Nach so vielen Jahren … äh, ich bin älter, als ich aussehe.“
„Das habe ich mir gedacht.“ Noch so ein streng gehütetes Wolfsgeheimnis: Sie alterten sehr viel langsamer als Menschen. „Du kannst mich später mit deinem wahren Alter schockieren. Ich frage nach, darauf kannst du dich verlassen, aber nicht jetzt.“
„Was wirst du tun?“
„Ich weiß es nicht. Gott, woher soll ich das wissen?“ Sie warf die Arme in die Luft und sprach lauter. „Bis heute Morgen habe ich es nicht geglaubt. Und als ich den Test gesehen habe, konnte ich es immer noch nicht glauben. Was hat Gott sich dabei gedacht? Ich kann kein Kind aufziehen. Ich will kein Kind aufziehen!“
Jetzt war die Wahrheit heraus und hing zwischen ihnen: Sie wollte dieses Kind nicht. Cynna war übel. Sie legte sich die Hand auf den Bauch. Etwas wuchs darin, gerade jetzt.
„Was wirst du tun?“, wiederholte er.
Sein Blick war brennend, ließ ihren nicht los. Nein, seine Augen strahlten nur heller als gewöhnlich. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Sie starrte ihn an, und langsam dämmerte ihr, was er meinte. „Cullen, ich bin katholisch. Ich meine, ich bin für das Recht auf Abtreibung, weil nicht jeder katholisch ist und seine eigene Entscheidung treffen sollte, aber ich bin katholisch.“
„Du nimmst die Pille. Du hast Sex, wann du willst. Das entspricht nicht gerade den Vorstellungen von katholischen Gläubigen. Willst du damit sagen, dass …“
„Ja, das will ich damit sagen.“ Sie machte einen Schritt auf ihn zu. Er war verletzt. Sogar sehr, denn Cullen ließ sich sonst nie anmerken, wenn er verletzt oder ängstlich oder verwundbar war. „Ich weiß nicht, was ich tun werde, aber es wird keine Abtreibung sein. Das steht nicht zur Debatte.“
Seine Krücken fielen scheppernd zu Boden. Er packte sie und drückte sie fest an sich.
Zu fest. „Lass das! Ich bekomme keine Luft!“
„Halt den Mund.“ Aber er ließ sie nicht los. Sie war nicht viel kleiner als er; als er sein Kinn auf ihren Kopf legte, bewegte sein Atem ihr Haar. „Das ergibt keinen Sinn. Ich verstehe dich nicht.“
„Ich mich auch nicht. Aber … beim Sex betrifft ein eventueller Fehler nur die beteiligten Erwachsenen. Vielleicht hat die Kirche recht, vielleicht habe ich recht, aber in jedem Falle ist es keine große Sache. Aber eine Abtreibung …“ Sie brach ab. „Wir sprechen hier von Kindern. Nicht, dass ich denken würde, dass das, was in mir ist, ein Kind ist, noch nicht. Aber das wird es einmal, nicht wahr? Ich kann diese Entscheidung nicht treffen. Das ist einer der Gründe, warum ich ursprünglich in die Kirche eingetreten bin … um Hilfe und Unterstützung bei den wirklich wichtigen Fragen zu bekommen.“
Sein Ton war trocken. „Und die Pille? Ist das auch ‚keine große Sache‘?“
Sie schnaubte. „Ist dir aufgefallen, dass der Papst ein Mann ist? Nicht verheiratet, ohne Affären … warum sollte gerade der etwas dazu zu sagen haben?“
„Dann glaubst du also nicht an die päpstliche Unfehlbarkeit?“
„Na ja, das ist so eine Sache. Die päpstliche Unfehlbarkeit bedeutet nicht, dass Päpste perfekt sind oder immer recht haben. Sieh dir doch nur die Geschichte der Kirche an, da werden Menschen wegen Hexerei verbrannt oder gefoltert, weil sie sagen, die Erde sei rund. Das ist nicht richtig. Es heißt eher, dass sie die Lehren der Kirchen deuten sollen, denn nicht immer sind sich alle einig, was die Unfehlbarkeit einer speziellen Lehre angeht. Die letzte, die keiner angezweifelt hat, wurde 1952 erlassen, und sie betrifft Mariä Himmelfahrt.“
Cullen legte die Hände um ihre Taille und sah sie an, ein Lächeln auf den Lippen. Er war belustigt oder wollte es sein. „Anscheinend hast du dich eingehend damit beschäftigt.“
„Wenn man erst als Erwachsener in die Kirche eintritt, muss man sich gründlich mit ihr auseinandersetzen, damit man weiß, auf was man sich einlässt.“ Sie zog eine Grimasse. „Oder nicht einlässt. Vater Jacob meint, ich würde den katholischen Glauben für ein Büfett halten.“
Seine Mundwinkel hoben sich. „Weil du dir das aus dem Glauben heraussuchst, was dir gefällt, und das, was dir missfällt, auf dem Büfett liegen lässt?“
Sie nickte. „Aber Vater Michael sagt, das sei in Ordnung, solange ich auch weiterhin über den Rest nachdenke. Ohne ihn vorher probiert zu haben, kann ich nicht wissen, ob ich Fisch mag oder die Soße, in der er liegt, verstehst du?“
„Du hast einen Priester. Zwei Priester.“ Cullen schüttelte den Kopf. „Unglaublich.“
„Das sagt Rule auch. Wie geht es deinem Fuß? Können wir noch ein bisschen weitergehen?“
Als Antwort bückte er sich, um seine Krücken aufzuheben. „Du musst das nicht allein durchstehen, das weißt du.“
Mit „das“ meinte er die Schwangerschaft. Das Wort ließ sie leise erschaudern. Sie ging weiter. „Das habe ich verstanden.“
„Du musst das Kind nicht großziehen. Du könntest es mir überlassen.“
Dieses Mal war es kein leiser Schauder, sondern große, schwindelerregende Wellen. „Ich bin noch nicht bereit, das zu entscheiden. Ich kann ja kaum aussprechen, dass ich … schwanger bin. Ich kann noch keine Entscheidungen treffen.“
„Nur damit du weißt, dass diese Möglichkeit auf dem Büfett liegt.“
Sie sagte nichts, bis sie die nächste Querstraße erreicht hatten. Keine Autos. Sie überquerte sie. „Du sagtest ‚es‘. Kennst du das Geschlecht nicht?“
„Dafür braucht man Ultraschall.“
Wann? Wann war die Zellansammlung in ihrem Inneren so weit entwickelt, dass es ein Geschlecht hatte? Sie hatte keine Ahnung. Sie wusste rein gar nichts über Babys – über Schwangerschaft, Geburt oder Erziehung.
Aber eines wusste sie. Falls es ein Junge war, würde er ein Lupus sein. Wenn er alt genug wäre, würde er sich wandeln. Aber das war kein Problem, denn er würde einen Clan haben, Leute, die sich um ihn kümmerten und ihm durch den Wandel hindurchhalfen. Aber … „Wenn es ein Mädchen ist, ist sie doch auch eine Nokolai, ja?“
„Ja.“
Es lag so viel Befriedigung in seiner Stimme. Weil sein Kind nicht clanlos sein würde, wie er es gewesen war? Vielleicht gab er seinem Adoptivclan etwas Wunderbares zurück. Lupi waren verrückt nach Kleinkindern.
Von allem ein wenig, entschied Cynna. Und das war alles, was sie heute Abend entscheiden konnte. Für einen Tag hatte sie genug Schocks erlitten – der Test mit seiner blöden violetten Farbe, Gan und die Delegation, die Neuigkeiten über ihren Vater …
Mein Vater. Zwei Worte, die nie eine besondere Bedeutung für sie gehabt hatten. Selbst in Gebeten hieß es „unser Vater“ und nicht „mein Vater“. Jetzt … na, na, sie dachte ja schon wieder nach, und nicht gerade auf besonders effiziente Weise. „Wie kommt es, dass du nicht mehr im Hauptquartier bist? Sag mir nicht, du hast mich einem tollen neuen Zauber vorgezogen.“
„Sag mir nicht, du bist nicht neugierig auf den tollen neuen Zauber.“
„Jetzt, da du es erwähnst … wo bezieht er seine Energie her?“
Er grinste. „Nicht aus demjenigen, der das Ritual durchführt.“
Das Gesetz definierte Zauberei als Magie, die sich aus einer Quelle außerhalb des Magiers speiste – was, wie Cullen sagte, eine hübsche Mischung aus Dummheit und grenzenloser Ignoranz war. Selbst Wiccas bezogen ihre magische Energie aus anderen Quellen, obwohl die Pflanzen und Steine, die sie benutzten, nicht viel davon hatten. „Denkst du, der Kongress wird eine Notsitzung abhalten, um das Gesetz zu ändern?“
„Sie werden sich etwas einfallen lassen, um es zu umgehen. Sie sind zu scharf auf diesen Zauber.“
Handel mit einer anderen Welt … ja, das wäre eine Riesensache. Cynna bezweifelte, dass man es noch lange würde geheim halten können. „Was ist das für eine Art Zauber?“
„Volle Spannung.“
Das bedeutete, dass er seine Kraft aus allen vier Elementen zog. „Ausgeglichene Spannung?“ Je gleichmäßiger der Energiefluss aus den vier Elementen war, desto schwieriger war der Zauber, denn die Energie des Magiers selbst war nicht ausgeglichen. Cullen fand Feuer lächerlich einfach und beherrschte auch sehr gut das Element des Wassers und das der Erde, aber nicht so gut das der Luft. Cynnas Stärke lag im Umgang mit dem Element Luft, mit Erde konnte sie leidlich umgehen, aber mit Wasser und Feuer hatte sie Probleme.
„Es ist Kraftlinienmagie.“
„Heilige Scheiße!“ Sofort hatte sie ein schlechtes Gewissen und entschuldigte sich im Stillen bei Gott für ihren blasphemischen Ausdruck. Eigentlich wollte sie sich diese schlechte Angewohnheit abgewöhnen. „Dann ist es definitiv eine ausgeglichene Spannung. Äh … hast du schon mal einen Kraftlinienzauber ausgeführt?“
„Ein paarmal. Ich werde die Elemente durch mein Blut binden.“
„Das ist …“
„Die beste Methode, die ich kenne.“
Kraftlinien transportierten Magie durch die Erde. Direkt nach dem Austritt aus einem Netzknoten, wo sie entstand, war diese Magie am dichtesten und farblos, dann teilte sie sich in die Regenbogenfarben der Elemente. Deswegen musste man eine Beschwörung mit ausgeglichener, voller Spannung durchführen, um eine Kraftlinie anzuzapfen. Blutrituale waren eine riskante Art, diese Ausgeglichenheit zu erreichen, aber wenn man es mit Kraftlinienenergie zu tun hatte, war jede andere Methode ebenso riskant. Nach diesen Überlegungen nickte Cynna. „Du weißt selbst, wie du es am besten anstellst.“
„Meine Kräfte in Bezug auf Luft sind nicht der Rede wert. Das ist deine Domäne. Behalte mich nach dem Blutritual im Auge. Wenn ich abgelenkt werde und die Ausgeglichenheit verliere, dann werde ich vermutlich aufhören zu atmen. Du musst mich daran erinnern.“
„Versprochen. Was ist mit dem Rest des Zaubers?“
Er zuckte die Achseln. „Das sind materielle Komponenten für die Beschwörung. Die Liste, die er mir gegeben hat, ist interessant. Edge muss unserer Erde sehr ähneln, wenn wir dieselben Kräuter haben.“
„Anders als Dis.“
„Richtig. Aber ohne Gegenleistung will er nicht mehr verraten. Als ich ging, hatte man gerade beschlossen, die Verhandlungen auszusetzen, um irgendeinen Gnom, der ein paar Jahre in den Tunneln gelebt hat, einzufliegen.“
„Also wartest du jetzt darauf, dass die Regierung diesen Ratstypen für seinen Zauber bezahlt.“
Er sah sie nachdenklich an. „Du denkst, das ist der Grund, warum ich dich stalke – dass ich nicht hier sein würde, wenn ich den ganzen Zauber zum Spielen hätte. Du irrst dich.“
„Und du bist kein Telepath.“ Ein guter Menschenkenner vielleicht. So gut, dass ihr unbehaglich wurde.
„Dieses Kind bedeutet mir mehr als jeder Zauber. Mehr als alles andere.“
Es war die Art, wie er es sagte – ganz sachlich, ohne jedes Pathos –, die ihr die Tränen in die Augen treten ließ. Oder vielleicht spielten ihre Hormone schon jetzt verrückt. Sie sammelte sich kurz, damit ihre Stimme nicht zitterte, bevor sie antwortete. „Das ist gut. Jedes Kind sollte jemanden haben, für den es die erste Priorität ist.“
„Hast du so jemanden gehabt?“
„Halt den Mund, Cullen.“
„Für mich war es meine Mutter. Sie war zwar nicht gerade die perfekte Mutter, so eine wie June Cleaver, aber sie liebte mich bedingungslos.“
Er hatte mit dem Thema angefangen. Sie beschloss, ihm eine Frage zu stellen, die sie schon lange interessierte. „Was ist mit deinem Vater? Eigentlich sind Lupi doch ganz verrückt nach ihren Kindern.“
„Oh klar, als ich ein Kind war … aber es stellte sich heraus, dass er vor allem sein Bild von mir liebte. Nicht mich, wie ich wirklich war.“
„Ein Zauberer.“
„Er dachte, ich könnte es einfach so aufgeben. Er hat nicht …“ Er atmete schwer. „Er hat nicht um mich gekämpft. Als die Rhej sagte, ich könnte nicht beides sein, Etorri und Zauberer, hat er sich weder ihr noch den anderen widersetzt. Stattdessen hat er mich kritisiert. Ich war sein Gegner, nicht die anderen. Und als ich dann nicht bereit war, etwas aufzugeben, das einen solch großen Teil von mir ausmachte … nach der seco hat er nie wieder mit mir gesprochen.“
„Himmel.“ Die Etorri waren sein früherer Clan gewesen. Die seco musste eine Art von Zeremonie sein, mit der sie ihn hinausgeworfen hatten. Nie wieder mit ihm zu sprechen, nachdem er schon seinen Clan verloren hatte … das war ein größerer Verlust als das Verschwinden ihres Vaters. Cullen war in dem Glauben aufgewachsen, dass sein Vater ihn liebte. „Nie wieder?“
Er fuhr mit der Hand durch die Luft, als wollte er die Vergangenheit und ihre Frage fortwischen. „Ich will kein Mitleid. Ich will, dass du weißt, dass es unwichtig für mich ist, was dieses Kind ist – Mädchen oder Junge, dumm oder clever, ungeschickt, ob es eine Gabe hat … was auch immer. Es ist egal. Ich bin auf seiner Seite.“
„Oder ihrer.“
„Oder ihrer. Aber ich will es nicht nur ein oder zwei Monate im Sommer sehen. Ich will gleich von Anfang an zu dem Leben meines Kindes dazugehören.“ Seine Stimme wurde hart. „Ich werde dazugehören.“
Glaubte er, dass sein Leben anders verlaufen wäre, wenn sein Vater eine größere Rolle darin gespielt hätte? „Wie oft warst du bei deinem Vater?“
„Ein Punkt für Cynna.“ Er leckte an seinem Zeigefinger und malte eine Eins in die Luft. Die Ziffer glühte schwach und verblasste dann. „Jeden Sommer, einen Monat lang. Er lebte in Kanada. Mom und ich lebten in England.“
„Ich dachte doch, ich hätte einen schwachen Akzent herausgehört. Wie lange hast du …“
„Cynna.“ Er blieb stehen und sah sie an. „Du versuchst das Gespräch auf mich zu lenken, damit du nicht über das Kind reden musst.“
„Nun ja … natürlich.“
Er verzog den Mund zu einem leichten Lächeln, das langsam hoch zu seinen Augen wanderte. „Jetzt bist du dran … Mist!“ Sein Handy piepste. Er zog es aus der Tasche an seinem Gürtel und warf einen Blick auf das Display. „Es ist nur Timms.“
„Wohnst du immer noch bei ihm?“
„Ja. Er ist ganz in Ordnung. Stört mich nicht sehr.“ Er betrachtete finster das Handy in seiner Hand. „Er ruft mich auch nicht oft an. Eigentlich nie.“
„Vielleicht solltest du lieber drangehen.“
Aus irgendeinem Grund schien das eine schwere Entscheidung zu sein, aber schließlich zuckte Cullen die Achseln und hielt das Telefon ans Ohr. „Ich hoffe, du rufst mich nicht an, um mir zu sagen, dass ich Brot mitbringen soll.“ Es folgte eine lange Pause. „Sie hat was gesagt? Verdammt! Nein, das hast du richtig gemacht … Ja, wem sagst du das … Na ja, du warst zu Hause. Hat sie … nein? Das ist interessant … das werde ich. Mit Rule wahrscheinlich. Danke.“ Mit grimmigem Blick legte er auf.
„Was? Was ist los?“
„Eine Reporterin von der Post hat ihn zweimal angerufen, weil sie mit seinem ‚Stripper-Freund‘ reden will. Sie hat gefragt, ob ich wirklich ein Lupus bin. Jetzt steht sie auf der Straße gegenüber von Timms’ Wohnung und geht nicht mehr weg.“