30
Gott hatte sich einen kleinen Scherz erlaubt. Das nahm Cynna zumindest an. Wie war es sonst zu erklären, dass die Ermittlungen sie ausgerechnet hierhergeführt hatten?
Das Deli war nicht mehr da, stellte sie fest, als sie den rissigen Bürgersteig entlangschlenderte. Der schwere Trenchcoat schlug ihr um die Knöchel. Stattdessen war dort jetzt ein vietnamesischer Schnellimbiss. Aber die Wäscherei gab es noch, und auch das Gebäude sah aus wie immer – alt, schäbig und grau. Alles in dieser Straße war grau. Wenn man hier von Farbe sprach, meinte man entweder Hautfarbe oder Gangs.
Sie sah mehr weiße Gesichter als in ihrer Jugend; endlich erreichte die Integration auch das Ghetto. Als Kind war sie in dieser Gegend etwas Besonderes gewesen. Aber die meisten hatten immer noch braune Haut in den unterschiedlichsten Schattierungen.
Die Straße hatte sich verändert, stellte Cynna fest, aber nicht genug. Sie hoffte, dass das nicht auch auf sie zutraf.
Die Kälte war so schneidend, wie sie es nur in einem Winter in Chicago sein konnte. Komisch eigentlich, denn sie war schon an kälteren Orten gewesen, aber der Winter in Chicago ging einem bis auf die Knochen.
Der dicke Schneematsch machte das Überqueren der Straße zu einem Abenteuer – das Cynna jedoch bestand. Sie schob ihre behandschuhten Hände in die Manteltaschen. Zum einen wegen der Kälte … zum anderen aber auch, um nicht an das kilingo erinnert zu werden, mit dem Jiri eine ihrer Handflächen gezeichnet hatte. Bis jetzt war es noch nicht aktiv, aber das würde nicht so bleiben. Jiri hatte es dort nicht zum Spaß angebracht.
Sie musste es unbedingt loswerden. Doch dazu könnte sie Hilfe gebrauchen, gestand sie sich ein. Cullens Blick, genauer gesagt. Selbst bei einem Zauber, den sie kannte, den sie sich selbst auf die Haut aufgetragen hatte, war das heikel. Und sie hatte keine Ahnung, wie sie einen ihr unbekannten Zauber loswerden sollte.
Sie würde ein wenig Energie in den Zauber fließen lassen müssen, damit er ihn sehen konnte, ganz wenig nur. Das dürfte nicht allzu riskant sein. Ein Zauber, der so komplex war wie dieser, brauchte mehr als nur ein bisschen Energie, um zu wirken. Dann würde er sehen, wie die Magie sich darin bewegte, und sie würden beide gemeinsam herausfinden, wie man ihn rückgängig machen konnte.
Wenn er denn endlich geruhen würde, zu erscheinen.
Sie gab zu, zuerst war sie sauer gewesen, als er so einfach abgehauen war. Rule sagte, sich davonzumachen wäre für Cullen überlebenswichtig gewesen, als er noch ein einsamer Wolf war. Wenn sein Temperament mit ihm durchging, verschwand er sofort, ohne jede weitere Diskussion. Und er kam erst zurück, wenn er sich wieder beruhigt hatte. Jetzt, da er ein Nokolai war, war dieses Verhalten wahrscheinlich nicht mehr vonnöten; wenn man in einem Clan lebte, sah man viele Dinge nicht so eng, aber die Gewohnheit saß tief. Wenn er wütend wurde, zog er sich zurück.
Offenbar hatte er sich nicht abgeregt. Sie allerdings hatte sich damit abgefunden. Sie hätte es besser wissen müssen und sich gar nicht erst aufregen sollen. Gut, sie waren kurz davor gewesen, miteinander zu schlafen, aber was bedeutete das schon? Es konnte schnell gehen, dass man Sex hatte. Es war bis jetzt nur deswegen noch nicht passiert, weil immer etwas dazwischengekommen war, aber es würde passieren. Freundschaft dagegen brauchte Zeit. Erst hatte man Gründe, warum man sich gegenseitig mochte, dann kam Respekt hinzu, und dann ließ man das Ganze köcheln, bis echtes Vertrauen entstand.
Vielleicht würden sie und Cullen es sehr lange köcheln lassen müssen, bevor sie sich vertrauten.
Sie überquerte die Straße. Ein Wagen schoss bei Gelb über die Straße und spritzte sie mit eisigem Schneematsch voll. Automatisch zeigte sie ihm den traditionellen Ein-Finger-Gruß. Hm … Der Fahrer war Chinese. Nein, wahrscheinlich war er Vietnamese; ein paar Einwanderer aus diesem Land waren ein paar Straßen weiter östlich dabei, den Slum bewohnbar zu machen.
Dabei musste sie an Lily denken. Sie fragte sich, was Lily wohl von dem Chicagoer Wetter halten würde. Sie fand es ja schon in D.C. so kalt.
Cynna schnaubte, aber es deprimierte sie, an Lily zu denken, während sie diese Straße hinunterging. Die kleine Geisha war vielleicht in Gegenden wie dieser Streife gegangen, aber sie hatte nie hier leben müssen. Sie war behütet aufgewachsen. Cullen dagegen … sie hatte das Gefühl, dass er in jeder Stadt, in der er je gelebt hatte, die gefährlichen Orte kannte. Als er clanlos gewesen war, hatte er sich ziemlich viel herumgetrieben. Doch sie war sich recht sicher, dass er nicht in so einer Umgebung aufgewachsen war. Lupi ließen ihre Kinder nicht in Armut und ohne Hoffnung aufwachsen.
Cynna warf einen Blick nach links. Drei Blocks weiter, dachte sie. Wenn sie jetzt drei Blocks nach Westen und zwei nach Norden gehen würde, könnte sie das Haus sehen, in dem sie gewohnt hatte.
Na toll.
Die Adresse, die Lily ihr genannt hatte, gehörte zu einem alten Wohnhaus, das sich müde gegen seine Nachbarn lehnte. In dem winzigen Eingangsbereich ließ sie den Blick suchend über die Pappfetzen gleiten, die als Namensschilder dienten.
H. Franklin wohnte im fünften Stock. Das hätte sie sich ja denken können. Da das Gebäude kein wie auch immer geartetes Sicherheitssystem zu haben schien, stieg sie einfach die Treppe hinauf.
Die nackten Birnen, die das Treppenhaus beleuchteten, hatten nur vierzig Watt, und das war auch ganz gut so. Man wollte lieber nicht so genau wissen, worauf man hier trat. In den Ecken sammelte sich der Müll, und die Stufen waren klebrig. Und der Geruch traf sie mitten ins Hirn. Kohl, Urin, verbranntes Fleisch, Zwiebeln. Im zweiten Stock stieg ihr ein Hauch von Haschisch in die Nase.
Wenn man hier wohnte, dachte sie, nahm man die Gerüche nicht mehr so gut wahr. Sie schob ihren Mantel zurück, um falls nötig schnell an ihre Waffe zu kommen. Gewöhnung stumpfte ab. Irgendwie freute es sie, dass ihre Nase den Gestank wieder roch.
Im dritten Stock wurde in schrillem Spanisch gestritten. Im vierten lärmten ein schreiendes Baby und ein lauter Rap auf der einen Seite und ein dröhnender Fernseher auf der anderen um die Wette. Sie hatte den nächsten Treppenaufgang gerade zur Hälfte geschafft, als laute Schritte ankündigten, dass ihr jemand entgegenkam, und zwar ziemlich schnell.
Schnelle schwere Schritte, wahrscheinlich ein Mann. Auf keinen Fall ein Kind. Sie machte ihren Betäubungszauber bereit.
Als er sie sah, blieb er stehen. Es war ein Mann um die vierzig mit mittelbrauner Hautfarbe und lockigem Haar. Wahrscheinlich hatte er einen lateinamerikanischen und einen weißen Elternteil, aber er würde sich wohl als schwarz bezeichnen. Er trug ein Durag, ein hinten gebundenes Rapperkopftuch, eine Jeans, die viel zu groß war für seinen dünnen Hintern, und eine alte Lederjacke über einem schmutzigen T-Shirt. Alles, was er trug, war entweder schwarz oder grau. Keine Farben, auch nicht die Farben einer Gang.
Seine Augen weiteten sich. Da wusste sie Bescheid. Er sah ihr Gesicht mit den Tattoos und hatte Angst. „Hamid Franklin?“, fragte sie und ging eine Stufe weiter auf ihn zu.
„Ich bin tot“, sagte er mit dünner Stimme. „Oh Gott, ich bin ein toter Mann.“
„Cynna Weaver.“ Sie steckte die Hand in die Tasche und zog die Polizeimarke hervor. „Ich bin vom FBI.“
Er sah ihren Ausweis gar nicht erst an, sondern schüttelte nur den Kopf. „Sie sind vom FBI? Na klar, Schwester, und ich bin vom Pentagon. Hören Sie zu.“ Er trat eine Stufe hinunter, mit ausgestreckten Händen, um ihr zu zeigen, dass sie leer waren. „Ich hab nix gesagt. Is mir egal, wenn jemand was andres behauptet, ich hab nix gesagt. Nie. Geben Sie mir ’ne Chance. Sie können mich mit einem Zauber belegen, dann seh’n Sie, dass ich die Wahrheit sag.“
„Ich gehöre nicht zu Jiri“, sagte sie ruhig. „Nicht mehr. Ich bin vom FBI, wie ich schon sagte. Hör zu, Mann, wenn Jiri Sie tot sehen wollte, dann würde sie keine Person schicken. Das sollten Sie doch wissen.“
Für einen Moment war er still, dann nickte er. „Ja. Ja. Sie haben recht. Sie würde einen ihrer Dämonen schicken, oder? Aber Sie … Moment mal. Wie war noch gleich Ihr Name? Cynna? Ich hab von Ihnen gehört.“ Er sah sich um, als würde jemand in dem engen Treppenschacht auf sie lauern. „Sie waren ihr Günstling. Ganz genau. Ist lange her. Sie sind gegangen.“
„Nicht ihr Günstling. Ihr Lehrling. Aber bin gegangen, das stimmt.“
Jetzt, da die Angst schwand, wurde sein Blick trotzig. „Was wollen Sie?“
„Reden wir in Ihrer Wohnung weiter. Sie wollen doch sicher nicht, dass jemand mithört.“
Es erforderte einige Überzeugungsarbeit, aber schließlich gelang es ihr, ihn dazu zu bewegen, die Treppe hinauf- und zurück in seine Wohnung zu gehen. Dort sah es genauso aus, wie sie erwartet hatte: eine Matratze auf dem Boden in der Ecke, überall Fastfood-Behälter und zwei Sessel.
Er bot ihr nicht an, sich zu setzen, was ihr auch ganz recht war. Sie wollte lieber nicht so genau wissen, was das für Flecken auf diesen Sesseln waren und was in den durchgesessenen Polstern lebte. Er war tierisch zappelig. Wahrscheinlich kam er gerade wieder runter von irgendeinem Trip.
Tabak war offenbar eine seiner Drogen. Die Wohnung stank nach Zigaretten, und sobald er drinnen war, steckte er sich eine an. „Ich weiß nix“, sagte er und sog zusammen mit dem Tabak ein wenig Mut ein.
„Noch vor einer Minute haben Sie behauptet, Sie hätten nicht geredet. Worüber könnten Sie denn reden, wenn Sie nichts wissen?“
„Dann bin ich eben paranoid.“ Er atmete schnell aus, um noch einen Zug nehmen zu können. „Ich sehe Sie, und ich denke, Jiri denkt, dass ich was weiß, aber das stimmt nicht.“
Sie musterte ihn. Vielleicht nahm er Drogen und vielleicht war er nicht gerade clean, aber er hielt sich in Form. Schultern und Oberkörper sagten ihr, dass er regelmäßig trainierte. Gut gebaut, dachte sie, und früher hatte er sicher auch ganz hübsch ausgesehen, nicht so verbraucht wie jetzt. Ganz Jiris Typ, und das nicht, um mit ihm zu zaubern.
Lily hatte von ihrem Kontakt nicht viele Informationen bekommen, nur den Namen dieses Typen, dass er ein enger Vertrauter von Jiri gewesen war und wann er die Bewegung ungefähr verlassen hatte. Cynna wagte einen Schuss ins Blaue. „Man hat mir gesagt, dass Sie eine Menge wissen. Sie waren ihr Favorit, oder nicht?“
„’ne Zeitlang.“ Er zog an der Zigarette, als könnte er sie gar nicht schnell genug zu Ende rauchen. „Sie wissen, wie Jiri ist. Sie mag Abwechslung.“
„Trotzdem hat sie Sie ein paar Jahre lang in ihrer Nähe behalten. Bis sie das letzte Mal verschwunden ist. Seitdem wurde sie nicht mehr gesehen.“
„Wer hat das gesagt? Wer hat Ihnen das gesagt?“
„Ich erkläre Ihnen mal, wie das hier läuft: Ich stelle die Fragen. Sie antworten. Waren Sie wütend, als sie Sie wegen einem anderen aus dem Bett geworfen hat?“
„Klar. Haben Sie etwa schon vergessen, dass sie nichts dagegen hat, mehr als einen im Bett zu haben, wenn sie in der Stimmung ist?“
„Aber sie hat Sie rausgeschmissen. Sie sind nicht gegangen, weil Sie bereit waren. Was war los? Hat sie Sie so fertiggemacht, dass Sie keinen mehr hochgekriegt haben?“
„Du Schlampe.“ Er sagte es ohne Groll.
Aber sie wollte, dass er wütend wurde oder Angst bekam oder beides. Bisher hatte sie noch nicht herausgefunden, wo er verwundbar war. „Wer hat Ihren Platz eingenommen?“
Unter seinem Auge zuckte es, nur ganz kurz, wie ein nervöser Tick, aber sie hatte es gesehen. „Woher soll’n ich das wissen? Ich war ja nich da.“
Cynna setzte ihn weiter unter Druck, aber er war zäh. Also änderte sie ihre Taktik und schlenderte durch das schmutzige Zimmer. „Wahrscheinlich werden Sie diese Wohnung nicht sehr vermissen. Haben Sie schon darüber nachgedacht, wo Sie hinwollen?“
Er funkelte sie böse an. „Was meinen Sie? Ich geh nirgends hin.“
„Nein?“ Sie drehte sich mit überraschter Miene zu ihm um. „Und ich dachte, Sie wären jemand, der sich nicht so schnell kleinkriegen lässt. Wollen Sie einfach hierbleiben und darauf warten, dass sie einen von ihren Dämonenfreundchen schickt?“
„Das macht sie nich. Ich hab Ihnen nix gesagt. Weil ich nämlich nix zu sagen hab.“
„Aber ob sie das auch so sieht? Ich meine, Sie wird ja erfahren, dass ich bei Ihnen war. Mein Gesicht wird man kaum verwechseln können. Man hat mich gesehen, wie ich hierhergekommen bin, also …“
„Ich hab Ihnen nix erzählt“, sagte er stur.
„Ja, und wir wissen beide, wem Jiri im Zweifelsfall Glauben schenken wird, oder?“ Sie trat ganz nah an ihn heran und sah ihm in die Augen. Sie waren fast gleich groß. „Sie machen einen Fehler, Hamid, wenn Sie nur darauf schauen, was Jiri macht, und dabei nicht sehen, was direkt vor Ihrer Nase ist.“
„Ach ja? Was denn zum Beispiel?“ Seine Lippen kräuselten sich. „Sie? Sie sind abgehauen. Wie es Ihnen zu gefährlich wurde, haben Sie Schiss gekriegt und sind abgehauen.“
Sie drehte die linke Hand, und das Burger-King-Papier neben seinem Fuß ging in Flammen auf.
Zufrieden sah sie zu, wie er aufjaulte und eine halb volle Literflasche Coke packte, um den Inhalt auf die Flammen zu schütten. Daran hatte sie geübt. Sie war nicht in der Lage, Feuer direkt zu rufen wie Cullen; selbst so ein paar Flämmchen entzogen ihr zu viel Energie, und sie musste einen Zauber benutzen. Aber Feuer beeindruckte die Leute immer wieder.
Hamid lief um sie herum. „Sie sind ja verrückt! Total durchgeknallt!“
Er war wütend, aber jetzt schwitzte er. Sie schlenderte zu ihm hin und trat ganz dicht an ihn heran. „Ich war nicht ihre Favoritin, wie Sie, Hamid. So viel bedeutet Sex ihr nicht. Aber Macht bedeutet ihr viel, und mit mir hat sie einen Teil ihrer Macht abgegeben. Sie hat mir Dinge beigebracht, die sie niemand anderem gezeigt hat. Sie haben recht, ich bin nicht so angsteinflößend wie sie … ich bin hier. Und sie nicht. Ihnen sollte daran gelegen sein, dass ich zufrieden bin.“
„Verdammte Scheiße, Sie wissen, was sie mit mir macht, wenn ich nicht dichthalte.“
„Davon geht sie sowieso aus. Sie können genauso gut reden, es kommt aufs Gleiche raus. Sie kennt mich. Und sie kennt Sie. Sie weiß, wer von uns beiden hier drinnen bekommen hat, was er wollte.“
Als sie das schmutzige Zimmer verließ, hastete Hamid hin und her und raffte eilig seine bescheidenen Habseligkeiten zusammen. Er war so verängstigt, dass er das Geld, das sie ihm gegeben hatte, dafür verwendete, dass er verschwinden konnte, anstatt es sich durch die Nase zu ziehen.
Draußen auf dem Bürgersteig atmete sie tief durch. Gegen die Luft da drinnen rochen selbst Autoabgase gut.
Sie hatte keine Grenzen überschritten, sagte sie sich, um sich selber zu beruhigen. Jemanden zu verbrennen, das war tabu, aber jemanden einschüchtern, das durfte man. Und sie hatte erfahren, was sie hatte wissen wollen, oder nicht?
Laut Hamid hatte Tommy Cordoba erst in Jiris Bett begonnen, aber dann war er Mitglied eines sehr viel exklusiveren Clubs geworden: Sie hatte ihn zu ihrem Lehrling gemacht.
Es war möglich, dass Jiri doch nicht hinter den Morden steckte. Wenn Cordoba genug von ihr gelernt hatte … doch das war unwahrscheinlich, sagte sie sich. Jiri teilte nicht gern. Für Cordoba wäre es nicht leicht gewesen, sich das notwendige Wissen anzueignen, um mehrere Dämonen zugleich mit einem Bann zu belegen. Wahrscheinlicher war, dass Jiri an einem Punkt war, wo sie einen Lehrling brauchte, der einige der niedrigeren Dämonen für sie kontrollierte.
Aber Cynna verließ die Gegend, in der sie aufgewachsen war, nun leichteren Schrittes. Die schwere, feuchte Luft kündigte Schnee an. Sie ging schneller. Bevor die ersten großen Flocken fielen, hatte sie die Kreuzung in Hampstead erreicht. Sie versuchte gerade, ein Taxi heranzuwinken, als ihre Handfläche zu jucken begann. Geistesabwesend zog sie die Hand aus der Tasche und kratzte durch den Handschuh hindurch …
Gott, du Idiot! Ihre Handfläche. Es war die, auf der Jiris Zauber war! Cynna versuchte, einen Schutzzauber durchzuführen, aber es war zu spät. Roter Nebel waberte vor ihren Augen.
Und dann war sie gar nicht mehr da.
„Es müssen fast tausend Leute da sein“, flüsterte Lily.
„Das könnte hinkommen.“ Normalerweise machten große Menschenansammlungen Rule nichts aus, aber inmitten dieser Leute überkam einen Nokolai ein komisches Gefühl. Ganz besonders einen Thronfolger der Nokolai. Ganz besonders wenn, laut Lily, Brady so überaus zufrieden gewesen war, als Rule die Sohnespflicht gegenüber Roland Miller übernommen hatte … und die erste Pflicht, deren Erfüllung Roland von ihm verlangt hatte, war, dass er bei der Gedenkfeier sowohl für seinen als auch Victors Sohn dabei war.
Pauls Gedenkfeier war gut besucht gewesen, aber längst nicht so gut wie diese. Danach hatte ein Grillfest stattgefunden, währenddessen sich Rule, Lily und Cullen ins Haus zurückgezogen hatten. Victor hatte anscheinend in seinem Zimmer gegessen.
Die Gedenkfeier für Randall hatte um ein Uhr begonnen. Da hatten die Leidolf bereits dicht gedrängt auf dem Feld gestanden. Ihr Geruch bewirkte, dass er ganz still dastand.
Lily flüsterte wieder: „Hat der Clan der Leidolf nicht mehr weibliche Mitglieder? Soweit ich sehe, kommen fünf Männer auf eine Frau.“
„Die Frauen kümmern sich um die Kinder“, sagte er trocken und mit gesenkter Stimme. Traditionell versammelten sich zu Zeremonien wie dieser alle Mitglieder eines Clans, auch Frauen und Kinder. Die Leidolf hatten diese Tradition im sechzehnten Jahrhundert abgelegt und ihr Verhalten dem der Menschen angepasst. Tatsächlich stammte vieles, was er an den Leidolf nicht mochte, aus der Kultur der Menschen, und obwohl die menschlichen Normen sich in der Zwischenzeit geändert hatten, hielten sie an ihrem chauvinistischen Verhalten fest.
Aber das musste nicht so bleiben. Ein Clan wurde auch vom Charakter seines Rho geprägt, und Victor war schon sehr lange der Rho der Leidolf.
Erleichtert stellte Rule fest, dass jemand an der östlichen Ecke des Feldes eine Geschichte aus Randalls Jugend erzählte. Das bedeutete, dass die Gedenkfeier sich langsam dem Ende zuneigte. Die Lupi ließen bei den Gedenkfeiern das Leben des Verstorbenen rückwärts Revue passieren. Der Erste, der sprach, war der, der in der Todesstunde dabei gewesen war.
Rule war nicht gebeten worden, zu erzählen, wie Paul gestorben war. Aber Lily.
Es war als Ohrfeige für Rule gedacht, aber wenn das das Schlimmste war, was heute passieren würde, dann konnte er sich glücklich schätzen. Und Lily hatte sich wacker geschlagen. Als sie die erste Aufregung überwunden hatte – sie war es nicht gewöhnt, vor so vielen Leuten zu sprechen –, hatte sie die Situation mit ihrer üblichen pragmatischen Einstellung gemeistert. Die Sitte wollte es, dass die Redner sich nicht auf ein Podium stellten, sondern da, wo sie gerade standen, das Wort ergriffen. Das hatte ihr die Sache möglicherweise erleichtert. Rule hatte ihr gesagt, sie solle so tun, als würde sie einem schwerhörigen Polizeichef Bericht erstatten.
Vielleicht war sie seinem Rat gefolgt. Nach den Maßstäben der Lupi war ihre Erzählung recht karg ausgefallen, aber vielleicht gerade deswegen besonders bewegend. Sie hatte mit den Worten geendet: „Er hat sehr mutig gehandelt. Ich werde ihm immer ein ehrenvolles Andenken bewahren.“
Donner grollte im Osten, noch in einiger Entfernung. Er wandte den Blick und sah Wolken, die sich zu großen Fäusten ballten, die Knöchel blau geschwollen. Ein Blitz zog seine gezackte Linie vom Himmel hinunter zum Boden.
Er warf Lily einen Blick zu. Zu Hause in San Diego war es ein Ereignis, wenn es regnete. Die Leute hörten auf zu arbeiten, um aufgeregt aus dem Fenster zu schauen, über ihren Rasen zu reden und möglicherweise einen Zusammenhang zwischen dem Naturphänomen und dem geheimnisvollen Zeremoniell der Autowäsche herzustellen. Es hatte nicht lange gedauert, bis auch Lily diese Haltung angenommen hatte. Genau wie ihre Katze fühlte sie sich persönlich beleidigt, wenn es so viel regnete.
Hinter sich hörte er Benedicts dunkle, raue Stimme. Er redete so leise mit seiner inneren Stimme, dass der nächststehende Leidolf ihn nicht hören konnte: Brady kommt auf uns zu. Er nähert sich dir von hinten.
Da Benedict sich, entgegen allen Regeln, Rücken an Rücken mit ihm gestellt hatte, gab er ihm Deckung. Sieht er dich?, fragte Rule auf dieselbe Weise.
Ja.
Er wird wahrscheinlich nichts versuchen. Cullen …
Ich habe euch gehört, sagte Cullen. Hoffen wir, dass er doch etwas versucht.
Du bist verrückt. Rule beließ es dabei, aber das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war, dass Cullen und Brady sich gegenseitig an die Gurgel gingen. Eigentlich wollte er, dass Cullen in ihrem Zimmer blieb, weil er wusste, dass die Menschenmenge und das lange Stillstehen die Geduld seines Freundes zu sehr strapazieren würden. Aber Cullen war fest entschlossen, seinen Schutz zu übernehmen.
Als ob ein Mann allein, selbst wenn er ein Lupus oder ein Zauberer war, tausend Lupi aufhalten könnte, wenn diese entschieden hatten, dass der Clan der Nokolai auch gut ohne seinen Thronfolger auskäme.
Und diese Vorstellung war krank, und außerdem noch dumm. Die Mehrheit der Leidolf war ehrenhaft. Er war von ihrem Rho als Gast empfangen worden, und sein Gelöbnis gegenüber Pauls Vater machte ihn zu einem Leidolf ad littera für die Dauer der Zeremonie. Ad littera war selbstverständlich nur eine rechtliche Fiktion, wie ein Unternehmen, das vor dem Gesetz als Person angesehen wird, aber er war Gast und für die nächsten Stunden oder so – das würde sicher bald ein Ende haben – ad littera. Gefahr drohte ihm nur von Typen wie Brady. Von den wandelnden Zeitbomben, nicht vom ganzen Clan.
Der Redner hatte geendet. Einen Moment lang herrschte Stille, dann ertönte Victors Stimme. Er stand selbstverständlich in der Mitte der Lichtung, zusammen mit der Rhej und zweien seiner Räte. „Ich danke allen, die das Leben meines Sohnes mit mir geteilt haben. Ich danke denen, die heute ihre Erinnerungen an ihn mit uns geteilt haben. Wir erinnern uns.“
„Wir erinnern uns“, kam es aus tausend Kehlen zurück.
„Als Randall getötet wurde, haben wir nicht nur einen Freund, einen Sohn und einen Geliebten verloren“, fuhr Victor fort. „Wir haben auch unseren Lu Nuncio verloren und unseren Thronfolger. Ich rufe die Ernennung aus.“
Eine weibliche Stimme erklang, es war die Stimme der Rhej. „Wann wirst du die Ernennung ausrufen?“
„Jetzt.“
Eben noch war Rule gelangweilt und nervös gewesen, jetzt wagte er kaum zu atmen. Überall riefen die Leute durcheinander.
„Rule.“ Lily sprach immer noch leise, aber sie flüsterte nicht mehr. „Was hat er vor? Was hat das zu bedeuten?“
Er sah nur zwei Möglichkeiten. Entweder hoffte Victor, Bradys Ernennung sofort durchzudrücken, ohne dem Clan die Gelegenheit zu einer ordentlichen Herausforderung zu geben … oder er hatte nicht mehr lange zu leben.
Doch das konnte er mitten in dieser Menge nicht laut sagen. „Ich weiß es nicht. Lass uns weiter an den Rand gehen … nur zur Sicherheit.“ Vielleicht war es seine leichte Klaustrophobie, vielleicht war es auch sein Bauchgefühl, aber er hatte das dringende Bedürfnis, von hier wegzukommen. Er ergriff ihre Hand, wechselte einen Blick mit Cullen und deutete mit dem Kopf auf die Straße.
„Rule“, sagte Benedict.
Rule, der sich gerade an den beiden Männern neben ihm vorbeischob, blieb stehen. Benedict nickte in eine Richtung, um seine Aufmerksamkeit dorthin zu lenken.
In drei Metern Entfernung stand Brady. Nur wenige Leute waren noch zwischen ihnen. Sein Grinsen war triumphierend. Er hatte eine Waffe in der Hand. „Geh noch nicht“, sagte er. „Die Party hat doch gerade erst angefangen.“