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Auf der Intensivstation gab es keine Stühle. Lily stand an Tobys Bett, hielt seine Hand und wünschte, sie würde an die Kraft von Gebeten glauben.
Der Tod war nicht das Ende. Es gab eine unsterbliche Seele. Das wusste sie ganz genau. Aber sie wusste nicht, ob es jemanden gab, der die Fäden in der Hand hielt. Wenn ja, dann machte er oder sie seine oder ihre Sache nicht besonders gut. Die Insassen hatten die Irrenanstalt übernommen, und zwar schon seit langer Zeit.
Aber es konnte nicht schaden, zu fragen. Selbst wenn sie nicht wusste, zu wem oder was sie betete. Bitte. Bitte, hilf ihm. Hilf uns.
„Er sieht gut aus, nicht?“
Sie drehte sich um. Cynna stand im Eingang und nippte an einer dampfenden Tasse. Lily roch Kaffee. „Du magst doch gar keinen Kaffee.“
„Schmeckt wirklich scheiße“, gab sie zu und trat in den mit Glaswänden abgetrennten Raum. „Wo ist Rule?“
„Bekommt gerade eine Kampftherapie, glaube ich. Er …“ Sie kaute auf ihrer Unterlippe, unsicher, wie viel sie sagen durfte. „Ich dachte, er käme klar. Ich habe nicht genau genug hingesehen. Ein Psychologe würde wahrscheinlich von Verdrängung oder so sprechen. Benedict sagt, er müsste jemanden schlagen. Er und Cullen haben ihn mit nach draußen genommen, um zu reden – so wie man das unter Lupi macht.“
„Kampftherapie. Hm. Das könnte ich auch gebrauchen.“
Unter den verästelten tintenfarbenen Mustern war Cynnas Gesicht angespannt. Nein, bemerkte Lily, sie war so angespannt wie eine Feder, die überdreht worden war und jeden Augenblick zurückschnappen konnte. „Ich glaube, ich bin mehr wie Timms. Ich schieße lieber.“
„Aber du kannst auch kämpfen.“
„Im Moment bin ich zu wütend, um gut kämpfen zu können.“ Lily hatte nicht gewusst, dass das stimmte, bevor sie es ausgesprochen hatte. Aber jetzt spürte sie die Wut ganz deutlich – als harten Knoten in ihrem Bauch. „Wenn man sich von seiner Wut übermannen lässt, macht man Fehler.“
„Wahrscheinlich hast du deswegen auch den schwarzen Gürtel und ich nur den braunen. Wenn ich wütend bin, will ich kämpfen. Wenn ich nicht wütend bin, gibt es für mich keinen Grund, zu trainieren.“ Cynna nahm einen Schluck aus ihrer Tasse und verzog das Gesicht. „Da. Dann kannst du genauso gut das hier trinken.“
Lily nahm die Tasse. Milch hatte die schlammfarbene Flüssigkeit ein wenig aufgehellt. Sie entschied, dass sie noch nicht verzweifelt genug war, um das Gebräu trinken. „War es sehr schlimm für dich?“, fragte sie sanft. „Was Jiri getan hat, meine ich. Dass sie dich wieder hat reiten lassen. Dass sie dich alles hat mit ansehen lassen.“
„Nein.“ Cynnas Ton war bitter. „Reiten ist anders. Man sieht nicht nur zu.“
„Du hast mir nie etwas davon erzählt.“
„Und das tue ich auch jetzt nicht.“
„Du hast es nicht getan, das weißt du. Du hast die anderen nicht angegriffen, und du bist auch nicht diejenige, die Toby das angetan hat.“
Cynna machte zwei Schritte, als wolle sie auf und ab gehen. Aber es war nicht genug Platz. „Sie hat mich rausgeschmissen, bevor ich sehen konnte, was sie mit Toby gemacht hat. Sie wollte mir wohl keinen Hinweis geben, wie man den Zauber rückgängig machen kann. Aber das andere … das hätte genauso gut ich selber sein können. Es hat sich nicht so angefühlt, als wären es die Hände des Dämons, die Brown gepackt und aus dem Auto gezogen haben. Es waren unsere Hände, die ihn töteten. Wir haben die Tür niedergerissen. Wir waren sauer, als der Tiger uns angegriffen hat, und …“ Sie schluckte und blickte Lily unglücklich an. „Man reitet nicht nur den Körper. Man bekommt auch die Gefühle. Nicht die Gedanken, aber ich habe gefühlt wie der Dämon.“
„Es war nicht dein Wille. Du hattest keine Kontrolle darüber.“
„Ja, der Wille ist wichtig. Das weiß ich, aber …“ Ihr Blick schoss von Toby zu dem Infusionsständer und von dort zum Herzmonitor. „Was hat sie damit bezweckt? Warum hat sie mich gezwungen, zu reiten? Das verstehe ich nicht. Sie hatte keinen Vorteil davon. Eher sogar Nachteile. Ich habe jetzt ihr Muster, ein aktuelles Muster.“
„Vielleicht aus Rache. Oder es war eine Warnung. Ich …“ Lily brach ab. Sie spürte, dass Rule sich näherte. Kurz darauf öffneten sich die Türen zur Intensivstation, und Rule, Cullen und Benedict kamen herein.
Sie sahen alle ein wenig mitgenommen aus.
Cullen humpelte. Benedict hatte eine Platzwunde über einem Auge. Aber Rule sah am schlimmsten aus. Seine Jacke war weg, sein Hemd zerrissen, und er hatte ein Prachtexemplar von einem blauen Auge, das sich bereits grüngelb verfärbte, aber immer noch geschwollen war.
Er kam direkt zu Lily. Eine der Schwestern schoss aus ihrer Station und befahl ihnen, zu gehen – so viele Leute durften sich nicht zur gleichen Zeit auf der Intensivstation aufhalten. Rule schien sie gar nicht zu bemerken, aber Benedict sprach höflich mit ihr.
Rule blieb vor Lily stehen. Lange sahen sie sich einfach nur an und suchten in den Augen des anderen etwas, das zu groß war, als dass sie es in Worte hätten fassen können. Dann zuckte sein Mundwinkel, und dann fielen sie sich in die Arme. Und hielten sich fest.
Benedict sagte ihr, dass sie im Warteraum zu finden wären. Sie nickte, ohne ihre Haltung zu verändern. Rule löste seinen Griff erst ein wenig, als die Türen sich öffneten. Cynna war stehen geblieben und schaute zu ihnen zurück. Und für eine Sekunde las Lily ganz viele verschiedene Gefühle in ihrem Gesicht. Tiefen Kummer. Sehnsucht. Neid.
Dann wandte Cynna sich um. Die Türen schlossen sich, und Rule trat zu Toby ans Bett und nahm die Hand seines Sohnes.
Sie verbrachten noch weitere drei Stunden im Krankenhaus. Toby wurde von der Intensivstation auf die pädiatrische Abteilung verlegt. Er bewegte sich immer noch nicht. Timms Zustand war nun nicht mehr kritisch, sondern stabil. Cynna erzählte ihnen von ihrer Befragung in Chicago und von Jiris anderem Lehrling, Tommy Cordoba; die anderen ihrerseits berichteten ihr von den Ereignissen auf dem Clangut der Leidolf.
Jiri rief nicht an.
Dafür aber Ruben. Die Computer des FBI spielten immer noch verrückt, deswegen konnten sie Cordoba nicht ins System eingeben, aber Ruben versprach, es gleich als Erstes zu erledigen.
Nach einer längeren Diskussion beschlossen sie, dass Benedict die Nachtschicht bei Toby übernehmen sollte. Oder besser gesagt, Benedict beschloss es. Er befahl Rule und Lily, zu gehen und sich auszuruhen. Zu Cynnas Überraschung gehorchten sie auch. Dann mussten sie Cullen fast mit Gewalt aus dem Gebäude zerren. Offenbar fühlte er sich für Timms verantwortlich.
Sie fuhren in ein Hotel in der Nähe des Krankenhauses, wo Rule eine Zweibettsuite für sich, Lily und Cullen mit einem angrenzenden Zimmer für Cynna mietete und Hamburger aufs Zimmer bestellte.
Allerdings hatte keiner von ihnen Hunger. Als das Essen kam, saßen alle außer Cullen um den runden Tisch herum und versuchten, zu essen. Cullen lümmelte sich mit seinem Teller in dem großem Armsessel vor dem Fernseher, ganz in das Programm von CNN oder in seine eigenen Gedanken versunken.
„Aber was heißt das?“, fragte Cynna Rule und zog ein dickes Pommes-frites-Teil durch das Ketchup. „Du hast jetzt die Macht zweier Ämter oder einen Teil von beiden. Wie fühlt sich das an?“
Er machte ein seltsames Gesicht. Als wäre er verblüfft. „Ich kann es nicht beschreiben, aber … es geht mir eigentlich ganz gut.“
Lily verzog das Gesicht. „Das Band der Gefährten hat uns doch nicht geholfen. Ich nehme an, das liegt am Energiewind …“
„Nein“, sagte er. „Es hat geholfen. Und es hilft immer noch. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, aber es hat geholfen, dass die beiden Mächte zusammengefunden haben.“
„Träger zweier Mächte“, murmelte Cullen.
Cynna sah ihn an, überrascht, dass er ihrer Unterhaltung gefolgt war. Er schaute mit gerunzelter Stirn auf den Bildschirm.
„Diese Bezeichnung hat die Rhej gebraucht“, sagte Lily. „Bei ihr hat es sich angehört wie eine Art Titel.“
Cullen sah nicht zu ihnen herüber. „Es stammt aus einer Legende. Einer sehr alten Legende.“
„Ich habe nie davon gehört“, sagte Rule.
„Es ist eine Geschichte, die die Etorri sich erzählen.“
„Was sind Etorri?“, fragte Cynna.
Es folgte eine Stille, als hätte jemand gefurzt und alle täten so, als hätten sie es nicht gehört. Schließlich war es Cullen, der antwortete: „Mein ehemaliger Clan. Der, der mich rausgeschmissen hat.“
„Oh.“
„Im Norden gibt es wieder Strom“, sagte er in dem offensichtlichen Bemühen, das Thema zu wechseln. „Und irgendein Arschloch hat entschieden, dass die Linienflüge wieder starten dürfen.“
„Du denkst, es ist nicht sicher?“
Er schnaubte. „Ich halte es eher für eine Extremlösung gegen die Übervölkerung. Es gibt noch viel zu viel freie Magie, als dass man sich auf Computersysteme verlassen könnte.“
Lily und Rule setzten sich zu ihm vor den Fernseher. Cynna ging auf und ab, aber sie hörte zu. In Houston wüteten die Brände noch immer. Ein Erdbeben in Italien hatte Tausende obdachlos gemacht. Die Kernschmelze in Polen wurde bestätigt, aber die Informationen waren lückenhaft. Die Wall Street sollte am nächsten Morgen wieder öffnen. Und die Telekommunikation war immer noch ein Problem, aber das Festnetz funktionierte besser als die Mobiltelefone.
Jiri hatte Lilys Handynummer.
Cynna konnte nicht stillsitzen. Sie ging auf und ab und machte dann und wann einen Abstecher zu dem Tisch, auf dem ihr Essen stand, um sich Pommes frites zu nehmen. Ihre Haut fühlte sich an, als wäre sie eingelaufen, weil sie sie zu heiß gewaschen hatte. Oder wie die Kleidung aus dem Vorjahr, die sie immer zum Schulbeginn getragen hatte. Als wenn etwas zu reißen drohte, wenn sie sich bücken oder eine falsche Bewegung machen würde.
Schließlich drückte Lily auf die Fernbedienung, und der Bildschirm wurde schwarz. „Jetzt, da wir das Neueste aus der Welt wissen, sollten wir uns wieder dem Nächstliegenden zuwenden. Sortieren wir einmal, was wir wissen und was wir nur vermuten können.“ Sie sah Cynna an. „Wir wissen noch nicht alles über den Überfall.“
„Du willst Einzelheiten? Wer wo geblutet hat?“ Sie kam bei der Wand an. Drehte sich um. Ging weiter.
„Erzähl uns von dem Dämon. Es war kein Rotäugiger wie die anderen. Li Qin sagte, er wäre männlich gewesen.“
„Das ist richtig.“ Cynna versuchte, ihre Nervosität so weit in den Griff zu bekommen, dass sie keinem an die Kehle ging. „Wenn sie jung sind, entscheiden sie sich noch nicht für ein Geschlecht. Dieser hier ist nicht sehr intelligent, aber er ist sehr alt und sehr stark und mächtig. Uns … ihm konnten die Kugeln nichts anhaben. Sie haben wehgetan, aber eher so, als würde er immer wieder von einer Nadel gestochen. Ärgerlich, aber auch nicht mehr. Natürlich hat er nicht seine ganze Masse aus dashtu herausziehen können. Sonst hätte er die Treppe zertrümmert und wäre sie nicht hochgestiegen. Die Älteren sind schwer. Und dicht.“
„Du meinst, ihre Masse ist dicht?“
„Ja.“
„Also reitet sie einen mächtigen Dämon. Was sagt uns das?“
„Sie reitet ihn nicht im eigentlichen Sinne. Sie ist ein Dämonenmeister. Das ist … eine andere Ebene von Kontrolle.“ Und von Verunreinigung.
„Aber was bedeutet das?“
„Dass sie viel zu viel Macht hat und einen alten Dämon, der nicht besonders helle ist und der alles tut, was sie will.“
„Was kannst du uns über sie erzählen?“, fragte Rule.
„Ich habe Lily schon gesagt …“
„Du hast ihr die paar Fakten gegeben, die du hattest. Du hast ihr nicht gesagt, wie Jiri tickt. Was sie will. Sie will etwas. Und zwar unbedingt.“
„Ich weiß es nicht! Mein Gott, wenn das so einfach wäre … Als ich sie kennenlernte, war sie ganz in Ordnung. Nein“, verbesserte sie sich, „sie war gut. Sie war ein guter Mensch. Sie wollte etwas verändern, eine Verbesserung für die Menschen bewirken, die eine Veränderung nötig hatten. Darum ist es der Bewegung gegangen. Zuerst. Natürlich hatten wir eine große Klappe. Wir waren Straßenkinder, wir kannten nichts anderes. Aber wir haben an einem Strang gezogen, um denen, die Hoffnung brauchten, Hoffnung zu geben.“
„Und was ist dann passiert?“
„Dämonen.“ Cynna stieß einen Laut aus, halb Lachen, halb Weinen. „Wenn man sie reitet, fühlt man, was sie fühlen. Sie hat uns gewarnt, uns alle, die sie in ihren … ihren inneren Kreis aufgenommen hat – so würdet ihr es wohl nennen. Sie hat uns ermahnt, vorsichtig zu sein, sonst würden wir nicht mehr unterscheiden können zwischen ihnen und uns. Und genau das ist mit ihr passiert. Ich habe zugesehen, wie diese Grenze in ihr sich immer weiter verwischt hat. Deswegen bin ich gegangen. Ich habe gesehen, wie ich einmal enden würde.“
„Dann müsstest du eigentlich eine Vermutung darüber anstellen können, was sie will“, sagte Rule.
„Dich“, sagte Lily.
„Dann hat sie wohl keinen Erfolg gehabt, oder?“ Bitterkeit lag in seiner Stimme. Er stemmte sich auf die Beine und blieb dann stehen. Er sah aus, als wollte er wieder gegen etwas schlagen.
Lily blieb sitzen. „Du warst nicht da, also hat sie Toby mit einem Zauber belegt. Das ist eine Möglichkeit, um an dich heranzukommen.“
„Verflucht noch mal. Das wäre möglich. Es könnte stimmen. Aber Cynna, es muss doch etwas geben …“
„Rule.“ Cullen schälte sich aus seinem Sessel und stand auf. „Genug jetzt. Es reicht.“
„Schon gut“, sagte Cynna. „Sein Sohn ist in Gefahr, und seine Männer wurden von ihr getötet.“
„Und wenn du etwas tun könntest, um das zu ändern, hättest du es längst getan.“ Er ging zu ihr, seine Miene war ausdruckslos … und das war seltsam. Cullen war immer irgendetwas – freundlich, spöttisch, wütend, belustigt –, irgendeine Empfindung suchte sich immer einen Weg nach draußen. „Hör einfach auf damit, okay?“
„Was?“ Sie versuchte ein Lachen. „Womit soll ich aufhören?“
Er schüttelte ganz leicht den Kopf, nur einmal hin und her. Seine Lippen waren fest aufeinandergepresst, als wäre sie die dümmste Schülerin in der Klasse. „Egal.“ Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie. Lange. Sehr lange.
Gestirne stießen zusammen. Ganze Universen. Neuronen platzten in ihrem Gehirn und starben einen gewaltsamen, aber schönen Tod. Sie saugte seine Zunge in ihren Mund und biss zu.
Irgendwann lösten sich diese wunderbar sinnlichen, begabten Lippen von den ihren. Sie bemerkte, dass ihre Augen geschlossen waren, und überlegte, ob sie sie öffnen sollte. Ihr Körper war ganz eng an seinen gepresst, und er war sehr glücklich darüber.
„Cullen“, sagte Lily scharf. „Ich glaube nicht …“
„Schön zu hören, denn das hier geht dich überhaupt nichts an.“ Sein Blick war heiß, und in dieser Hitze lag auch Wut. „Sie braucht das. Und bei Gott, ich auch.“ Er ließ eine Hand über Cynnas Arm gleiten und nahm ihre Hand. Er zog sie mit einem Ruck mit. „Komm.“
Sie folgte ihm, obwohl es schwer zu sagen war, wer wen zu der Tür ihres Zimmers führte.
„Cynna?“ Das war wieder Lily, sie hörte sich besorgt an.
„Alles in Ordnung“, sagte sie, ohne einen Blick zurückzuwerfen. „Er ist ein Mistkerl, aber er hat recht. Ich habe schließlich keine Kampftherapie bekommen, oder?“
Er zog sie durch die Tür und schloss sie hinter sich.
Das Zimmer war klein, die Wände in einem matten Grün gestrichen, das Bett ein ordentliches Rechteck nur ein paar Schritte entfernt. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Warum packte er sie nicht einfach? Das war es, was sie erwartet hatte – die schnelle Erregung, grobes Zupacken, vielleicht ein paar zerrissene Kleidungsstücke. Das war es, was sie wollte.
Stattdessen legte er die Hände auf ihre Arme. „Sie verstehen es nicht“, sagte er sanft. „Du hast heute das erlebt, wovor du am meisten Angst hast, nicht wahr? Dieses Mal hat der Dämon dich geschluckt.“
„He.“ Sie riss sich los. „Wenn ich hätte reden wollen, wäre ich in dem anderen Zimmer geblieben.“
Er tat so, als hätte er das nicht gehört. „Blut, Sex, Macht. Das ist der Preis, den Dämonen von ihrem Reiter verlangen, nicht wahr, shetanni rakibu? Eines davon oder alle.“
Er wusste zu viel. Deswegen würde sie das hier nicht tun. Jetzt fiel es ihr wieder ein. Sie wollte nicht, dass jemand diese Dinge über sie wusste. Sie tastete nach der Tür.
„Cynna.“ Seine Hand auf ihrem Arm hielt sie zurück. „Du hast nicht bezahlt für den Ritt, also war es nicht deiner. Du hättest ihn nicht abhalten können von dem, was er getan hat. Du hast nicht bezahlt. Du bist nicht dafür verantwortlich.“
Sie erschauderte und fuhr ihn an: „Du kapierst es auch nicht! Es war nicht er, der Freddie gegen die Wand geschmettert hat, sondern wir! Wir haben sein Blut geschlürft, bis sie – der Meister – uns befahl, aufzuhören. Ich habe es alles gespürt, nicht nur das Körperliche, sondern alles, was er gefühlt hat, und er hat es gern getan. Es … es hat sich gut angefühlt!“
„Du hast das gefühlt, was der Dämon gefühlt hat.“ Seine Hände auf ihren Wangen waren weder sanft noch zärtlich. Sie hielten sie fest, zwangen sie, ihn anzusehen. „Aber du hast auch noch etwas anderes gefühlt. Entsetzen … Angst …“
Gott. Oh Gott. Sie kniff die Augen zusammen. „Ich habe es versucht. Ich habe es wirklich versucht.“
„Du hast nicht bezahlt. Du hattest keine Kontrolle, deswegen hättest du nichts daran ändern können.“ Er löste die Hände von ihrem Gesicht und legte sie auf ihre Brüste. „Und jetzt wirst du auch keine Kontrolle haben.“
„Was?“ Sie schlug die Augen auf. „Ich brauche keinen Macho-Scheiß …“
„Doch. Das brauchst du.“ Er strich mit den Daumen über die Spitzen ihrer Brüste. „Was du Kampftherapie genannt hast … Wir haben Rule nicht mit nach draußen genommen, weil wir uns gern schlagen. Wir wollten, dass er die Kontrolle verliert. Kontrolle ist ein zweischneidiges Schwert. In seinem Inneren hat er geblutet, weil er sich zu sehr daran geklammert hat.“
Seine Daumen machten sie schwindelig. Oder lag es an seinen Worten? Sie schüttelte den Kopf. Irgendwo musste ein Fehler in seiner Logik sein.
„Manchmal muss man die Kontrolle verlieren, um sie wiederzubekommen. Und mit mir kannst du dich gehen lassen. Mich kannst du nicht verletzen.“
Erinnerungen stiegen in ihr hoch, so heftig, dass ihr die Kehle eng wurde.
„Auch dich kann man verletzen. Du wirst heilen, aber du kannst verletzt werden.“
Er schüttelte den Kopf. „Nicht von dir. Nicht hier und nicht jetzt. Ich bin viel stärker. Und schneller. Du kannst mich nicht verletzen, und du kannst mich nicht schocken, weiß Gott nicht. Hast du Lust auf ein bisschen Bondage?“
Schnell wie der Blitz packte er ihre Hände und hielt sie mit einer Hand hinter ihrem Rücken fest. Seine andere Hand war mit ihrer Brust beschäftigt. Sie sog scharf den Atem ein. „Nein.“ Ihre Stimme war rau. „Ich will nur ficken. Hart und schnell.“
Wenigstens hielt er jetzt den Mund.
Seine Mund war fordernd, drängend. Er hob sie hoch und trug sie zum Bett, ohne dass sein Mund sich von ihr löste. Dann ließ er sie fallen. Sie prallte auf die Matratze, federte zurück und griff schon nach den Knöpfen ihrer Bluse, bevor sie ruhig dalag.
Schnell und geschickt zog er sich aus, und einen Moment lang durchzuckte sie ein Gefühl des Bedauerns, weil sie es gern gesehen hätte, wie er sich damit Zeit ließ.
Aber nicht heute Abend. Heute Abend wollte sie nicht denken müssen. Sie wollte – sie musste – sich menschlich fühlen und vergessen, was sie als stiller Reiter eines Dämonenkörpers erlebt hatte.
Er kam zu ihr, nackt und hart, was ihre ganze Aufmerksamkeit forderte. Sie musste diesen erstaunlichen Körper anfassen, überall. Sie musste seine Haut schmecken.
Er wollte sie nackt haben. Und er hatte recht. Er war viel stärker als sie, und sie hatte keine Kontrolle.
Knöpfe flogen, als er ihr die Bluse vom Leib riss. Er schob ihren BH hoch und senkte den Kopf, um an ihr zu saugen. Und das fühlte sich gut an, unglaublich. Sie stöhnte, als die Erregung langsam durch ihren Bauch strömte.
Sie griff in sein Haar, damit er dort blieb, aber offenbar wollte er sie quälen, denn er wanderte sofort zu ihrer anderen Brust und dann hinunter zu ihrem Bauchnabel, wo ihr Hosenbund ihn aufhielt.
„Verdammt“, murmelte er. „Du hast ja immer noch etwas an.“
Sie lachte. Aus irgendeinem Grund fand sie seine Bemerkung ungeheuer komisch, und deshalb lachte sie, obwohl sie eben noch geschworen hätte, dass sie nicht dazu imstande war – aber er erstickte das Lachen, indem er seinen Mund auf ihren presste, während seine Hände sich an ihrem BH zu schaffen machten. „Zieh alles aus“, sagte er. „Ich will dich sehen. Du riechst fantastisch, aber ich will dich auch sehen.“
Also schlängelte sie sich aus ihrer Jeans und aus dem Slip, während er ihr zusah. Sein Lächeln verwirrte sie. „Du hast einen unglaublichen Körper, Wonder Woman, aber ich bin kein geduldiger Mann.“ Er kroch auf sie, küsste sie und legte die Hand zwischen ihre Beine. Und er küsste sie immer noch, als er in sie hineinstieß.
Sie spürte ihn bis hinauf zu ihrer Kopfhaut. Es war sehr, sehr lange her, dass ein Mann einfach so in sie eingedrungen war, aber mit einem Lupus brauchte sie kein Kondom. Sie nahm die Pille, und er konnte keine Krankheiten bekommen oder übertragen.
Sie war sicher. Und er war sicher. Es fühlte sich wundervoll an.
Sie grub die Finger in seine Schultern und schob ihm ihre Hüften entgegen, und er gab ihr den schnellen und wilden Ritt, den sie gewollt hatte. Schnell fand jeder von ihnen den Rhythmus des anderen, als wenn sie dies schon ein Dutzend Mal getan hätten, und die Lust schoss wie ein Feuerwerk in ihrem Bauch empor. Ihr Körper brannte, entflammt von der wunderbaren Hitze der Leidenschaft. Als sie spürte, wie sich ihr Höhepunkt näherte, hätte sie beinahe innegehalten, gewartet, damit es nicht aufhörte …
Doch zu spät. Sie bog sich ihm noch einmal entgegen und ließ sich von dem Orgasmus mitreißen, der ihr fast die Sinne raubte.
Aber er machte weiter. „Ich bin … nicht … geduldig“, keuchte er, und er grinste sogar. „Aber ich habe geübt …“ Das unterstrich er mit einem langsamen Stoß, der sie nach Luft schnappen ließ. „Lange geübt.“
In den nächsten Minuten zeigte er ihr, wie gut ein ungeduldiger, aber geübter Mann sein konnte. Als er endlich kam, war sie bei ihrem dritten Höhepunkt. Er lag auf den Knien, ihre Beine über seinen Schultern. Sie hatte das Gefühl, als würde sie gleich zerschmelzen.
Er brach auf ihr zusammen, schwer atmend. Und das war ein schönes Gefühl, dachte sie, als sich ein paar der zerstörten Neuronen regeneriert hatten und sie wieder einen Gedanken fassen konnte. Schön zu wissen, dass auch er erschöpft war. Schön, so nah beieinanderzuliegen, schweißbedeckt und entspannt, die Beine ineinander verschränkt. Sie strich ihm mit der Hand über den Rücken.
Ein Stromschlag ging durch seinen Körper. Er riss den Kopf hoch und starrte sie an. Schockiert? Entsetzt? Irgendetwas Schlimmes musste passiert sein, denn … oh Gott, das waren ja Tränen. Seine Augen füllten sich mit Tränen.
„Was ist los?“, flüsterte sie, voller Angst, weil sie nicht wusste, was denn so Furchtbares geschehen war.
Langsam veränderte sich sein Gesichtsausdruck, obwohl sie ihn immer noch nicht deuten konnte. Er stützte sich auf einen Ellbogen und ließ seine Hand über ihren Körper gleiten. Sein Blick folgte der Bewegung, bis seine Hand auf ihrem Bauch lag. „Dame“, flüsterte er. „Oh Dame. Danke.“
Jetzt wurde ihr mulmig zumute. Es war ihr schon passiert, dass Männer ihr für Sex gedankt hatten, aber noch nie so. „Du machst mir Angst, Cullen.“
„Ich … habe selber Angst.“ Er hob den Kopf, und ihre Blicke trafen sich. Seine Augen schwammen in Tränen. „Du bist schwanger mit meinem Baby.“
Sie hörte die Worte, aber ihr Gehirn weigerte sich, sie zu verarbeiten. Sie ergaben keinen Sinn.
Doch auf einmal begriff sie. „Geh runter von mir.“ Sie schob ihn von sich.
Gehorsam rollte er sich zur Seite und lag einfach nur da und grinste sie an. Überglücklich. Der Mistkerl war glücklich, und sie war … „Du bist verrückt“, sagte sie und kletterte aus dem Bett. Mit zitternden Händen raffte sie ihre Kleider zusammen. „Ich nehme die Pille. Ich bin nicht schwanger, und wenn, dann würdest du es nicht wissen. Nicht …“
„Wir wissen es sofort.“ Er setzte sich auf, und, Herr im Himmel, selbst beim Anblick dieser einfachen Bewegung stockte ihr der Atem. Und er war glücklich, verdammt noch mal. Sehr glücklich.
Sein Glück jagte ihr Angst ein.
„Ich hatte schon aufgegeben“, sagte er. „Vor Jahren schon habe ich aufgehört zu glauben, dass ich jemals … Aber du bist von mir schwanger.“
Sie zuckte zusammen, als es an der Tür klopfte. „Was ist?“, rief sie. „Wir sind beschäftigt.“
Rules Stimme sagte: „Jiri hat angerufen. Wir müssen gehen. Jetzt gleich.“