10

Rule erstarrte vor Entsetzen. Lily stolperte zu Cynna hinüber, die zusammengesunken dalag. Säure ätzte sich durch seine Hüfte und durch seinen Schenkel, ein Schmerz, der schrie Feind und versteck dich, lauf weg, kämpfe

„Mir geht’s gut“, murmelte Cynna. Mit Lilys Hilfe setzte sie sich auf. Vorsichtig schüttelte sie den Kopf, als ob sie sehen wollte, ob er noch fest auf ihrem Körper saß. „Meine Güte, du hast einen ganzen schönen Bumms!“

Er hatte sie geschlagen. Er hatte eine Frau geschlagen.

„Gut, dass du die flache Hand genommen hast und nicht die Faust“, fuhr sie fort, „sonst wäre ich wohl … Rule?“

Er sprang auf die Füße. Das Brennen in seiner Hüfte ließ ihn taumeln. Vielleicht war es aber auch das Schuldgefühl, das es ihm schwer machte, das Gleichgewicht zu halten. Er konnte die Frau, die er geschlagen hatte, nicht ansehen und auch nicht die, die er liebte. Schnell verließ er den Raum.

Aber seinen Ohren war es egal, was er verkraften konnte und was nicht. Sie berichteten ihm weiter. Als er wie blind ins Wohnzimmer ging, hörte er, wie die zwei Frauen miteinander sprachen. Lily fragte, wo Cynna Schmerzen hatte, und Cynna sagte: „Ach geh. Mir tut alles weh, aber es ist nichts gebrochen. Was ihn angeht, bin ich da nicht so sicher.“

Gebrochen. Sie hatte recht. Etwas in ihm war zerbrochen, und er hatte keine Kontrolle mehr darüber.

Hinter ihm trat Lily näher. Ohne ein Wort zu sagen, legte sie die Arme um ihn. Er erstarrte. Er verdiente keinen Trost. Sie ignorierte die unausgesprochene Zurückweisung und legte den Kopf auf seinen nackten Rücken. Und dann tat sie einfach gar nichts.

Ihr Duft stieg ihm süß in die Nase. Er hörte nur ihren Herzschlag und das leise Flüstern ihres Atems. Sie fragte nicht, sie machte ihm keine Vorwürfe oder suchte nach Entschuldigungen. Sie stand einfach nur da und ließ ihren Körper sprechen, ließ ihn Dinge sagen, denen er nicht zugehört hätte, wenn sie sie laut ausgesprochen hätte.

Doch sein Körper hörte zu. „Vor lauter Stolz“, sagte er, obwohl er gar nicht vorgehabt hatte, etwas zu sagen. „Vor lauter Stolz. Ich wollte nicht zugeben, dass ich keine Kontrolle mehr habe. Der Wolf ist jetzt immer ganz oft ganz nah dran, die Kontrolle zu übernehmen. Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass Cynna mir so nah kommt. Ein verwundetes Tier ist gefährlich.“

„Du hast versucht, es zu verhindern. Wir haben dich dazu gezwungen.“

„Weil ich dir nicht gesagt habe, wo das eigentliche Problem liegt.“

Ihr seidiges Haar glitt über seine Haut, als sie nickte. „Ja, du hättest es mir sagen sollen. Aber jetzt hast du es ja getan.“

Etwas in ihm löste sich und gab nach. Er wusste nicht, ob es Akzeptanz war oder Verzweiflung. „Noch Fragen?“

„Ja, viele“, versicherte sie ihm. „Sieh es als Ruhe vor dem Sturm. Das Weihwasser hat mehr Schmerzen verursacht, als Cynna erwartet hat.“

„Ja“, sagte er trocken. Obwohl der erste schrille Schmerz inzwischen zu einem dumpfen Pochen abgeebbt war, tat seine Hüfte jetzt mehr weh als vor der Behandlung. „Wenn wir optimistisch sein wollen, können wir annehmen, das heißt, dass es wirkt.“

„Zum Teufel mit dem Optimismus. Ich will Klarheit.“ Sie fuhr mit der Hand über seine Seite.

Rule spannte sich an. Aber als ihre Fingerspitzen über die Wunde fuhren, spürte er nur Schmerz, einfach nur körperlichen Schmerz. Nicht mehr den instinktiven Drang, sich zu verteidigen, der alle Vernunft auslöschte.

Aber er hätte wissen müssen, dass dieses Mal Instinkt und Vernunft einer Meinung waren. Der Wolf war ebenso an diese Frau gebunden wie der Mensch.

„Auf der Wunde bildet sich Schorf“, sagte sie.

Er hätte größere Erleichterung empfunden, wenn sie froher geklungen hätte. Rule drehte sich um und sah sie an. „Aber …?“

„Die Vergiftung ist noch nicht weg. Das Weihwasser hat sie gemildert. Hat sie verdünnt“, verbesserte sie sich, als wenn durch eine genaue Wortwahl die Gefahr kleiner würde. „Jetzt ist zwar weniger Gewebe infiziert, aber da ist immer noch ein harter Knoten, und … schau mal. Schau dein Bein an, Rule.“

Er tat es. Seine Augenbrauen hoben sich. „Bildet sich etwa eine Narbe?“

„Sieht so aus.“

Über dem größten Teil der Wunde hatte sich Schorf gebildet, obwohl an den tiefsten Stellen immer noch Blut austrat. Dort, wo sie nicht so tief war, an seinem Oberschenkel, hatte die Wunde sich ganz geschlossen … und wurde zu einer dünnen Linie aus glänzender Haut. „Interessant. Ich hatte noch nie eine Narbe.“

„Passt gut zum Machogehabe.“

Sie versuchte, es mit Humor zu nehmen. Er sprang ihr bei. „Fürs Image ist es bestimmt nicht schlecht. Was meinst du? Sollte ich das Angebot von Cosmopolitan annehmen?“

„Was für ein Angebot?“

„Ich glaube, es war was mit nackt auf einem Bärenfell.“

Sie verdrehte die Augen. „Da wir gerade davon sprechen, vielleicht könntest du deine Hose wieder anziehen.“

Er warf einen Blick zur Küche. Auf einmal war ihm nicht mehr nach Scherzen zumute. Er schämte sich und fühlte sich schuldig. „Erst muss ich noch etwas anderes tun.“

„Musst du das nackt tun?“

„Ja, genau.“ Er machte sich sanft von ihr los und ging in die Küche.

Cynna saß am Tisch, presste eine Tüte mit tiefgefrorenen Erbsen auf den Kiefer und kritzelte etwas auf einen Schreibblock. Sie sah hoch. „Wie waren wir? Ist es weg?“

„Es ist schwächer geworden. Noch ein paar Anwendungen, und es wird ganz verschwinden.“

„Ich habe noch mehr. Wir können …“

„Nein, können wir nicht. Jemand anders wird mir die Dosis geben.“ Er kniete sich vor sie hin, senkte den Kopf und schloss die Augen.

„Was tust du da … steh auf, Rule. Rule?“ Sie roch, als wäre sie beunruhigt. Ihre Stimme kippte, als sie den Kopf drehte. „Was tut er da?“

„Es sieht aus, als würde er sich dir unterwerfen“, sagte Lily.

„Cool. Aber absolut nicht notwendig. Rule, steh auf.“

Er sprach leise. „Meine Reue reicht nicht. Meine Entschuldigung reicht nicht. Ich nehme die Strafe, die Wiedergutmachung, die Buße an.“

„Schon verziehen, okay?“ Sie hörte sich panisch an. „Keine Strafe oder Buße oder was.“

„Cynna.“ Das war Lily. „Ich finde auch, dass eine Strafe nicht angebracht ist, weil er sich selber schon genug Vorwürfe macht. Aber du bist katholisch. Du wirst das Bedürfnis nach Buße verstehen. Sein Bedürfnis, nicht deins.“

„Oh.“ Sie holte tief Luft. „Aus meiner Sicht haben wir alle einen Fehler gemacht, nicht nur du, aber ich sehe, dass du nicht vernünftig sein willst. Ich habe bloß keinen blassen Schimmer, was ich tun soll. Ich glaube kaum, dass es hilft, wenn ich dich ein paar Vaterunser aufsagen lasse.“

Er hatte sich wieder einmal von seinem Instinkt leiten lassen. Wenn er nur einen Moment lang nachgedacht hätte, bevor er niedergekniet war, hätte er ihr alles erklären können. Wenn das Ritual einmal begonnen hatte, war es ihm nicht erlaubt, zu sprechen. Aber das war nicht fair gegenüber Cynna, die verständlicherweise verwirrt war.

„Lily“, sagte er. „Ich kann jetzt nicht mit Cynna reden, aber du bist Teil des Clans. Du kannst mit ihr reden, wenn du willst.“

Lilys Stimme war kühl und nachdenklich. „Darf ich dich etwas fragen?“

„Ja.“ Obwohl er vorsichtig sein musste, dass seine Antworten nicht eine bestimmte Reaktion nahelegten.

„Wenn der Rho hier wäre, was würde er tun?“

„Er würde Cynna bitten, genau wie ich, zwischen Strafe, Wiedergutmachung und Buße zu entscheiden.“

„Und wenn sie sich für Buße entscheidet?“

„Dann würde er fragen, ob sie selbst die Art der Buße bestimmen möchte?“

„Und wenn sie das nicht möchte?“

„Wenn die Rhej nicht da wäre, würde er sie herrufen.“ Und das war auch der Grund, erkannte er jetzt, warum sein Instinkt ihm gesagt hatte, er solle das Ritual der Reue ohne weitere Erklärung beginnen. Wie die Rhej war auch Cynna von der Dame auserwählt. Zum ersten Mal hatte er es in ihr gespürt, wie eine leichte Bewegung.

Lily war noch nicht fertig mit Fragen. „Was würde die Rhej tun?“

„Die Buße bestimmen.“

Cynna schnaubte. „Na danke. Die Rhej ist in Kalifornien. Ich weiß, was wir machen. Wir verschieben die Sache mit der Buße, bis sie sich darum kümmern kann.“

Netter Versuch, aber unmöglich. Wenn das Reueritual einmal angefangen hatte, musste es auch zu Ende geführt werden.

„Er bewegt sich nicht“, bemerkte Lily. „Ich fürchte, wir müssen uns etwas einfallen lassen. Soll ich ihn sonst noch etwas fragen?“

„Ich weiß nicht. Mir fällt nichts ein.“ Cynna seufzte. „Das ist wie damals in der Schule, wenn ich aufgerufen wurde und meine Hausaufgaben nicht gemacht hatte.“

Eine Zeit lang sagte niemand etwas. Dann brach Cynna das Schweigen. Ihre Stimme war jetzt nur noch ein Flüstern. Sie hatte sich zu ihm hinuntergebeugt. „Ich glaube, du willst Vergebung, aber von dir selber, nicht von mir. Also musst du es nicht von mir hören.“ Ihre Stimme veränderte sich fast unmerklich. „Also gut.“

Ihre Hand legte sich auf seinen Nacken, warm und trocken. „Einen Monat lang wirst du jeden Tag zehn Minuten lang zum Wolf werden. Währenddessen bleibst du ruhig liegen. Du bewegst dich nicht und denkst an den Mann, der du auch bist. Wenn die zehn Minuten um sind, wirst du dich wieder zurückverwandeln.“

Rule schluckte. Er hatte erwartet … er wusste nicht, was er erwartet hatte. Irgendein Büßergewand wahrscheinlich, das er sich überstreifen musste. Aber das hier traf ihn in seinem Innersten, es rührte an die Ängste, die ihn quälten. Wenn er sich jeden Tag verwandelte, würde der Wolf immer näher kommen. Wenn er es nicht schaffte, die Kontrolle wiederzuerlangen …

Aber er hatte es so gewollt, oder? Er hatte darauf bestanden. „Ich nehme die Buße an.“

Ihre Hand löste sich von seinem Nacken. „Sind wir fertig?“ Cynnas Stimme klang wieder wie immer. „Ich muss jetzt nämlich wirklich los.“

„Wir sind fertig.“ Mit geschmeidigen Bewegungen stand er auf. „Warum hast du ausgerechnet zehn Minuten genommen?“

Sie zuckte die Achseln. „Es hat sich einfach gut angehört.“

„Das ist die kürzeste Zeitspanne, die zwischen zwei Verwandlungen liegen darf.“

„Mist, habe ich etwas falsch gemacht? Ich könnte es …“

„Nein“, sagte er. „Nein. Ich werde es schaffen, mich in dieser Zeit zweimal zu verwandeln.“ Aber die meisten könnten es nicht, und es würde schmerzhaft werden. Es sah so aus, als hätte er schließlich doch noch sein Büßerhemd bekommen. „Du hast meinen Nacken berührt.“

Cynna grinste. „Wenn ich etwas anderes angefasst hätte, hätte Lily mich zerquetscht wie eine Fliege. Und das, ohne sich nachher dafür zu entschuldigen.“

„Das ist Teil des Rituals.“

Ihre Augen weiteten sich, dann runzelte sie die Stirn, und ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen. „Interpretier da bloß nichts hinein. So wie du den Kopf gesenkt hattest, hat es sich angeboten.“

Er lächelte. Cynna wollte nicht glauben, dass sie von der Dame auserwählt war.

Lily tippte ihm auf die Schulter. „Hier.“ Sie hielt ihm seine Hose hin. „Anscheinend bin ich die Einzige, die es stört, dass du nackt herumläufst. Tu es mir zuliebe.“

„Spielverderberin.“ Cynna stopfte ihren Notizblock zurück in ihre riesige Umhängetasche und hängte sie sich über die Schulter. „Ich ruf dann an und sag euch, wo ich untergekommen bin. Ist Nutley in Virginia groß genug für ein Holiday Inn?“

„Nein“, sagte Rule. „Aber Harrisonburg ist ganz in der Nähe. Wer fährt mit dir mit? Abel?“

„Niemand, den du kennst. Und übrigens auch niemand, den ich kenne. Es ist einer von diesen MCD-Typen, die Magie hassen wie die Pest. Er wird mich nicht mögen“, fügte sie hinzu, „aber ich ihn wahrscheinlich auch nicht, also sind wir quitt. Er soll ein guter Schütze sein.“

Rule warf Lily einen scharfen, fragenden Blick zu.

„Die Einheit ist unterbesetzt“, sagte sie. Ihr Geruch bekam eine andere Note, nicht die Schärfe von Angst, sondern eine zartere Mischung, die ihm sagte, dass sie sich sorgte. „Es gibt viel zu erzählen, aber das kann warten, bis Cynna gegangen ist. Gibt es irgendetwas, was sie über den Clan der Leidolf oder über ihren Rho wissen sollte?“

„Die Leidolf sind … ein schwieriges Thema“, sagte er und stieg in seine Hose. Bei der Bewegung spannte sich seine Wunde, aber sie riss nicht auf. „Es ist der größte Clan und der feudalste. Ihr Rho heißt Victor Frey. Er ist groß und blond, sieht ungefähr aus wie sechzig. Klug. Gemein. Unberechenbar. Wenn du mit ihm redest, sei sehr höflich. Victor ist kein Tyrann, der es schätzt, wenn man sich ihm widersetzt.“

Lily schüttelte den Kopf. „Irgendwie ist höflich nicht das Erste, was mir einfällt, wenn ich an Cynna denke.“

„He, ich kann sehr wohl respektvoll sein“, sagte Cynna. „Erst recht, wenn der Sohn von dem Typen gestern Nacht getötet worden ist.“

„Ja, das stimmt.“ Vorsichtig zog Rule den Reißverschluss zu, weil er auf Unterwäsche großzügig verzichtet hatte. „Ich mochte Randall nicht, aber einen solchen Tod hätte ich ihm nicht gewünscht. Und das wirft Probleme auf, Cynna.“ Er sah ihr fest in die Augen. „Es wäre mir lieber, wenn du erst mit Victor reden würdest, wenn Lily und ich nachkommen können. Er kann unberechenbar sein. Ich weiß nicht, wie er ist, wenn er trauert.“

„Wenn er nicht auch noch verrückt ist, und nicht nur klug und gemein, dann wird er sich nicht mit einem FBI-Agenten anlegen. Vielleicht wird er nicht kooperieren, aber eine einstweilige Verfügung wird da schon nachhelfen.“

„Hoffen wir es. Hier.“ Lily warf Cynna einen Schlüsselring zu. „Sei vorsichtig.“

Cynna fing die Schlüssel mit einer Hand. Dann salutierte sie frech und ging.

Rule sah ihr hinterher und wandte sich dann zu Lily hin. Er sah tiefe Ringe unter ihren Augen, aber die Dunkelheit, die er in ihrem Inneren sah, machte ihm mehr Sorgen. Ihr Gesicht war unbewegt, aber sie roch nach Kummer.

Was stimmte nicht? Er tat das Einzige, was ihm einfiel, um ihr zu helfen. „Du willst etwas fragen.“