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Zwei Minuten nach zehn schlitterte Cynna ins Hauptquartier. Aufzüge kommen grundsätzlich nicht, wenn man es eilig hat, also war es bereits sieben nach zehn, als sie, leicht außer Atem, vor dem Tisch der Sekretärin stehen blieb. „Er erwartet mich.“

Ida Rheinhart war älter als Gott und sehr viel gefährlicher. Sie sah Cynna über die Ränder ihrer grellroten Lesebrille an und gab ihr eine Mappe. „Er hat Sie um zehn Uhr erwartet. Die anderen sind schon da. Konferenzraum B 12.“

Sie wollte sich entschuldigen – Ida hatte diese Wirkung auf sie –, sagte dann aber doch nichts. Warum sollte sie auch? Ida war in ihrem ganzen Leben noch nie zu spät gekommen. Aber das war auch nicht schwer, denn sie verließ nie ihren Schreibtisch. Cynna war überzeugt, dass sie sich nachts darunter zusammenrollte und nur darauf wartete, nach unvorsichtigen Ermittlern und nach dem Reinigungspersonal zu schnappen, die sich zu nah an ihr Lager heranwagten.

Cynna klemmte sich die Mappe unter den Arm und hastete den Flur entlang. Sie hatte nicht erwartet, dass das Treffen in einem Konferenzraum stattfinden würde. Offenbar war das Meeting wichtiger, als sie gedacht hatte.

Das machte ihr Sorgen. Die Nachrichten heute Morgen waren sehr seltsam gewesen.

Natürlich hatte der Dämon, den sie getötet hatte, eine wichtige Rolle gespielt, aber das war nur eine von den Seltsamkeiten, die gestern Nacht passiert waren. Die Online-Ausgabe der New York Times berichtete von allen möglichen Erscheinungen – Lupi, Yetis, Banshees und sogar Feen. Natürlich behaupteten die Leute immer wieder, sie hätten Dinge gesehen, die sie in Wirklichkeit gar nicht gesehen hatten. Aber wie war es dann mit der Heinzelmännchen-Population in einem Reservat in Tennessee? Die sollte sich über Nacht verdoppelt haben.

In Texas war ein Schulbus verschwunden, der sich auf dem Rückweg von einem Footballspiel befunden hatte. Die Fahrer der Wagen vor und hinter dem Bus behaupteten, sie hätten gesehen, wie er verschwunden war. Ein bekanntes Medium hatte das Ende der Welt angekündigt, ebenso wie eine berüchtigte Terrororganisation. Cynna glaubte zwar nicht an den Mist mit dem Weltuntergang, aber irgendetwas war im Busch.

Sie drückte die Tür zum Konferenzraum auf und blieb wie angewurzelt stehen. Zwei Dutzend Leute saßen um den dunklen Holztisch herum. Alle drehten sich um und schauten sie an.

„Sorry. Autopanne.“ Oh Gott. Noch nie hatte sie so viele Ermittler der Einheit auf einmal in einem Meeting gesehen. Und es saßen nicht nur Ermittler ihrer Einheit um den Tisch herum. Und auch nicht nur Leute vom FBI.

Sherry O’Shaunessy, die Hohepriesterin des ältesten und größten Hexenzirkels des Landes, saß neben einem kleinen dunkelhaarigen Mann mit Priesterkragen. Cynna war sich ziemlich sicher, dass es Erzbischof Brown war, ein überzeugter Katholik mit reformerischen Neigungen. Den alten Mann mit der Einstein-Frisur und den Glatzkopf mit der Wrestler-Figur kannte sie nicht, aber sie erkannte die Frau, die rechts neben Ruben saß.

Cynna schluckte und nahm eilig Platz. Sie hatte die Chefberaterin der Präsidentin nie persönlich kennengelernt, aber sie hatte Fotos gesehen.

Ruben saß am Kopfende des Tisches. Wenn man seine äußere Erscheinung sah, würde man nicht denken, dass er so eine respekteinflößende Person war. Er war furchtbar dünn, sodass er sich seine Anzüge maßschneidern lassen musste. Seine Nase war groß, und Cynna wusste, dass er sich die Haare von seiner Frau schneiden ließ. Wieder einmal hatte er seine Brille mit Klebeband repariert. Wenn er einen guten Tag hatte, wenn er mit einem Stock gehen konnte, war er ein bisschen mehr als mittelgroß.

Cynna hatte ihn seit über einem Jahr nicht mehr gesehen, wenn er einen guten Tag hatte. Heute saß er wie gewöhnlich in seinem elektrischen Rollstuhl.

Ruben nickte ihr zu. „Meine Damen und Herren, das ist Cynna Weaver, eine meiner besten Ermittlerinnen. Ihre besondere Gabe ist das Finden, aber sie ist ebenfalls ausgebildet in Zauberei und Dämonologie. Cynna, Ermittlerin Y hat gerade ihren Bericht über zwei der gestrigen SÜEs beendet – Äh, Sie müssen entschuldigen, manche von Ihnen sind mit ihrem Jargon nicht vertraut. SÜE steht für Scheinbar Übernatürliches Ereignis. Das ist die Bezeichnung für Ereignisse, bei denen unsere Kriterien für eine Ermittlung erfüllt sind.“

„Zwei?“, wiederholte Cynna und kam damit direkt zum Punkt. „Wie viele SÜEs waren es denn insgesamt?“

„Seit gestern Abend zehn Uhr haben wir siebenundfünfzig Meldungen aus offiziellen Quellen erhalten und zweihundertzweiundvierzig aus inoffiziellen.“

Cynna fiel die Kinnlade herunter. Das war noch nie da gewesen. Es war … beängstigend, sagte sie sich.

Sie war nicht die Einzige, die entsetzt war. Ruben musste die Fragen und Zwischenrufe mit erhobener Hand zum Verstummen bringen, bevor er fortfahren konnte. „Das ist über zehnmal mehr als normal. Da wir nicht auf einmal unser Personal verzehnfachen können, müssen wir wohl oder übel selektieren. Ermittler der Einheit werden sich nur um die kritischsten Fälle kümmern. Was die anderen Fälle betrifft: Einige Ermittlungen müssen auf später verschoben werden, andere werden von den örtlichen Beamten übernommen, und einige werden an unsere Kollegen bei der MCD übergeben, die nicht in der Einheit arbeiten. Mir ist klar“, sagte er mit einem kurzen Lächeln, „dass das einigen von Ihnen nicht gefallen wird.“

Ach was? In Cynnas Augen waren die meisten Mitarbeiter bei der MCD – der Magical Crimes Division des FBI – Bürohengste und Kammerjäger. Die Bürohengste waren zu nichts nutze. Sie würden einen Zauber nicht einmal dann erkennen, wenn sie in etwas kleines Pelziges mit großem Appetit auf Karotten verwandelt worden wären. Aber die anderen waren noch schlimmer, die Ermittler von der MCD, die in den schlechten alten Zeiten Jagd auf Lupi und andere Wesen gemacht hatten, bevor das Oberste Bundesgericht die Gesetze geändert hatte.

Den Spitznamen Kammerjäger hatte sich nicht Cynna ausgedacht für diese Leute. So nannten sie sich selber.

„Trotzdem“, sagte Ruben gerade, „werden wir die Zügel in der Hand behalten, denn die Phänomene fallen in unsere Zuständigkeit. Die MCD-Ermittler werden vorübergehend zu uns versetzt, und sie werden Special Agent Croft Bericht erstatten.“

Cynna hob die Brauen. Wie hatte Ruben denn das geschafft? Auf dem Papier war die Einheit Teil der MCD. In der Praxis aber operierte Ruben unabhängig von der Befehlskette, was ihn beim Leiter der MCD, der sein Revier erbittert verteidigte, nicht sehr beliebt machte.

Sie warf einen Blick zu der Beraterin des Präsidenten. Hatte sie die MCD unter Druck gesetzt? Was ging hier vor?

Ruben rutschte auf seinem Stuhl herum. „Bis jetzt war nur die Rede von SÜEs innerhalb unseres Landes. Aber die USA sind nicht das einzige Land, das betroffen ist von dem, was gestern Nacht passiert ist. Zum Beispiel haben in Dublin zwei Banshees …“

Der Glatzkopf schnaubte. „Wenn ich einen Dollar bekäme für jeden Iren, der behauptet, er hätte eine Banshee gesehen, könnte ich die gesamten Staatsschulden bezahlen.“

Ruben nickte höflich. „Vielleicht, obwohl es, glaube ich, ja keine acht Billiarden Iren gibt. Aber egal. Das Phänomen wurde vom japanischen Premierminister bezeugt. Sie wissen ja vielleicht, dass er gerade auf Staatsbesuch in Großbritannien ist, sowie von drei Journalisten und von zwei Mitgliedern des Parlaments. Und das ist nur ein Beispiel von vielen. Ms Pearson hat mir einen Bericht gegeben, den ich aus Sicherheitsgründen nicht an Sie weiterleiten kann, aber er bestätigt mir mein Bauchgefühl, dass wir es mit einem weltweiten Phänomen zu tun haben.“

Verammte Scheiße.

„Vielleicht kennen wir die Folgen dieses unbekannten Phänomens alle schon. Vielleicht auch nicht. Meine Intuition sagt mir, dass wir nur die erste Welle gesehen haben und dass noch weitere kommen.“

Ein Ermittler der Einheit sagte ruhig: „Von eins bis zehn, Ruben?“

Ruben lächelte ihm kaum wahrnehmbar zu und wandte sich dann an alle: „Sean bittet mich immer, irgendeine Zahl zu nennen, damit er sieht, für wie wahrscheinlich ich es halte, dass meine Vorahnung zutrifft. Er fragt mich, wie sicher ich bin auf einer Skala von eins bis zehn, dass ich recht habe.“ Er sah Sean an. „Ich würde sagen: zehn.“

Cynna erschauderte plötzlich. Sie kannte Seans Skala und auch die Erklärung, die Ruben geliefert hatte. Eine Zehn bedeutete, dass Ruben von seiner Intuition überzeugter war als von der Schwerkraft.

„Aber wir brauchen mehr als mein Bauchgefühl. Wir müssen wissen, was passiert ist, ob es wieder passieren kann und wie die Konsequenzen aussehen könnten. Der Präsident hat mich gebeten, eine Task Force zu gründen, um Antworten auf diese Fragen zu suchen. Dr. Fagin wird diese Task Force leiten.“

Der Mann mit der Einstein-Frisur kritzelte gerade auf einem Blatt Papier herum. Er sah hoch und lächelte unbestimmt in die Runde.

„Erzbischof Brown und Ms O’Shaughnessy haben sich ebenfalls bereit erklärt, uns zu helfen, und Hikaru Ito wird bald dazustoßen. Dr. Fagin hat die Befugnis und das Budget, wenn nötig weitere Mitarbeiter hinzuzuziehen. Sie werden auf Ihre größtmögliche Kooperation angewiesen sein und haben die notwendige Sicherheitsfreigabe, damit sie sämtliche Fragen rückhaltlos beantworten können.“

Er rutschte wieder auf seinem Stuhl herum. Cynna hoffte, dass er nicht gerade eine schlechte Phase hatte und seine Muskeln ständig schmerzten. Wahrscheinlich hatte er diese Nacht kein Auge zugetan.

„Einige von Ihnen haben bereits Informationen zu Ihrem Einsatz und wollen unbedingt los. Ich denke, jetzt verstehen Sie, warum Sie Ihre Abreise für dieses Meeting verschieben mussten. Bevor Sie gehen, sollten Sie noch zwei Dinge wissen. Erstens: Ich werde nicht in der Lage sein, einzelne Ermittlungen zu überwachen, wie ich es sonst immer getan habe. Auch kann nicht einer meiner Mitarbeiter mit einer Gabe von seinem Einsatz abgezogen werden, um bei der Koordination zu helfen. Es brennt an zu vielen Stellen. Deswegen haben die Ermittler vor Ort für die Dauer dieser Notsituation volle Befehlsgewalt. Holen Sie sich Ihre Codes bei Ida ab, bevor Sie gehen.“

Volle Befehlsgewalt. Für alle. Cynna musste schlucken, als die Erkenntnis ihr langsam den Magen einschnürte.

„Zweitens: Das Briefing heute Morgen ist streng vertraulich. Die volle Befehlsgewalt erlaubt es Ihnen, den Inhalt einer Verschlusssache preiszugeben, wenn es Ihre Ermittlung verlangt. Das heißt nicht, dass es ein Thema für den Büroklatsch ist.“

Dann wurde mit Papier geraschelt, und in die Gruppe kam Bewegung, während Ruben die Ermittler verabschiedete, die ihren Einsatz schon kannten. Cynna war so damit beschäftigt, das, was sie gehört hatte, zu verarbeiten, dass sie Lily erst bemerkte, als die ihr auf die Schulter tippte.

„Komm, du bist mir zugeteilt worden.“ Lily schnitt eine Grimasse. „Aber wir müssen dein Büro benutzen. Mir haben sie noch keins zugewiesen.“