11

„Die können warten. Ich muss dir unbedingt von dem Meeting erzählen.“ Lilys Brust fühlte sich an, als müsse sie bersten, als würde sich hinter ihren Rippen ein Sturm zusammenbrauen, ein Wolkenbruch aus Worten, der jeden Augenblick niedergehen konnte. Doch sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Fragen sollte.

Irgendetwas über den Wolf …

Rules Augen waren dunkel und ernst. Und obwohl er Mensch blieb, obwohl sein Gesicht, seine Gestalt und seine Stimme ruhig waren, war etwas Wildes in ihm. Fast meinte sie einen flüchtigen Blick auf den Wolf zu erhaschen, der sich hinter Knochen und Sehnen versteckte, so wie ein Wolf in der Wildnis aus dem Gebüsch hervorlugte.

Sah sie ihn anders, weil er zugegeben hatte, dass sein Wolf nah war? Oder hatte sich etwas in ihr verändert?

Seine Worte waren ganz nüchtern. „Cynna nimmt deinen Wagen?“

„Ihrer hat eine Panne, und sie muss so schnell wie möglich nach Nutley.“ Obwohl das im Moment weniger dringend schien als das, was sich in ihrer Brust zusammenbraute, wusste sie nicht, was sie sonst sagen sollte. Hilf mir? Ich habe nicht das gesagt, was ich sagen wollte, und jetzt schwellen die Worte in meinem Inneren an.

„Sag es mir.“ Er war sehr sanft, als wüsste er von dem drohenden Ausbruch und als wäre ihm so ein Ausbruch lieber als Fakten.

Aber sie hatte nur Fakten. „Die Energiewelle gestern Nacht war kein lokales Phänomen. Das Gleiche ist überall auf der Welt passiert, und es hatte alle möglichen Probleme und merkwürdigen Erscheinungen zur Folge. Wie ich eben schon sagte, ist die Einheit unterbesetzt. In Missouri sind Gnomen aufgetaucht, in Tennessee Heinzelmännchen und in Vermont vielleicht ein Golem. In Texas wird ein Schulbus vermisst. Und natürlich gibt es noch ein paar Dämonen zu jagen.“

„Deswegen fährt Cynna nach Nutley mit jemandem, den sie nicht kennt. Es gibt keinen aus der Einheit, der mitfahren könnte.“

„Ja. Ruben hat eine Task Force zusammengestellt, die eine Erklärung suchen und die Folgen abschätzen soll. Er glaubt, dass es wieder passieren wird. Dass sich etwas Grundlegendes geändert hat.“

Er schaute sie lange an, die dunklen Striche seiner Brauen nachdenklich zusammengezogen. Endlich sagte er: „Hast du etwas gegessen?“

Da erzählte sie ihm, dass eine Katastrophe über ihre Welt hereinzubrechen drohte, und er wollte wissen, ob sie zu Mittag gegessen hatte? „Ich habe keinen Hunger.“

„Eine Heilung verbrennt sehr viele Kalorien. Ich muss etwas essen, auch wenn du nicht hungrig bist. Ich mache uns ein paar Sandwiches. Du kannst ja weiterreden.“ Er ging zum Kühlschrank und begann, die Zutaten herauszuholen. „Extra, extra, extra viel saure Gurken, stimmt’s?“

„Du machst mir ein Sandwich, ob ich will oder nicht, hab ich recht?“

Er lächelte sie über die Schulter hinweg an. „Natürlich.“

Als sie dieses Lächeln sah, wurde ihre Kehle auf einmal frei, und die Worte begannen zu fließen. „Ich habe die Gurken vermisst.“

Rule sah sie verwirrt war.

„Nicht … ich. Mein anderes Ich, das Ich, das bei dir war, als du ein Wolf warst. Ich … ich glaube, sie hat versucht, mir etwas zu sagen. Oder vielleicht …“ Etwas über den Wolf. „Sie muss dir etwas sagen.“

Rule kam zu ihr herüber und legte ihr die Hände auf die Schultern. „Sie und du, ihr seid ein und dieselbe Person.“

„Irgendwie schon.“ Dieselbe Seele, andere Erinnerungen. „Ich kriege es nicht richtig zu fassen, aber es kommt mir vor, als wäre es wichtig. Wenn …“

Es klingelte an der Tür.

„Ich mache auf.“

„Lily …“

„Ich mache auf“, wiederholte sie. Und floh zur Eingangstür.

Jetzt war das Haus ihr vertraut. Sie wusste, wo was war, und fand sich auch im Dunkeln zurecht. Meistens war sie froh, dass sie hier war, statt in einem langweiligen und überfüllten Hotel. Und manchmal war ihr, als würde das Haus ihr die Luft abschnüren.

Die Zimmer waren einfach zu vollgestopft. Zwar mit wunderschönen Dingen, ohne Zweifel: einer Truhe aus der Zeit Jakobs I. im Eingang, einem Esstisch, dessen dunkles Holz unter einem Kristallleuchter schimmerte, zwei Queen-Anne-Sesseln und einem vornehmen Sofa. Teure Drucke hingen an den Wänden. Überall standen elegante Nippessachen herum, Seidenblumen, ledergebundene Bücher, Kerzenhalter und Krimskrams aus Messing und Kristall.

Ihre Mutter würde sich hier wohlfühlen.

Als Lily durch das Esszimmer ging, widerstand sie dem Drang, mit dem Arm über die Anrichte zu wischen und die Kristallkaraffe zusammen mit den glänzenden Gläsern auf dem Silbertablett auf den Boden zu fegen.

Weniger Zeug, dachte sie. Mehr Pflanzen. Sie sehnte sich nach einer weißen Wand und nach dem Geruch des Meeres in der Luft.

Hatte sie Heimweh?

Vielleicht wollte sie zu Hause sein und sich die Decke über den Kopf ziehen und sich vor den Monstern, vor der Verantwortung und vor der Veränderung verstecken. Mit einer Decke über dem Kopf war das Leben ganz einfach.

Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um durch den Spion in der Tür zu schauen. Der, der ihn angebracht hatte, war davon ausgegangen, dass die ganze Welt mindestens einen Meter siebenundsechzig groß war.

Als sie hindurchsah, prallte sie überrascht zurück.

Die Alarmanlage war immer noch ausgeschaltet. Sie schloss die Tür auf, zog sie auf und erlebte eine zweite Überraschung.

Die zwei Personen vor ihrer Tür hatten offenbar vor, eine Weile zu bleiben. Jede von ihnen hatte eine große Reisetasche dabei. Die Person, die sie durch den Spion gesehen hatte, war ein mittelgroßer Mann mit hellbraunem Haar. So weit sah er ganz normal aus. Ansonsten war er alles andere als normal, er war nämlich atemberaubend, umwerfend toll – der schönste Mann, den sie je kennengelernt hatte.

Cullen Seabourne lächelte sie an. „Hallo, Schätzchen. Sieh mal, was ich gefunden habe.“

Die andere Person auf ihrer Türschwelle war viel kleiner als Cullen, zu klein, als dass sie ihn durch den Spion hätte sehen können. Er war niedlich, nicht sexy, und sein Lächeln hatte nicht das großspurige Selbstvertrauen Cullens.

Er war acht Jahre alt.

„Hi, Lily“, sagte Toby, und seine Stimme war genauso unsicher wie sein Lächeln. „Ist mein Dad zu Hause?“

Bisher hatte Tobys Befragung nicht mehr erbracht als das, was schon Cullen herausgefunden hatte.

Rule und Lily saßen am Küchentisch, zusammen mit Rules erstaunlichem Sohn. Dirty Harry hatte seinen fetten Hintern neben Cullen platziert, der es übernommen hatte, den Braten für die Sandwiches aufzuschneiden.

„Es war ganz leicht.“ Mit seinem entschlossenen Kinn sah Toby einen Augenblick lang aus wie eine Miniaturausgabe seines Großvaters. „Ich bin einfach ins Internet gegangen und habe einen Flug gebucht. Da gibt es ein Kästchen, das man ankreuzen muss, wenn man minderjährig ist, und das habe ich getan.“

„Wie beunruhigend“, murmelte Cullen. Toby glich Rule so sehr, und Rule glich seinem eigenen Vater so wenig, dass ihm die Ähnlichkeit noch nie aufgefallen war. Es lag mehr am Ausdruck als am Knochenbau, vermutete er. Und am Geruch. Keine Frage: Toby war dominant.

„Was?“, blaffte Rule.

Cullen stellte das Untier zu seinen Füßen mit einem weiteren Stück Braten ruhig und zeigte dann mit dem Messer auf Toby. „Guck ihn dir doch an. Siehst du nicht, wie Isens geisterhaftes Bild über seinem jungen, engelsgleichen Gesicht schwebt?“

Toby tat es den Erwachsenen gleich und sah Cullen missbilligend an. „Mein Großvater ist kein Geist.“

„Das ist eine Metapher.“ Cullen widmete sich wieder dem Schneidebrett, um das Messer durch eine Tomate sausen zu lassen, sodass ein sauberes Häuflein Scheiben zurückblieb. „Das heißt, man sagt, dass ein Ding etwas anderes ist, als es eigentlich ist, zur Veranschaulichung. Wie wenn du sagst, dass es schüttet wie aus Eimern, wenn doch nur ganz normale Wassertropfen vom Himmel fallen.“

„Aber warum ist es beunruhigend, wenn ich aussehe wie Großvater?“

„Als die Dickköpfigkeit verteilt wurde, hat sich Isen zweimal angestellt.“ Cullen verteilte Tomatenscheiben auf dem Fleisch, das bereits auf den Brötchen lag. „Und ich glaube, du hast es genauso gemacht.“

„Wir kommen vom eigentlichen Thema ab“, sagte Rule. „Wie hast du den Flug gebucht, Toby? Ich kenne keine Bank, die Kreditkarten auf Kinder ausstellt.“

Toby sah zu Boden. „Ich habe deine benutzt“, gab er zu. „Die Nummern, die draufstehen. Die hatte ich, weil … erinnerst du dich, wie du mir erlaubt hast, die Musik zu bestellen?“

„Ich verstehe.“ Rules Stimme war vollkommen ruhig. „Vor zwei Monaten hast du dir meine Kreditkartennummer gemerkt, damit du sie wieder benutzen kannst, ohne meine Erlaubnis.“

„Nein!“ Toby setzte sich aufrecht hin. „Ich habe nicht … ich meine, der Computer hatte die Nummer gespeichert. Ich wusste nicht, dass ich sie noch einmal brauchen würde. Ich meine“, sagte er wieder und verbesserte sich gewissenhaft, „ich hatte nicht vor, etwas Verbotenes zu tun. Aber ich musste es tun.“

„Was uns zu unserer ursprünglichen Frage zurückbringt“, sagte Lily sanft. „Warum?“

Toby zuckte mit den Achseln, trat gegen das Tischbein und sah keinen von ihnen an.

Armer Junge. War es denn nicht offensichtlich, warum? Cullen nahm zwei Teller und kam an den Tisch. „Meine Mutter und ich sind gut miteinander ausgekommen“, sagte er. „Es war mein Vater, der nicht klarkam damit, was ich war.“

Toby wandte ihm sein ernstes Gesicht zu. „Aber dein Vater war ein Lupus! Er wusste, was du warst.“

„Er war kein Zauberer. Oder ein Hexer, so wie meine Mutter. Meine Mutter war nicht gerade begeistert, als ich aus Versehen etwas abgefackelt habe. Meine Gabe war stärker als meine Fähigkeit, sie zu kontrollieren, als ich jung war, aber sie hat nicht gedacht, dass ich ein totaler Freak bin, weil ich Magie sehen konnte.“ Er stellte einen der Teller vor Toby ab. „Mein Vater konnte damit nicht umgehen.“

Tobys dunkle Augen waren fest auf Cullens Gesicht gerichtet. „Hat dein Vater dich nicht gemocht?“

„Er hat mir nicht getraut.“ Er sagte es so, als würde es ihm nichts ausmachen. Dabei schnürte ihm die nackte Wahrheit auch nach all den Jahren noch die Kehle zu. „Ich hatte eine Kraft, die er nicht verstand. Er dachte, ich sollte sie aufgeben, damit ich in diese Welt passe. Aber das konnte ich nicht.“

Lily und Rule tauschten einen Blick.

Das Telefon klingelte. „Das ist wahrscheinlich deine Großmutter“, sagte Rule und stand auf.

Mrs Asteglio war nicht zu Hause gewesen, als Rule angerufen hatte, aber das hatte niemanden überrascht. Sie ging nicht davon aus, dass ihr Enkel vermisst wurde; sie dachte, er wäre nach D.C. geflogen, um das Weihnachtsfest mit seinem Vater zu verbringen. Was ja auch stimmte. Sie wusste nur nicht, dass es allein Tobys Werk war, nicht Rules.

Eigentlich keine schlechte Leistung, dachte Cullen, als er zwei weitere Teller vor Menschen stellte, die keinerlei Interesse hatten, etwas zu essen. Der Junge hatte ungeahnte Talente.

Toby schob die Unterlippe vor. Er klappte das Brötchen auf und widmete seine ganze Aufmerksamkeit den Tomatenscheiben, die er nun wieder entfernte, nachdem Cullen sie eben draufgetan hatte. „Sie wird ganz schön sauer sein. Ich verstehe nicht, warum ich ihr nicht einfach sagen kann, dass du mich bei dir haben willst.“

Rule hielt mitten im Schritt inne, fuhr herum und ließ sich vor seinem Sohn auf ein Knie sinken, sodass ihre Gesichter auf gleicher Höhe waren. „Ich will dich bei mir haben.“ Seine Stimme war leise und eindringlich „Ich wollte dich immer bei mir haben. Das weißt du.“

Lily betrachtete die beiden und ging zum Telefon, um abzunehmen. „Hallo? Ja, Mrs Asteglio, er ist gut bei uns angekommen. Das Problem ist, dass wir nicht wussten, dass er kommen würde.“

Cullen trug seinen eigenen Teller zum Tisch und lauschte beiden Gesprächen – Lily, die der Großmutter erklärte, dass sie Toby nicht hatten herkommen lassen, und Rule, der seinem Sohn den Unterschied erklärte zwischen dem Wunsch, ihn hierzuhaben, und der Erlaubnis, in Eigeninitiative einfach aufzutauchen. Der Junge hatte Eigeninitiative gezeigt, daran bestand kein Zweifel. Cullen biss in sein Sandwich. Toby hatte sein Abenteuer gut geplant, bis hin zu dem Moment, als die Stewardess erwartete, ihn einem wartenden Elternteil zu übergeben. Der ganze Schwindel wäre aufgeflogen, wenn Cullens Maschine nicht genau kurz vor Tobys Maschine gelandet wäre, sodass Cullen genug Zeit hatte, es in die Halle zu schaffen und dort eine vertraute Stimme zu hören.

Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit?, dachte er und nahm einen weiteren Bissen. Dann legte er sein Sandwich weg und kniff nachdenklich die Augen zusammen.

Zufälle gab es immer wieder. Man traf jemanden aus seiner Heimatstadt, obwohl man tausend Kilometer weit weg war, oder man stand in einer Schlange hinter jemandem, der den gleichen Nachnamen hatte. Statistiker hatten ihre eigenen magischen Rituale, um zu beweisen, dass diese Ereignisse weniger bemerkenswert waren, als es den Anschein hatte. In einem Land mit zweihundertachtzig Millionen Einwohnern geschah zweihundertachtzigmal am Tag etwas, das eine Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Million hatte.

Aber trotzdem war die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass man an einem Flughafen weit weg von zu Hause eine ganz bestimmte Person zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt traf.

Cullen betrachtete Toby genauer.

Nein, das war es nicht. Die Aura des Jungen sah genauso aus wie immer, die Magie war vielleicht ein bisschen stärker, aber das war zu erwarten gewesen, als er größer wurde.

Es war ohnehin eine verrückte Idee gewesen. Die Gabe, Muster zu sichten, war verdammt selten, und soweit Cullen wusste, war er der einzige Lupus auf der Welt, der eine Gabe hatte.

Lily versprach, Mrs Asteglio zurückzurufen, und legte auf. Rule hob eine Augenbraue und fragte, was sie erfahren hatte.

„Sie ist natürlich verärgert.“ Lily hatte ein sachliches Gesicht aufgesetzt, in dem keine Gefühle zu lesen waren. „Wir sollen sie zurückrufen, wenn wir entschieden haben, was wir tun wollen, damit sie ihre Pläne ändern kann, wenn nötig.“

Rules Augenbrauen trafen sich über der Nasenwurzel. „Welche Pläne?“

„Tobys Mutter ist in das Beiruter Büro ihres Nachrichtendienstes versetzt worden. Sie ist gestern abgeflogen, deshalb wird sie nicht rechtzeitig zu Weihnachten zurück sein. Mrs Asteglio hatte vor, Weihnachten bei ihrem Sohn und seiner Familie in Memphis zu verbringen. Toby …“, sie warf ihm einen Blick zu, „war dagegen. Sie hatte gedacht, er hätte sich mit dir in Verbindung gesetzt und du hättest ihm den Flug gebucht.“

Eine kurze Stille trat ein. Rule sah Toby an. „Ich verstehe, dass du enttäuscht warst, weil deine Mutter zum Weihnachtsfest nicht zu Hause sein kann. Aber du hast mich nicht angerufen. Warum nicht?“

Toby studierte eingehend seine Schuhe. „Keine Ahnung.“

„Du weißt, dass ich es riechen kann, wenn du lügst.“

Als Toby den Blick hob, fühlte sich Cullen von seiner trotzigen Miene an ein Maultier erinnert oder an Tobys Großvater. „Grammy sagt, dass Mom mich liebt, aber das stimmt nicht. Sie will mich nicht bei sich haben, weil ich ein Lupus bin. Ich will bei dir leben.“

„Toby.“ In Rules Stimme schwang hilfloser Schmerz mit. „Deine Mutter hat mehrmals das gemeinsame Sorgerecht abgelehnt, und noch viel weniger wollte sie es an mich abtreten. Um das zu ändern, müssten wir vor Gericht gehen, und ich bin in keiner guten Position, um zu gewinnen.“

„Du glaubst, der Richter wird dich nicht mögen, weil du ein Lupus bist, aber ich bin doch auch einer.“

„Und das würde öffentlich werden, wenn ich das Sorgerecht beantragen würde.“

„Das ist mir egal! Du liebst mich. Sie nicht. Und das könnten wir dem Richter auch beweisen, weil du viel mehr Zeit mit mir verbringst als sie. Und ich weiß, dass du manchmal wegmusst, aber während der Schulzeit könnte ich bei Großvater auf dem Clangut wohnen, dann kannst du dich um die Clangeschäfte kümmern.“

„Und was ist mit deiner Grammy?“, fragte Lily sanft. „Sie liebt dich.“

Toby schob trotzig die Unterlippe vor. „Sie könnte auch auf das Clangut kommen.“

Oh ja, das war sehr wahrscheinlich. Cullen hatte die Frau erst einmal getroffen, aber das hatte gereicht, um zu wissen, dass sie Lupi genauso wenig mochte wie ihre Tochter. Doch der Junge schien ihr tatsächlich am Herzen zu liegen, was sie sicher in schwere innere Konflikte stürzte, und das war wohlverdient seiner Meinung nach.

Rule seufzte und stand auf. „Wir werden jetzt keine Lösung finden, und in Anbetracht der Lage kann Toby genauso gut eine Weile hierbleiben. Die Bodyguards werden bald kommen.“

„Oh Gott, ich habe nicht …“ Lily brach ab und verkniff sich, was sie gerade hatte sagen wollen. Sie und Rule tauschten noch einen Blick.

„Gut möglich“, sagte er, als wenn sie die Frage laut gestellt hätte. „Sie ist weiß Gott zu jeder Untat fähig.“

Cullen hob die Brauen. „Ich fühle mich jämmerlich uninformiert.“

„Später“, sagte Rule knapp. Er sah hinunter auf seinen Sohn. „Wir müssen uns erst um ein Disziplinproblem innerhalb des Clans kümmern.“

Lily schüttelte den Kopf. „Hier geht es nicht um den Clan.“

Cullen ahnte, dass sie Schwierigkeiten machen würde. Er stand auf und ging zu ihr hin.

Rule hatte den Blick immer noch fest auf seinen Sohn gerichtet. „Doch, und Toby weiß das auch.“ Sein Ton war jetzt hart, so hart, wie der seines eigenen Vaters gewesen wäre. „Du bist hierhergekommen, weil du gehofft hast, dass du mich damit zum Handeln zwingst.“

Toby ließ den Kopf sinken. „Ich … ich glaube, schon.“

„Als du meine Kreditkarte ohne meine Erlaubnis benutzt hast, hast du Diebstahl begangen. Du hast denen, die für dich verantwortlich sind, nicht gehorcht und hast sie getäuscht. Du verstehst, dass dein Handeln Folgen hat.“

Toby nickte einmal schwach.

„Knie dich hin.“

„Moment!“, brach es aus Lily heraus. „Er ist …“

„Lily.“ Cullen nahm ihren Arm. „Sei still.“

Sie fuhr ihn an: „Er ist doch noch ein kleiner Junge!“

„Ja“, sagte Cullen sanft. „Ein kleiner Junge, der in fünf Jahren in der Lage sein wird, anderen die Kehle herauszureißen. Der manchmal tatsächlich Kehlen herausreißen will, auch die von seinem Vater. Die Pubertät ist schwer für alle. Für einen Lupus birgt sie Gefahren, die du nicht verstehst.“

Lily öffnete den Mund. Dann schloss sie ihn wieder. Stirnrunzelnd betrachtete sie Rule, der seinen Sohn immer noch fest im Blick hatte.

Cullen nahm seinen Teller. „Komm“, sagte er. „Wir müssen uns darüber unterhalten, was mich zu euch geführt hat.“ Und Toby braucht keine Zuschauer.

Im Wohnzimmer ließ sich Cullen auf die Couch fallen, ein unbequemes viktorianisches Teil mit geschwungener Lehne und zu vielen Kissen, und zeigte mit dem Finger auf den bemalten Schrank in der Ecke. „Ist da ein Fernseher drin?“

Lily starrte ihn an. „Du willst jetzt fernsehen?“

„Nein, ich will ein bisschen Geräusch. Tobys Gehör ist noch nicht voll entwickelt, aber das Haus ist nicht groß. Von der Küche aus kann er uns wahrscheinlich hören.“

Lily stakste zum Couchtisch, nahm die Fernbedienung und streckte den Arm aus. Ein schnelles Gitarrenarpeggio strömte aus dem Schrank – spanischer Flamenco, dachte er und biss in sein Sandwich. Entweder war der Kanal auf eine Radiostation geschaltet, oder Rule hatte einen CD-Spieler anstatt eines Fernsehers installiert. Egal, es würde genügen.

Lily durchmaß den Raum mit langen Schritten und drehte sich dann um. „Diese Hexe.“

Er hätte nicht gedacht, dass sie dieses Thema als Erstes anschneiden würde. „Wer denn?“

„Alicia. Tobys Mutter.“ Sie ging auf und ab. „Vor zwei Wochen hat Rule Tobys Mutter gefragt, ob er Weihnachten mit uns verbringen kann. Sie hat jedes Gespräch darüber abgelehnt, sich aber offenbar in keiner Weise verpflichtet gefühlt, das Fest zusammen mit ihm zu verbringen.“

Er zuckte die Achseln. „Alicia hätte nie Mutter werden sollen. Sie hatte es nicht geplant, und ich halte ihr zugute, dass sie ihrer Mutter die Erziehung überlässt, anstatt selber an ihm herumzupfuschen.“

„Sie hätte ihn bei seinem Vater lassen können.“

Lilys heftiger Ausbruch weckte seine Neugier. Er hatte angenommen, dass sie an Mutterschaft genauso wenig interessiert war wie Alicia. „Ist es das, was du willst?“

Sie winkte ab. „Wir reden hier davon, was Toby will. Was er braucht. Alicia scheint das wenig zu kümmern.“

„Bleiben wir fair. Alicia denkt, dass es das Beste für Toby ist, wenn sie ihn unseren Perversionen so wenig wie möglich aussetzt. Wenn ihre Mutter nicht darauf bestanden hätte, dass Toby Zeit mit seinem Vater verbringen darf, würde er noch nicht einmal die Erlaubnis für die kurzen Besuche bekommen, die er jetzt machen kann.“

„Alicia mag keine Lupi, aber sie ist mit einem ins Bett gegangen?“

„Erstaunlich. Du warst bei der Mordkommission und denkst immer noch, die Menschen würden logisch handeln.“

Sie hob den Arm, die Handfläche nach oben gerichtet. „Schon gut, du hast ja recht.“ Sie grübelte einen Moment lang, dann sagte sie: „Erklär mir bitte, warum Disziplin bedeutet, dass Toby sich vor seinen Vater hinknien muss.“

Wieder nicht das Thema, das er erwartet hatte. Vielleicht kannte er sie doch nicht so gut, wie er gedacht hatte. „Toby ist ein Alpha. Rule muss ihm gegenüber dominant bleiben, damit der Junge auch dann noch gehorcht, wenn er seine erste Verwandlung erlebt und wenn seine Hormone und das Lied des Mondes aufeinanderprallen und sein Gehirn sich ausschaltet.“

„Aber ihn dazu zu zwingen, sich hinzuknien …“

„Hör auf, so verdammt menschlich zu sein. Unterwerfung hat nichts Demütigendes. Uns sagt unser Instinkt, dass es richtig ist, aber auch die Menschen tun es. Fühlt ein Sergeant sich gedemütigt, weil er vor einem Colonel salutieren muss?“

Ihr Ton war trocken. „Vielleicht, wenn er sich erst vor dem Colonel in den Staub werfen muss. Wie würdest du es finden, wenn du vor Rule niederknien müsstest?“

„Ich würde es nicht tun“, sagte er sofort. „Aber ich würde mich vor meinen Lu Nuncio hinknien.“

Sie sah ihn lange an, dann schüttelte sie den Kopf. „Ich verstehe die Männer nicht. Die Männer, die Lupi sind.“ Ihr Stirnrunzeln wurde tiefer. „Rule hat sich nicht wohlgefühlt, als er sich Paul unterworfen hat, aber ich glaube, es war nicht der Vorgang an sich, was ihn gestört hat.“

Cullen zog die Augenbrauen hoch. „Wer ist Paul?“

„Das ist kompliziert zu erklären, und ich sollte wohl besser von vorn anfangen.“ Endlich setzte sie sich hin und zog einen Fuß auf den Sessel. „Angefangen hat alles mit der Energiewelle gestern Nacht.“

„Du meinst elektrische Energie?“

„Ich meine Magie. Ein starker Wirbelwind von magischer Energie, der zur selben Zeit an verschiedenen Orten auf der Welt ausgebrochen ist, soweit wir wissen. Hast du es nicht gespürt?“

Er runzelte die Stirn. „Die Drachen waren wahrscheinlich näher am Knotenpunkt als ich, als es ausbrach. Die gierigen Mistkerle müssen alles aufgesogen haben.“

„Das können sie?“

„Wie ein Schwamm. Erinnerst du dich, wie schwer es war, in ihrem Territorium in Dis magische Kräfte wirken zu lassen? Erzähl mir von dieser Energiewelle“, sagte er und nahm sein Sandwich wieder in die Hand. „Ich esse derweil.“