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„Würdest du bitte langsamer fahren?“, sagte Cynna.

„Nein.“ Cullen wusste, dass er zu schnell fuhr, aber es war ihm egal. Schließlich saß er wieder in diesem gottverdammten Wagen, obwohl sein Körper danach verlangte, zu laufen.

Die Wicca-Heilerin, eine von Sherrys Leuten, und damit war sie wohl eine der besten, hatte Rule untersucht. Sie hatte nichts tun können, ob mit oder ohne Unterstützung des Zirkels. Hier ging es nicht um Macht, sondern um Wissen.

In der Task Force war auch ein katholischer Erzbischof. Auch er konnte überhaupt nichts tun. Was immer mit Rule vor sich ging, besessen war er nicht. Doch niemand wusste, was es war.

Einschließlich ihm. Sie schleuderten mit quietschenden Reifen um die Ecke.

„Es ist wie ein Déjà-vu. Jedes Mal wenn ich heute einen Mann ans Steuer lasse, fährt er zu schnell. Fahr langsamer, Cullen. Sofort.“

Er warf einen Blick zu ihr hin und keuchte auf. „Du zielst mit einer Scheißwaffe auf mich?“

Der kurze Lauf eines Revolvers war auf ihn gerichtet. Ebenso wie zwei müde, aber entschlossene Augen. „Ich bin heute Abend nicht in der Stimmung, mich über das Pflaster verteilen zu lassen. Ich bin nicht in der Stimmung für dämliche Männer, die nicht hören wollen. Und ich bin ganz bestimmt nicht in der Stimmung, zu diskutieren. Fahr langsamer.“

Er lachte kurz auf und nahm den Fuß vom Gas, bis sie gemächliche sechzig Stundenkilometer fuhren. „Besser?“, fragte er nachsichtig.

„Viel besser.“ Sie steckte ihre Waffe weg. „Äh … du nimmst es ziemlich locker.“

„Das Lachen hat mir gutgetan.“

„Findest du es lustig, wenn jemand eine Waffe auf dich richtet?“

„Du hättest nicht abgedrückt. Den Fahrer bei über hundert Stundenkilometern zu erschießen ist ein bisschen riskant, sogar für dich.“ Er grinste. „Das ist das Dümmste, was ich seit Langem erlebt habe. Eine Frau, die weiß, wie man überreagiert, muss man einfach lieben.“

„Freut mich, dass ich dich aufheitern konnte. Willst du, dass ich noch einen draufsetze und dir eine Kugel ins Bein jage?“

Er lachte leise. „Du bist sauer.“

„Schnellmerker. Das ist mein Hotel.“

„Okay.“ Er fuhr noch langsamer und bog auf den Parkplatz ein. „Und jetzt?“

„Wir nehmen den Nebeneingang, der ist näher an meinem Zimmer.“ Sie drehte sich um, um einen Blick auf seinen zweiten Mitfahrer zu werfen.

„Schläft Dornröschen noch?“

Sie nickte. Dieses Mal saß Cynna vorn und Timms hinten. Sobald er sich dort zusammengerollt hatte, war er eingeschlafen, und nur die Posaunen des Jüngsten Gerichts könnten ihn jetzt wohl noch wecken. Cullen, der selber schon mehrmals die Erfahrung machen durfte, staunte, wie ruhig er mit einem frisch gebrochenen Knochen schlafen konnte. Vielleicht hatte der Mann weniger Schmerzrezeptoren als die meisten Menschen.

Natürlich schwemmte Timms Körper die Schmerzmittel auch nicht innerhalb von Minuten wieder aus, so wie bei Cullen. Es hatte auch Vorteile, ein Mensch zu sein, befand Cullen. Wenn auch nicht sehr viele.

Er fuhr an den Seiteneingang heran, hielt an und stellte den Motor aus.

„Cullen.“ Ihre Hand auf seinem Arm überraschte ihn fast ebenso wie die Waffe. „Rule wird wieder gesund, dafür sorgen wir. Nur weil wir jetzt noch nicht wissen, wie, heißt das nicht, dass wir es nicht können.“

„Richtig.“ Er atmete tief durch. Er war zu alt, um an Märchen zu glauben. Dass etwas richtig war, hatte nicht viel zu besagen. Auch guten Menschen passierten schlimme Dinge. Und nur mit Entschlossenheit ließ sich keine Schlacht schlagen.

Aber ohne Entschlossenheit kam man auch nicht weit. „Richtig“, sagte er wieder, und dieses Mal meinte er es ernst. Er öffnete die Tür.

„Herrgott noch mal. Ich kann allein ins Haus gehen. Mir passiert schon nichts.“

„Ich werde dich küssen. Gleich hier, aber …“

„Wenn du noch schnulziger wirst, fang ich an zu heulen.“ Aber sie erhob keinen Einwand dagegen, auch nicht als er ihre Hand nahm.

Komisch. Sie hielten Händchen. Vielleicht sollte er sich fragen, ob er ein zweites Mal die Pubertät durchlebte, aber damals hatte er nicht viel dafür übriggehabt. Er würde nicht einmal mit ihr ins Bett gehen, noch nicht. Jetzt wollte er nur einen kleinen Vorgeschmack. Einen Kuss.

Wann hatte er zum letzten Mal jemanden geküsst?

Doch es fühlte sich gut an, ihre Hand zu halten. Er hatte vergessen, wie gut eine einfache Berührung tun konnte. Dieses Bedürfnis hatte er sich abgewöhnt, ein solches Bedürfnis konnte ein clanloser Wolf sich nicht leisten, weil die Menschen es nicht verstanden. Wenn man einen von ihnen berührte, ob Mann oder Frau, dachten sie, es ginge um Sex.

Und in seinem Fall hofften sie, es ginge um Sex. Seine Mundwinkel zogen sich nach oben.

Sie ließ seine Hand los, um in ihrer Tasche nach der Zugangskarte zu suchen, mit der sie die Tür um diese Uhrzeit öffnen konnte.

„Wieso kannst du es dir leisten, hier zu wohnen?“, fragte er.

„He, ich habe gut verhandelt. Ich kriege Nebensaisontarife und bezahle nur die Nächte, in denen ich auch tatsächlich hier bin, im Schnitt zehn pro Monat.“ Sie fand ihre Karte und steckte sie in den Schlitz. „Gute Finder sind sehr gefragt. Ich habe überall im Land Einsätze, und wenn ich zurückkomme, habe ich ein sauberes Zimmer, Zimmerservice, eine Waschmaschine, einen Trainingsraum, ein Schwimmbad, Kabel, Internet …“

„Schon verstanden. Du fühlst dich wohl hier.“

„Klar, warum auch nicht? Wahrscheinlich würde sich jemand, der Wert auf Besitztümer legt, hier nicht wohlfühlen, aber für mich ist es ideal.“

Das Schloss klackte. Er lehnte sich vor, um die Tür aufzudrücken und sie ihr aufzuhalten.

Sie bedachte ihn mit einem seltsamen Blick.

„Ich habe gute Manieren. Ich schere mich nicht immer darum, aber wenn ich will, weiß ich, was sich gehört.“ Er stand jetzt ganz dicht neben ihr, so nah, dass ihr Duft ihn in der Nase kitzelte. Aufregend, vertraut und angenehm. Sein Körper wurde hart vor Erregung.

Es war lange her, dass er sich Zeit gelassen hatte, bevor er mit einer Frau ins Bett ging, sondern er tat es einfach. Er stellte fest, dass es ihm gefiel. Er strich ihr mit der freien Hand über die Halsbeuge. „Außerdem war Ladys first immer meine Devise.“ Er meinte nicht die Tür.

Sie hatte ihn verstanden. Ihre Augen lächelten ihn an, hübsche Augen, dachte er. Whiskeyfarben. Ihre Miene aber blieb ernst. „Eine gute Devise. Aber manche Ladys mögen es zwei- oder dreimal.“

„Ganz schön gierig, was?“

„Wenn ich nicht gerade Kopfschmerzen habe.“ Sie ging durch die Tür, und er schloss sie hinter ihnen beiden. „Du weißt ja doch, wie man flirtet.“

„Was soll das heißen?“

Sie zuckte mit der Schulter. „Ich hätte nicht gedacht, dass du Interesse an mir hast. Bevor ich gefragt habe, ob wir Sex haben wollen, hast du nicht geflirtet, du hast mich nicht abgecheckt … du weißt schon …“

Er hatte sie verletzt. Cullen dachte darüber nach, während sie den Flur entlanggingen. Ganz normaler Hotelstandard: beigefarbener Teppich, beigefarbene Wände. Warum lebte sie an einem so unpersönlichen Ort, der nichts über sie verriet? „Gleich wirst du mir sagen, dass ich ein arrogantes Arschloch bin.“

„Das habe ich schon. Oft. Und nicht nur, wenn du dabei warst.“

„Also denkst du an mich.“ Er grinste sie an. „Das tun viele Frauen.“

„Aha, wir sind schon beim arroganten Teil.“

Er zuckte die Achseln. Er wusste, wie er aussah. Das war Realität, keine Arroganz. „Mein Aussehen arbeitet zu sehr für mich, das ist unfair. Deshalb habe ich eine Regel: kein Flirt, keine Verführung, keine Anmache, bevor die Frau nicht grünes Licht gibt.“

Sie blieb stehen. „Willst du damit etwa sagen, du bist ritterlich?“

„Um Himmels willen, nein. Ritterlichkeit ist krank – Männer, die so tun, als würden sie eine Frau ganz keusch anhimmeln, obwohl wir doch alle wissen, dass das ein Widerspruch in sich ist.“

„Dann eben deine eigene verdrehte Version von Ritterlichkeit.“ Sie war entzückt. „Nimmst du deswegen Timms überallhin mit?“

„Ich kann dir versichern, dass er es nicht auf meinen Körper abgesehen hat. Und vice versa.“

Sie winkte ab. „Nein, ich meine, er ist wie ein herrenloser Welpe, der dir die ganze Zeit hinterherläuft. Ich kann es kaum glauben. Vorher konnte er dich nicht ausstehen.“

„Timms weiß es nicht, aber er ist auf der Suche nach einem Rudel. Er hat mich als dominant akzeptiert – das ist ihm zwar nicht klar, aber er ist nicht in der Lage, mit anderen Männern auf Augenhöhe umzugehen. Er drangsaliert die, die ihm unterlegen sind, und hält die, die ihm überlegen sind, für seine Freunde.“

Anscheinend waren sie bei ihrer Zimmertür angekommen, denn sie blieb stehen – 1014. Sie schnaubte. „Er ist kein Lupus.“

„Menschen brauchen Rudel, auch wenn ihr es nicht wahrhaben wollt. Deswegen seid ihr alle so durcheinander, vor allem die mit dem YX-Chromosom. Alkohol, Drogen, Gangs, Konkurrenzdenken, das sind alles Symptome für das Bedürfnis nach einem Rudel und nach einem festen Platz in diesem Rudel. Der hemmungslose Kult des Individuums, wie er in Amerika herrscht, lässt alle Männer glauben, sie müssten Alphas sein, aber so funktioniert das nicht.“

Sie lehnte sich gegen den Türrahmen, verschränkte die Arme und zog die Augenbrauen hoch. Sehr skeptisch. Er musste lächeln. „Hemmungsloser Kult des Individuums?“

„Natürlich. Es ist Mythos, ein Märchen, das sich die Menschen erzählen, um die moderne Isoliertheit erträglicher zu machen. Amerika wurde nicht von hemmungslosen Individualisten gegründet, sondern von Menschen, die ihr Rudel zu Hause nicht mehr mochten und ein eigenes gründen wollten – religiöse Rudel in den nördlichen Kolonien, wohlhabende Rudel im Süden. Sie waren keine Einzelgänger. Konnten sie auch gar nicht sein, denn sie brauchten einander, um zu überleben.“

„Was ist mit diesen ganzen hemmungslosen Weststaatlern? Cowboys, Planwagenzüge, Grenzer …“

„Auch die Siedler waren aufeinander angewiesen, um zu überleben. Und was die Cowboys angeht, das waren erst recht keine Individualisten. Im Gegenteil, sie waren das perfekte Beispiel für die menschliche Version von Rudeln. Die Rancher waren vielleicht manchmal Außenseiter, aber auf einer Ranch gab es keine echten Einzelgänger. Sie sammelten sich alle hinter einem starken Führer, um die Herde zu treiben, die Pferde zu versorgen und zu kämpfen.“

„Revolverhelden …“

„Waren geächtet, waren aber immer noch auf der Suche nach ihrem sozialen Status. Anders ausgedrückt, sie suchten ihren Platz im Rudel, selbst wenn er auf Angst aufbaute. Trapper bildeten die einzige Ausnahme. Einige passten sich den Eingeboren an und lebten bei einem der Stämme, aber andere lebten wirklich monatelang allein. Und oft waren sie ein bisschen verrückt.“ Er schüttelte den Kopf. „Menschen sind von Natur aus keine Einzelgänger.“

„Genauso wenig wie Lupi.“ Sie legte den Kopf schief. Ihre Blicke trafen sich. Die kühle Neugier, die er in ihrem Blick sah, tat weniger weh als Mitgefühl. Trotzdem war sie nicht angenehm. „Du hast eine Zeitlang so gelebt, nicht wahr? Als einsamer Wolf.“

„Halt den Mund, Cynna.“

Sie zeigte wieder das bittere, schiefe Lächeln, das typisch war für sie. Sie war weder beleidigt, noch, da war er sich sicher, akzeptierte sie seinen Vorschlag, das Thema zu meiden. Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und strich mit dem Daumen über die empfindliche Mulde unter dem Kiefer. Ihre Haut war überraschend weich. Das auffällige filigrane Muster darauf war bei der Berührung nicht zu spüren.

Er neigte langsam den Kopf und sah zufrieden, wie ihre Augenlider sich senkten, als ihr Körper dem Kuss zustimmte. Er mochte ihren moschusartigen Duft, ihre Haarpflegeprodukte allerdings weniger. Ein Hauch von Bleiche hing in den kurzen stacheligen Strähnen, der von einem chemisch stinkenden Gel überlagert wurde. Und dann war da noch ein Geruch …

Blut. Aus der Nähe sah er rostrote Spritzer an den Spitzen der stacheligen Strähnen. Es war nicht ihr Blut, da ihre Haut nicht verletzt worden war, als sie den Schädelbruch erlitten hatte, aber es war nicht genug, dass er den ursprünglichen Besitzer hätte wittern können. Nicht in seiner jetzigen Gestalt.

Trotzdem erinnerte es ihn daran, dass sie verletzt war. Und obwohl er festgestellt hatte, dass Vorfreude aufregend sein konnte, war er es nicht gewöhnt, zu warten.

Ihr Atem mischte sich. Ihre Lippen trafen sich.

Es hätte eigentlich ein ruhiger Kuss werden sollen. Cullen wollte nur einen Vorgeschmack, eine Kostprobe. Das Feuer hätte nur kurz auflodern sollen, ohne sie zu verbrennen. Ohne einen von ihnen zu drängen. Er hatte nicht bedacht, wie sehr der Wolf in ihm laufen wollte.

Er lächelte, als sich ihre Lippen zum ersten Mal streiften. Seine Zunge tastete vorsichtig, und sie ließ ihn hinein. Sie schmeckte noch besser, als sie roch. Sie legte die Hände auf seine Hüften und hielt seine Zunge mit den Zähnen fest.

Er drückte sie mit dem Rücken gegen die Tür. Sie war groß, und das gefiel ihm. Er spürte ihren kräftigen und doch weichen Körper an seinem, spürte die wunderbare Wärme. Dann machte sie seine guten Vorsätze zunichte. Sie legte beide Hände auf seinen Hintern und zog ihn fest an sich, während sie die Hüften hin und her bewegte.

Wilde Instinkte brüllten auf, lauter als seine Vernunft. Er vergaß, dass er rücksichtsvoll sein wollte, dass er sich Zeit lassen wollte. Sie war hier, und sie wollte ihn.

Er ließ sich fallen. Seine Hände glitten über ihren Körper, er wollte sie spüren, den Schwung ihrer Hüften, ihre üppigen Brüste, die Hitze zwischen ihren Beinen. Sein Mund wollte ihre Kehle schmecken, ihren Kiefer. Und der Rest von ihm …

Doch ihre Hand stieß ihn weg. Stieß seine Hand vom Reißverschluss ihrer Jeans weg. Es gelang ihr, ihren Mund von seinem zu lösen. „Der Flur, Cullen. Wir stehen mitten im Flur.“

„Richtig.“ Langsam wich er zurück. Er hatte erwartet, Selbstgefälligkeit in ihrem Blick zu sehen. Gemischt mit Zufriedenheit, weil sie ihn dazu gebracht hatte, die Kontrolle zu verlieren, sich von seinen Gefühlen mitreißen zu lassen. Und sie wusste es. „Tut mir leid. Ich meine … dein Kopf. Tut er noch weh?“

„Mein Kopf?“ Sie blinzelte ihn benommen an. Vor Lust oder vor Schmerz? „Oh. Er tut weh, aber …“

Aber es war ihr egal gewesen. Für ein paar Augenblicke hatte sie den Schmerz vergessen oder ihn nicht mehr wahrgenommen. Sein Lächeln war erst zaghaft, dann wurde es breiter. „Oh, wir werden viel Spaß miteinander haben, shetanni rakibu.“ Er strich mit den Fingerknöcheln über ihr Kinn. „Bald. Aber jetzt …“ Er holte tief Luft und richtete sich auf. Seine Jeans war viel zu eng. Himmel, selbst seine Haut war zu eng. „Schlaf gut“, sagte er und strich ihr noch ein letztes Mal über die Wange.

Sie leckte sich die Lippen. „Du auch.“

Das war nicht sehr wahrscheinlich, zumindest nicht sofort. Er musste unbedingt den Bericht lesen, den Lily für ihn besorgt hatte. Aber eins nach dem anderen. Sobald er seinen herrenlosen Welpen sicher untergebracht hatte, würde er laufen gehen. Als Wolf.

„Ich habe dir gesagt, dass ich geduldig sein kann, wenn ich muss“, sagte er und ließ sie los. „Das war gelogen. Ich bin kein geduldiger Mann.“