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In Washington war nicht rund um die Uhr Betrieb wie in New York oder L.A. Selbst auf den Hauptverkehrsstraßen dünnte der Verkehr nach Mitternacht aus. Aber die Straßen wurden nicht ganz leer. Lily betrachtete die vorbeirauschenden Scheinwerfer auf der anderen Seite des Mittelstreifens und wie sie in den Windschutzscheiben mit den Rücklichtern und mit den Straßenlampen verschmolzen. Ungeduldig tippte sie mit den Fingern auf ihren Oberschenkel.
Sie saßen in dem Mercedes, den Rule gemietet hatte, nicht in ihrem Dienstwagen, einem Ford. Es war kein Cabrio wie sein eigener Wagen, aber er war ebenfalls mit allem Drum und Dran ausgestattet.
Lily verstand nicht, warum Rule nicht seinen Wagen nach D.C. hatte mitnehmen wollen. Das hätte zwar länger gedauert, aber er hasste es, zu fliegen. Wegen einer leichten Klaustrophobie, was er allerdings abstritt, konnte er nur in der ersten Klasse reisen. Vielleicht bestand er deswegen darauf, zu fliegen. Er kämpfte lieber gegen eine Schwäche, als ihr aus dem Weg zu gehen.
Das verstand sie.
Es hatte außer Frage gestanden, dass er mit ihr nach Washington kommen würde. Selbst wenn sie mit einer so langen Trennung klargekommen wären – das Band der Gefährten hätte nicht zugelassen, dass sie sich an entgegengesetzten Küsten aufhielten.
Das Band der Gefährten. Das hatte sie gemeint, als sie gesagt hatte, sie sei Rules Auserwählte – nicht, dass er sie ausgewählt hätte oder sie ihn. Rules Volk glaubte daran, dass ihre Dame den Knoten für sie geknüpft hatte – einen Bund bis ans Lebensende, gegen den sie sich am Anfang gewehrt hatte wie verrückt. Aber zuerst hatte sie auch gedacht, es würde sich um eine Verbindung auf rein körperlicher Ebene handeln. Auf sexueller Ebene.
Aber der Wahnsinnssex war nur die eine Seite. Sie konnten sich nicht zu weit voneinander entfernen; wenn die Entfernung zwischen ihnen zu groß wurde, verloren sie das Bewusstsein. Auch wenn es sie verrückt machte, dass sich diese Grenze nach keinen für sie erkennbaren Regeln verschob, lernte sie allmählich, damit zu leben. Außerdem wusste sie immer, wo Rule war – in welcher Richtung er sich befand und wie weit entfernt ungefähr.
Vielleicht hatte das Band der Gefährten auch einen spirituellen Aspekt, aber darüber wollte Lily lieber nicht nachdenken. Religion war ein heikles Thema für sie, und der Tod hatte ihr nicht so viele Antworten gegeben, wie man meinen könnte.
Sie warf dem Mann am Steuer einen Blick zu und lächelte, als sie daran dachte, wie er sie heute Morgen geweckt hatte. Was auch immer das Band der Gefährten zu ihrer Beziehung beitrug, verliebt hatte sie sich von ganz allein in ihn.
Sie liebte ihn. Und er liebte sie. So einfach war das – und manchmal auch beängstigend.
Rule hatte so viele Ecken und Kanten, und vieles an ihm war immer noch ein Geheimnis für sie … aber das Wichtigste wusste sie. Er war intelligent und oft freundlich. Er konnte lachen, und er konnte zuhören. Meistens war er ganz vernünftig, obwohl er manchmal auch ein wenig selbstherrlich war.
Das war keine Überraschung für sie gewesen. Rule war der Thronfolger, der Lu Nuncio, seines Clans. Wenn sein Vater starb, würde er das Sagen haben. Er würde der Rho der Nokolai. Lily hoffte, dass Isen Turner noch sehr, sehr lange leben würde.
Was gut möglich war. Erst kürzlich hatte sie etwas erfahren, was sie ganz schön durcheinandergebracht hatte: Lupi alterten ungefähr halb so schnell wie Menschen.
Und noch etwas wusste sie über Rule: Im Moment war er schwer beleidigt. „Na gut“, sagte sie. „Lass uns reden. Diese unterschwellige Wut hindert mich am Denken.“
„Sollte ich mich geschmeichelt fühlen?“
„Welche Laus ist dir über die Leber gelaufen?“
„Wenn das deine blumige Art ist, mich zu fragen, warum ich sauer bin …“
„So bin ich eben. Blumig.“
„Du hast dich zwischen eine Schusswaffe und ihr Ziel gestellt.“ Wenn er wütend war, wurde Rule nicht laut. Er wurde ganz ruhig. Er senkte die Stimme, bis sie summte wie eine überlastete Hochspannungsleitung. „Dieser Cop wollte abdrücken, und du hast dich in die Schusslinie gestellt.“
„Es hat doch geklappt, oder nicht?“
Rule knurrte. Es war ein empörtes Knurren und kein Laut, den menschliche Kehlen so einfach hervorbringen konnten.
„Hör mal, was der Cop vorhatte, war idiotisch. Paul war für niemanden eine Bedrohung, es sei denn, jemand hätte auf ihn geschossen. Und ein normaler Schuss reizt einen Lupus eher und hält ihn nicht auf. So schafft man es als Cop nicht bis zur Rente. Aber die meisten Polizisten wissen nicht genug über Lupi, um richtig zu reagieren; ansonsten war seine Ausbildung sicher gut. Das hat man an seiner Haltung gesehen, daran, wie er mit der Waffe umgegangen ist. Ich dachte, er würde nicht schießen, wenn jemand in seiner Schusslinie steht. Und ich hatte recht.“
„Wenn du erwartest, dass ich dich dazu beglückwünsche, dass du so leichtfertig dein Leben riskiert hast …“
„Ich erwarte, dass du auf meine Urteilskraft vertraust! Was ist denn los mit dir? Du hast einen wütenden Wolf angesprungen, Herrgott noch mal, und ihn dazu aufgefordert, dir die Kehle herauszureißen!“
„Das war mutig und ehrenhaft“, sagte der Mann auf dem Rücksitz. „Vor allem unter diesen Umständen. Die nächste Ausfahrt bitte.“
Lily wäre fast zusammengefahren vor Schreck. Ihr Fahrgast hatte nichts mehr gesagt, seit er Rule den Weg zu seiner Wohnung erklärt hatte. Sie hatte ihn schon fast vergessen.
Für einen Lupus war es nicht einfach, so schnell nach der Verwandlung in einen Wolf wieder zu einem Menschen zu werden. Paul Chernowich hatte es schon eine Stunde, nachdem er darauf verzichtet hatte, Rule zu töten, geschafft. Zu diesem Zeitpunkt waren das Publikum und die meisten Künstler schon gegangen und hatten den Cops Platz gemacht.
Dann dauerte es noch einmal eine Stunde, bis die Kollegen vor Ort eingesehen hatten, dass Paul gegen kein Gesetz verstoßen hatte, und sie gehen ließen. Die Sopranistin, die ihn normalerweise nach Hause fuhr, war unter denen gewesen, die gegangen waren, also hatte Rule angeboten, ihn abzusetzen.
Rule setzte den Blinker und fuhr in die Ausfahrt. Lily drehte den Kopf, um Paul anzusehen. „Was meinst du mit ‚unter diesen Umständen‘?“
Er zuckte die Achseln. Er war jung, zumindest sah er jung aus, schlaksig gebaut und hatte eine Hakennase und strohfarbene Haare. „Das ist doch offensichtlich. Er ist der Lu Nuncio der Nokolai.“
„Und du magst die Nokolai nicht.“ Das hatte sie schon vorhin geahnt, aber es war nicht einfach, die Gefühle eines Wolfs zu lesen.
Sie verließen die Autobahn. Auf den Straßen in der Stadt sorgten nun die Ampeln für zahlreiche Stopps. Hier merkte man, dass es sehr spät war. Es waren nur wenige Autos unterwegs. Sie sah Rule an, als er vor einer roten Ampel bremste. „Willst du mir irgendetwas sagen?“
Er schwieg einen Augenblick. „Paul ist ein Leidolf.“
Ihr fiel die Kinnlade herunter. „Ein Leidolf? Eure Erzfeinde? Die Leidolf, die gerade erst versucht haben, deinen Vater zu töten? Und du hast ihm deine Kehle dargeboten?“
Paul sagte steif: „Der Mordversuch an deinem Rho war von unserem Rho nicht abgesegnet.“
„Oh, na dann ist ja alles in Ordnung! Und wenn du Rule getötet hättest, wäre das wahrscheinlich auch in Ordnung gewesen, solange dein Rho es nicht befohlen hat!“
„Nein, es wäre sehr unehrenhaft gewesen.“ Er warf einen verwirrten Blick auf Rules Hinterkopf. „Versteht sie nicht, was ni culpa, ne defensia heißt?“
„Die Dame hat uns erst vor Kurzem zusammengeführt. Lily ist dabei, unsere Kultur kennenzulernen, aber die letzten beiden Monate waren … turbulent.“
Das war eine Untertreibung. „Was Paul da gerade gesagt hat … waren das nicht deine Worte, als du ihm deine Kehle dargeboten hast?“
„Ja, so ist es.“
„Dann klär mich bitte auf, ich bin nur ein unwissender Mensch. Was heißt das?“
„Wörtlich: ‚Wenn nicht schuldig, keine Verteidigung‘. Um unsere Unschuld zu beweisen, unterwerfen wir uns, ohne uns zu verteidigen. Schuld kann man riechen“, fügte er hinzu und fuhr langsamer, um abzubiegen.
„Dein Gefährte hat mir eine große Ehre erwiesen“, sagte Paul ernst. „Ich bin kein Alpha, aber ich war so erregt, dass ich zuerst nicht gemerkt habe, dass er mir erlaubt hat, ihn zu dominieren.“
„Er hat es dir also erlaubt.“ Ihre Finger begannen wieder auf ihren Oberschenkel zu tippen. „Du hast ihn angegriffen, damit er dich dominieren kann?“
„Das war der schnellste Weg, um die Situation unter Kontrolle zu bekommen. Paul war noch nicht ganz zum Tier geworden, aber er war schon zu sehr Wolf, um noch vernünftig denken zu können. Sein Instinkt hätte ihn dazu getrieben, seinen Feind aufzuspüren – den, der ihn bloßgestellt hat, indem ihr ihn gezwungen hat, sich zu verwandeln.“
Sie dachte daran, wie der Wolf auf der Bühne geblieben war, anstatt Deckung zu suchen. „Er hat dich gesucht.“
„Aber nicht oben.“ Paul klang verlegen. „Ohne einen Windhauch und mit dem Geruch der vielen verschiedenen Menschen in der Nase, konnte ich Rule nicht genau genug riechen, um ihn auszumachen. Aber ich hätte daran denken sollen, nach oben zu sehen.“
„Du warst durcheinander“, sagte Rule. „Du wurdest zu dieser Verwandlung gezwungen.“
Paul war ganz offensichtlich empört. „Wie ein Welpe.“
„Du konntest nichts dafür.“ Rule hielt an einer Ampel an. „Ich war selbst nah daran, mich zu verwandeln.“
„Du? Aber du bist …“
„Eigentlich zu alt für so einen Kontrollverlust.“ Rules Gesicht sah im Dämmerlicht der Ampel und des Armaturenbrettes grimmig aus. „Was heute Abend passiert ist, war nicht normal. Irgendetwas hatte uns beide in seiner Gewalt. Ich würde viel darum geben, zu wissen, was es war. Und wer dahintersteckt.“
„Vielleicht steckt gar niemand dahinter“, sagte Lily.
„Was meinst du damit?“
„Ich glaube nicht, dass es gegen jemanden gerichtet war. Etwas ist einfach so durch den Raum gefegt, etwas so Urwüchsiges und Kraftvolles, wie ich es noch nie vorher berührt habe. Es war wie …“ Sie suchte angestrengt nach Worten, um eine Empfindung zu beschreiben, die die anderen nie erlebt hatten. „Es erinnert mich an die Sorcéri, die Cullen benutzt. Du weißt schon, die frei schwebenden Magiestückchen, die sich aus den Energieknoten lösen? Unbearbeitete Energie. Nur dass diese Magie zigtausendmal stärker war als jedes Sorcéri, das ich bis jetzt gefühlt habe.“
„Und du hast keine Spur von Ihr wahrgenommen?“
Sie schüttelte den Kopf.
Rule schlug einmal mit den Fingern auf das Lenkrad. Die Ampel wurde grün, und er gab schnell Gas. „Cullen hat sich wirklich eine schlechte Zeit ausgesucht, um abzuhauen.“
Um nach Drachen zu suchen. Seit sie aus der Hölle zurückgekehrt waren, war Cullen davon besessen, die Drachen zu finden, die sie begleitet hatten. Aber Sam und die anderen waren spurlos verschwunden, sodass Cullen ebenso wenig Erfolg hatte wie die amerikanische Regierung. „Hat er denn kein Handy mitgenommen?“
„Doch, und wenn er sich gerade in einer Gegend aufhält, wo es ein Netz gibt, und er das Ding nicht ausgeschaltet hat, würde er vielleicht sogar ans Telefon gehen … wenn er etwas will.“
Cullens Haltung Telefonen gegenüber erinnerte Lily an ihre Großmutter.
„An der nächsten Ampel links“, sagte Paul. „Wer ist Cullen?“
„Ein Freund, der sich auskennt“, sagte Rule.
So konnte man es auch sagen. Cullen Seabourne war ein Lupus und ein Freund von Rule. Bis ihn die Nokolai vor zwei Monaten aufgenommen hatten, war er ohne einen Clan gewesen. Außerdem war er ein Zauberer.
Zauberei war illegal. Cullen behauptete, Neid und Unwissenheit seien schuld daran und dass die Gesetzgeber die Zauberei vor langer Zeit verboten hätten, ohne zu wissen, wogegen sie die Gesetze eigentlich erließen. Die meisten Menschen dachten bei dem Thema an Todesmagie oder glaubten, dass es Zauberei seit der sogenannten Säuberung nicht mehr gebe. Manche behaupteten sogar, es habe so etwas wie Zauberei nie gegeben und auch keine Anhänger und keine Zauberer, nur ein paar clevere Quacksalber und ein paar Hexen, die Todesmagie anwendeten, um ihre angeborenen Gaben zu stärken.
Lily lenkte die Unterhaltung weg von ihrem Freund, dem Zauberer. „Kannst du mir sagen, wie es sich angefühlt hat?“, fragte sie Paul. „War dieses Mal irgendetwas anders an der Verwandlung?“
„Es hat wehgetan.“ Paul schnitt eine Grimasse. „Sogar wahnsinnig wehgetan. Ohne Schmerzen geht es nie, vor allem wenn man nicht geerdet ist, aber dieses Mal war es, als würde ich rückwärts durch das sprichwörtliche Nadelöhr gerissen. Wenn es noch einen weiteren Unterschied gegeben hat, ist er mir vor lauter Schmerzen nicht aufgefallen.“
„Ich habe gehört, dass junge Lupi – Teenager – bei Vollmond die Verwandlung nicht unterdrücken können. War es ungefähr so?“
Er dachte einen Augenblick darüber nach. „Nicht ganz. Wenn der Mond voll ist, hörst du seinen Ruf. Ausgewachsene Lupi widerstehen dem Ruf entweder oder sie folgen ihm, aber Jugendliche stehen zu sehr im Bann des Mondes. Sie erkennen nicht, dass sie eine Wahl haben. Aber heute Abend … ich habe seinen Ruf nicht gespürt, aber irgendetwas hat mich dazu gebracht, mich zu verwandeln.“
„Dann ist es also nicht normal, dass man sich ohne den Ruf des Mondes verwandelt?“
„Das gibt es nicht“, sagte Rule. „Der Mond schweigt nie ganz. Sein Ruf wird schwächer, wenn er abnimmt, und er wird lauter, wenn er zunimmt. Deswegen können wir die Verwandlung willentlich beeinflussen und uns nicht nur bei Vollmond verwandeln. Wir lernen, uns auf den Ruf hin zu befreien, auch wenn er nur ein leises Flüstern ist.“
„Ich habe ihn nicht gehört“, sagte Paul beharrlich.
„Aber ich.“ Rule fuhr langsamer. „Und ich höre ihn immer noch. Wie alt bist du, Paul?“
„Sechsundzwanzig.“
Rule nickte, als hätte die Antwort seine Vermutung bestätigt. Lily nahm an, dass es auch so war. Ein Lupus war erst mit fünfundzwanzig erwachsen, also war Paul in den Augen der Clans kaum alt genug, um allein zu wohnen. „Hast du gelernt, den Ruf des Mondes zu hören, wenn er nicht voll oder fast voll ist?“
Paul antwortete mit sichtlichem Widerstreben. „Manchmal schon.“
„Zuerst warst du ganz auf deine Leistung im Orchester konzentriert. Dann warst du von dem Schmerz durch die Verwandlung abgelenkt. Es wundert mich nicht, dass du den Ruf des Mondes nicht gehört hast, aber er ist da, so laut wie immer um diese Zeit in seinem Zyklus.“
„Wenn du das sagst. An der nächsten Ecke ist meine Wohnung. Das Belleview Arms.“
„Das Haus gegenüber von dem Pornokino?“, fragte Lily trocken.
„Die Miete ist niedrig, und ich habe meine Ruhe.“
Das stimmte. Lupi hatten ihre Ruhe, selbst in der übelsten Wohngegend. Und das war die hier nicht. Ein bisschen heruntergekommen, aber sie hatte schon schlimmere Gegenden gesehen. Als Streifenpolizistin, unter anderem.
„Mal sehen, ob ich alles richtig verstanden habe“, sagte sie. „Die Tür zur Verwandlung ist immer geöffnet – bei Vollmond ganz weit, nur einen Spalt bei Neumond, aber sie ist nie ganz geschlossen. Als der magische Windstoß kam, hat er die Tür nicht weiter geöffnet. Aber er hat Paul durch den Spalt gedrückt und geschoben, während Rule …“
„Sich am Türrahmen festgehalten hat. Ein guter Vergleich“, fügte er hinzu, während er den Wagen vor einem Waschsalon parkte und den Motor ausstellte. „Bei der Verwandlung ist es tatsächlich so, als würde man durch eine Tür gehen.“
Sie waren immer noch einen Block vom Belleview (das seinen Namen nicht zu Recht trug) entfernt, aber am Straßenrand parkten die Autos Stoßstange an Stoßstange, wahrscheinlich dank des 24-Stunden-Pornokinos weiter unten in der Straße. „Ähem … steigen wir nicht aus?“
Paul öffnete die Wagentür. „Rule wird wollen, dass ich die susmussio zurücknehme. Dazu müssen wir beide ungestört sein.“
Sie sah Rule an. „Und das heißt?“
„Ich erkläre es dir im Gehen.“
„Mach zuerst das Handschuhfach auf.“
Er zog eine Augenbraue hoch, tat dann aber, worum sie ihn gebeten hatte. Sie holte ihre SIG Sauer hervor. „Gibst du mir bitte mein Schulterhalfter, Paul? Es liegt auf dem Sitz neben dir.“
„Die Waffe brauchst du nicht.“ Paul war nachsichtig. „Ich weiß, die Gegend ist nicht die sicherste, aber du hast zwei große starke Lupi bei dir, die dich beschützen.“
Sie rief sich in Erinnerung, wie jung er war. „Das ist nicht deine Entscheidung. Gib mir das Schulterhalfter.“
Aber Rule drehte sich um und griff danach. „Paul ist nicht von Benedict ausgebildet worden.“
Benedict war Rules älterer Bruder, ein Krieger, der in den Clans so etwas wie eine Legende war. Er brachte Dinge zustande, die selbst für einen Lupus unmöglich waren. Aber Rule meinte, dass ihm, Paul, da er ein Leidolf war, die übliche Abneigung der Lupi gegen Schusswaffen nicht abtrainiert worden war.
„Verstanden.“ Wahrscheinlich wollte sie das Kind aus dem sprichwörtlichen Brunnen holen, nachdem es bereits hineingefallen war, aber das war ihr egal. Irgendetwas Seltsames ging hier vor, und sie hatte nicht vor, ohne ihre Waffe loszumarschieren.
Um das Schulterhalfter anzulegen, musste sie erst einmal aus dem wunderbaren Mantel schlüpfen. Sie stieg aus dem Wagen, zog den Mantel aus und blickte finster in die Kälte. „Also, was ist ein susmissus?“
„Susmussio.“ Paul hielt inne und gähnte. „Ein schickes Wort für Unterwerfung. Mann, bin ich müde. Sich so schnell hintereinander zweimal zu verwandeln ist ganz schön anstrengend.“
Sie warf Rule einen scharfen Blick zu. Er hatte seine undurchdringliche Miene aufgesetzt. „Aber es war doch nur ein Ritual? Eine symbolische Unterwerfung, damit er riechen konnte, dass du nicht sein Feind bist?“
Die beiden Männer tauschten einen Blick. Rule antwortete. „Selbst eine symbolische Unterwerfung hat eine Bedeutung. Du musst es dir als eine Art Schuld vorstellen. Da im Vorhinein keine Bedingungen abgesprochen worden sind …“
„Bedingungen?“ Er hielt ihr den Mantel hin, und sie schlüpfte hinein. Wärme, wohlige Wärme.
„Wenn es in einem geplanten Ritual vorkommt, sind an die susmussio bestimmte Bedingungen geknüpft. So machen wir Verträge zwischen den Clans. Aber das hier war privat, ohne Bedingungen. Ich stehe in Pauls Schuld, nicht in der Schuld seines Clans.“
Er ging die Straße hinunter. Sie lief zu ihm hin und ging neben ihm her, Paul war ein paar Schritte vor ihnen. „Was schuldest du ihm?“
„Ein gewisses Maß an Loyalität.“
„Und da er ein Leidolf ist, ist das eine unangenehme Situation.“
„Ja. Hinzu kommt, dass das, was er tut, auf mich zurückfällt, solange die susmussio gilt. Und umgekehrt.“
„Außerdem sind wir nicht mehr im Gleichgewicht“, sagte Paul. „Rule hat sich unterworfen, aber er ist ein Alpha und älter und höherrangig. Trotzdem bin ich für ihn verantwortlich. Das … macht mich nervös. Und“, fügte er über die Schulter gewandt hinzu und grinste, „ihm lässt der Gedanke daran bestimmt keine Ruhe.“
Bestimmt. „Wie macht ihr es rückgängig?“
„Ganz einfach.“ Paul schien gut gelaunt, aber müde zu sein, wie ein Kind, dem man erlaubt, lange mit Erwachsenen zusammen aufzubleiben. „Wir einigen uns auf ein paar grundlegende Bedingungen, die die erste Unterwerfung rückgängig machen. Dann unterwerfe ich mich ihm. Das ist der Grund, warum wir ungestört sein wollen. Das sieht für andere ein bisschen komisch aus … Ach du Scheiße!“
Etwas schoss aus einer engen Gasse zwischen dem Pornokino und Haus, in dem Paul wohnte. Es war groß, hatte rote Augen, und es war hässlich, ungefähr wie eine Hyäne auf Anabolika, nur ohne Fell und mit Armen, die ihm aus der Brust wuchsen. Die Arme hatten zu viele Gelenke und endeten in Krallen. Und es kam direkt auf sie zu gerannt.
Es war ein Dämon.
„Runter auf den Boden!“, rief sie Paul zu, als die Luft neben ihr flimmerte und die Realität zum zweiten Mal an diesem Abend in Bewegung geriet.
Lily spürte es ganz deutlich, auch wenn sie nicht hinsah. Kaum hatte sie Paul ihren Befehl zugerufen, riss sie die Pistole aus dem Halfter und ging schnell in Stellung, die Beine gespreizt, die Arme gestreckt, die linke Hand stützte die rechte.
Doch Paul ließ sich, verdammt noch mal, nicht zu Boden fallen. Er hockte sich hin, als habe er vor, sich dem Ding entgegenzuwerfen. Sie fluchte und machte einen Schritt zur Seite, damit er nicht in ihrem Schussfeld war.
Doch jetzt traten zwei Männer aus dem Erwachsenenkino und genau in ihre Schusslinie. Einer sah gleich darauf den Dämon, der auf sie zugestürzt kam, und warf sich zu Boden. Der andere sah es nicht. Der Dämon machte sich nicht die Mühe, auszuweichen. Mit seiner Klaue schlug er den Mann aus dem Weg und ließ ihn schreiend und blutend auf dem Bürgersteig zurück.
Jetzt hatte sie ihr Ziel im Visier. Lily drückte ab, achtete nicht auf den Knall auf ihrem Trommelfell, zielte wieder und drückte noch einmal ab …
Und der Dämon verschwamm mit den Hitzewellen, ein Flimmern, das die Gestalt eines Dämons hatte und das nun in ihre Richtung gerannt kam. Würde eine Kugel einfach hindurchgehen? Noch mehr Menschen waren aus dem Kino gekommen, noch mehr verdammt dumme, unbeteiligte Zuschauer, die sie wahrscheinlich treffen würde, wenn sie auf einen immateriellen Dämon schoss.
Und drei Meter weiter materialisierte er sich wieder. Und setzte zum Sprung an.
Genauso wie der Wolf neben ihr.
Rules Wolfsgestalt war groß, aber der Dämon war größer, stärker, und mit seinen Klauen hatte er ein paar eindrucksvolle natürliche Waffen, die Rule nicht zur Verfügung standen. Sein einziger wirklicher Vorteil war seine Schnelligkeit. Lupi waren schnell wie der Wind, schneller als alle irdischen Wesen und schneller als alle, denen sie in der Hölle begegnet waren. Er duckte sich und warf sich dem Dämon entgegen, offenbar um ihn abzuwehren, nicht um anzugreifen. Mitten in der Luft prallten sie gegeneinander, und Rule gelang es irgendwie, seinen Körper herumzuwerfen, sodass der Rotäugige zur Seite flog. Mit einem dumpfen Schlag kam er auf dem Pflaster auf. Rule landete sauberer, rollte sich ab und kam wieder auf die Beine.
Lily schoss wieder, bevor der Dämon sich erneut auflösen konnte. Blut spritzte aus seiner Hüfte. Er schrie gellend vor Wut und griff erneut an.
Er hatte es auf Rule abgesehen, nicht auf sie. Sie hatte auf ihn geschossen, aber er griff Rule an.
Rule wich aus, aber nur knapp. Eine der Klauen hatte ihm die Flanke blutig gerissen. Sie begriff, dass er versuchte, zwischen ihr und dem Dämon zu bleiben. „Er ist hinter dir her, nicht hinter mir!“
Mit einem Zucken des Ohres zeigte er, dass er verstanden hatte. Dann begann eine schnelle, tödliche Tarantella. Der Dämon ging immer wieder auf Rule los, schlug nach ihm, stürzte sich auf ihn, und Rule tänzelte jedes Mal rechtzeitig zur Seite. Sie erkannte, dass Rule ihn weglockte. Und ihn im festen Zustand hielt; anscheinend konnte er ihn in seiner flimmernden Gestalt nicht angreifen.
Eine gute Taktik, auch wenn sie beinahe umkam vor Angst. „Nicht zu weit weg, verdammt! Sonst kann ich ihn nicht treffen!“
Ein zweiter Wolf raste auf den Dämon zu. Paul. „Lass dich nicht von ihm packen!“
Das tat Rule nicht. Stattdessen schoss er vor, schnappte nach dem Dämon und wirbelte fort, bevor dieser reagieren konnte. Mein Gott, Lupi waren wirklich schnell.
Sie umkreiste die Kämpfenden und versuchte dabei, den Wölfen auszuweichen. Sie suchte eine Position, von der aus sie einen gezielten Schuss abgeben konnte. Einen Kopfschuss, wenn möglich. Denn nur so konnte man einen Dämon mit einer Handfeuerwaffe töten. Sie musste sein Gehirn in Stücke schießen.
Am Ende der Straße hörte sie gedämpfte Schreie. Sie hoffte, dass jemand dem Mann half, den der Dämon verwundet hatte. Sie hoffte, dass jemand so umsichtig gewesen war, die Polizei zu rufen. Backup wäre gut – vielleicht eine Spezialeinheit, SWAT-Team oder zwei.
Rule warf sich nach vorn, und es gelang ihm, ein Stück aus dem Dämon herauszubeißen. Scheiße, dieses Mal hätte er ihn fast gehabt! Aber der Dämon riss sich los, als Paul von der anderen Seite angriff, und Lily gelang es, einen weiteren Schuss abzugeben. Doch sie traf nicht.
Wenigstens hatte sie auch keinen von den Wölfen getroffen.
Weiter oben in der Straße wendete ein Wagen. Bremsen quietschten. Gute Idee, dachte sie. Macht, dass ihr wegkommt. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, waren Zivilisten, die ihnen vor die Füße liefen.
Es gelang ihr nicht, einen gezielten Schuss abzugeben. Die Wölfe bewegten sich so schnell, dass sie ihnen kaum folgen konnte. Sie schossen vor, zogen sich zurück, trieben den Dämon vor sich her. Sie konnte nur sehr viel langsamer reagieren. Sie wagte es nicht, abzudrücken. Aber die Wölfe konnten auch nicht aufhören oder sich zurückziehen, denn das wäre ihr Todesurteil.
Wie lange würden sie noch durchhalten? Paul war schon müde gewesen, als … Was war das?
Schritte donnerten auf dem Asphalt. Jemand rannte auf sie zu, nicht davon. Lily warf einen schnellen Blick in die Richtung, aus der die Schritte kamen. Cynna? Wie, zum Teufel …?
Noch im Laufen rief Cynna etwas, doch es ergab keinen Sinn für Lily. Sie streckte die Hand aus.
Schaurige Geräusche lenkten Lilys Aufmerksamkeit wieder auf den Dämon. Er hatte einen Wolf zwischen den Kiefern, einen Wolf mit rötlichem Fell. Paul. Er stieß einen grässlichen hohen Laut aus. Rule machte einen Satz und schlug die Zähne tief in die dicke Kehle des Dämons.
Der Dämon ließ Paul los und fiel auf den Rücken. Als er die Hinterbeine vorzog, um Rule mit den Klauen den Bauch aufzuschlitzen, ließ der ihn los und rollte sich weg. Lilys Finger spannte sich um den Abzug, aber der Dämon war zu schnell.
Er stieß die Schnauze in Pauls Bauch und schlürfte.
Rule sprang auf seinen Rücken. Der Dämon kreischte auf vor Wut und schüttelte ihn ab.
Cynna blieb stehen und hob die Stimme: „ … aerigarashiPAD!“ Licht peitschte zwischen ihrer ausgestreckten Hand und dem Dämon hin und her, schwach und kalt und farblos. Der Dämon zuckte.
Dann starb er.
Lily rannte zu dem großen hässlichen Körper, drückte ihre Waffe an seinen Schädel und drückte ab. Noch während der Schuss in ihren Ohren widerhallte, rief sie Cynnna zu: „Hast du dein Telefon dabei?“
Cynna stand regungslos da, ihre Miene war unergründlich unter den Tattoos. Ihr Arm hing locker herunter. „Ja.“
„Mach Meldung.“ Sie wandte sich zu Paul hin.
Gedärme hingen aus dem Loch in seiner Mitte. Der Gestank war furchtbar. Rule saß bei ihm und hatte die Nase an seine Schnauze gelegt.
Sie kniete sich hin. Lupi heilten viel schneller als Menschen, aber das hier … er verlor viel Blut. Zu viel. In schwachen Stößen drang es aus seinem Körper. „Scheiße. Er verblutet. Eine Arterie muss verletzt sein …“ Sie musste es versuchen, sie musste in die blutige Wunde greifen und die zerfetzte Arterie finden.
Er schlug die Augen auf. Und dann … war es, als würde jemand die Steinchen in einem Kaleidoskop durcheinanderschütteln und sie zu einem anderen Muster wieder zusammenzufügen. In dem Augenblick, als sie das zerfetzte und glitschige Fleisch berührte, summte Magie durch ihre Fingerspitzen wie Musik. Und die Zellen seines Körpers tanzten wie Staubkörnchen, die durcheinanderwirbelten, und sanken dann zurück an ihren Platz.
Auf dem harten Straßenpflaster lag ein Mann, kein Wolf. Ein nackter Mann mit einer klaffenden Wunde im Bauch, der im Sterben lag.
Sein Blick begegnete ihrem Blick. Sie sah Verwirrung darin, keinen Schmerz. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber er brachte keinen Ton heraus. Blut quoll aus seinem Mund, färbte seine Lippen rot und tropfte über sein Kinn. Seine Augen wanderten zu Rule und hielten dessen Blick lange fest. Er atmete aus … und ging. Einfach so.
Rule hob die Nase zum Himmel und heulte.