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Mario Andretti in einem Formel-1-Wagen hätte sie auch nicht schneller nach D.C. bringen können. Die Strecke, für die man normalerweise drei Stunden brauchte, schafften sie jetzt in … na ja, vier. Benedict gab Vollgas, so oft er konnte.
Lily hatte gehofft, dass es der Netzknoten war, der den Energiewind verstärkt hatte. Das Versammlungsfeld war genau über einem solchen Knoten gewesen, deswegen war es logisch, dass die Wirkung dort besonders stark war.
Aber die Welt war voller Netzknoten.
In Polen, hieß es, sollte es eine Kernschmelze in einem Reaktor gegeben haben. Der Mittlere Osten war buchstäblich explodiert. In Palästina, Israel, Syrien und Ägypten waren Munitionslager von ganz allein in die Luft gegangen. In den USA war es zu einem Zusammenstoß zweier Flugzeuge gekommen, als das Kontrollzentrum am Los Angeles International Airport ausgefallen war. Überall war Feuer ausgebrochen, das Schlimmste in Houston, wo zwanzig Straßenzüge brannten. Zeugen behaupteten, Feuer wäre vom Himmel gefallen wie Regen. Im Nordosten hatte es einen Stromausfall gegeben, als die Computer, die das Stromnetz kontrollierten, verrückt spielten. Tausende Menschen steckten daraufhin in U-Bahnen, Bürogebäuden und im Stau fest. Die Wall Street stürzte ab; ein Abfall der elektrischen Spannung wurde bis nach Charleston gemessen.
Ein Schwarm von Greifen war über Washington gesichtet worden. Die Hauptstadt schickte daraufhin Jets los – die, wie sich herausstellte, nicht besonders geeignet waren, Fabelwesen zu jagen, wenn die Computer nicht funktionierten.
Der Energiewind hatte nur zwölf Minuten gedauert, aber immer noch trat Magie aus den Energieknoten überall auf der Welt aus. Nicht viel, aber doch so viel, dass immer wieder Computerstörungen auftraten. Das Internet war an vielen Orten zusammengebrochen; auch einzelne Computer waren beschädigt – in Flugzeugen, Autos, Zügen, in manchen Haushalten und Büros. Die Leute wurden aufgefordert, zu Hause oder an ihrem Arbeitsplatz zu bleiben und sich nicht ans Steuer zu setzen. Überall kam es zu Staus wegen ausgefallener Ampeln und wegen Autos, bei denen der Motor versagte.
Einiges erfuhren sie von Ruben, als Lily ihn endlich erreicht hatte, das meiste jedoch aus dem Radio. Funksignale waren nicht gestört, nur die Stationen mit einer computerisierten Playlist waren nicht mehr auf Sendung. Das Handynetz war mal stärker, mal schwächer, aber Lily gelang es, die Polizei von D.C. zu erreichen, kurz nachdem sie Cynnas Nachricht abgehört hatte. Sie erfuhr, dass bereits zwei Einheiten zu deren Adresse geschickt worden waren. Mehr wollte man ihr allerdings nicht sagen. Den Festnetzanschluss in dem Haus oder Cynnas Handy konnte sie nicht erreichen.
Sie hielten bei einem Wal-Mart in Harrisonburg. Benedict bestand darauf, dass zumindest die Männer etwas aßen, also besorgte Lily Huhn zum Mitnehmen und Jeans, Sweatshirts und Flipflops für Cullen und Benedict. Und Feuchttücher, damit Rule sich das getrocknete Blut abwischen konnte. Das automatische Kassensystem konnte sich nicht in das Netzwerk einloggen. Lily konnte ihre Visa-Karte nicht benutzen, und sie hatte kein Bargeld dabei. Und natürlich brach, gerade als sie zurück zum Wagen rannte, um Geld von Rule zu holen, ein Gewitter aus.
Zwölf Minuten später rief Li Qin an.
„Deine Großmutter lebt, Lily. Harry wurde nicht verletzt. Ist Rule Turner da? Ich würde gern mit ihm sprechen.“
Sie gab Rule das Telefon und war gezwungen, zu warten. Während die anderen im Wagen zweifellos jedes Wort mitbekamen, hörte sie nur seine knappen Antworten.
Rule unterbrach abrupt die Verbindung. Er holte tief und scharf Luft, als hätte er für einen Moment vergessen zu atmen, und seine Brust hob und senkte sich. Er starrte ausdruckslos das Handy an, dann gab er es ihr wieder. „Kein Netz.“
„Rule?“ Sie legte eine Hand auf seinen Arm.
Er nickte einmal knapp, als wolle er ihr sagen Ich bin hier. Gib mir einen Moment. Sie sah, wie viel Anstrengung es ihn kostete, sich so weit zusammenzureißen, dass er sprechen konnte. Aber es gelang ihm schließlich. „Toby lebt und ist anscheinend nicht verletzt. Aber er liegt im Koma. Er wurde ins Hospital Center in Washington gebracht. Einer der Wachleute ist tot – Freddie. Die anderen sind verletzt, zwei von ihnen schwer. Deine Großmutter …“ Er legte seine Hand auf die ihre. „Sie hat Li Qin losgeschickt, damit sie Hilfe holt, aber sie ist dort geblieben, um zu kämpfen. Sie ist verletzt, aber Li Qin sagt, sie wird wieder gesund. Sie ist ebenfalls im Krankenhaus. Zusammen mit den anderen Wachen. Und mit Timms.“
Lily schluckte. „Was ist passiert?“
„Es war ein Dämon. Nicht einer von den Rotäugigen. Li Qin hat ihn nicht gesehen – Madame Yu hat sie weggeschickt, bevor er die Tür aufgebrochen hat –, aber jemand hat ihn ihr beschrieben. Er ging aufrecht, hatte eine menschenähnliche Gestalt, aber er war sehr breit, vielleicht drei Meter groß, mit Stoßzähnen und mit einem Schwanz. Rötliche Haut, unbehaart und männlich.“
Wie sie es auch drehten und wendeten, aus diesen wenigen Informationen waren keine verlässlichen Schlüsse zu ziehen. Alles deutete darauf hin, dass der Dämonenbeschwörer den Energiewind benötigte, aber keiner von ihnen wusste eine Antwort auf die Frage, warum die erste Angriffswelle Thronfolger zum Ziel gehabt hatte und warum dieser Überfall sein Ziel verfehlt hatte.
Es sei denn, Toby wäre das Ziel gewesen.
Bei New Market mussten sie die Interstate verlassen und einen Umweg über Luray und Sperryville nehmen. Eine Streife der Autobahnpolizei hatte ihnen gesagt, dass auf der I-44 drei wollige Mammuts aufgetaucht waren und ein Verkehrschaos verursacht hatten, das noch Stunden dauern würde.
Immer wieder versuchten sie, mit dem Handy durchzukommen. Nach sieben Versuchen erreichte Rule endlich seinen Vater und erzählte ihm von Toby. Isen wusste nichts von irgendwelchen anderen Angriffen, aber bisher hatte er nicht mehr als zwei andere Rhos erreichen können. Selbst das Festnetz arbeitete nicht mehr zuverlässig, vor allem bei Ferngesprächen. Auch diese Verbindungen wurden von Computern gesteuert. Rule versuchte immer wieder, das Krankenhaus zu erreichen, doch ohne Erfolg. Er gab ihr das Handy zurück.
Sie hörte ihre Nachrichten ab und vernahm die Stimme ihrer Mutter: „Dein Vater hat sich den Kopf gestoßen, als der Motor ausgesetzt hat und der Wagen hinter ihm aufgefahren ist, aber es ist nichts Schlimmes. Es geht ihm gut, mir geht es gut, und deinen Schwestern geht es auch gut. Aber was ist mit dir? Wo bist du? Ruf mich an. Bitte. Du solltest mich nicht so in Sorge lassen.“
Rule legte den Arm um sie. Sie lehnte sich an ihn und blinzelte, um die Tränen zurückzuhalten, und versuchte, ihre Mutter zurückzurufen.
Aber sie hatte kein Glück. Sie selber hatte wieder ein Netz, aber das Handy, das sie anrief, nicht. Sie wählte die Festnetznummer ihrer Eltern, die Handynummer ihrer Mutter, die Geschäftsnummer ihres Vaters, die Handynummer ihres Vaters und schließlich auch die Nummer des Handys ihrer kleinen Schwester. Wenigstens war bei Letzterer ein Klingelton zu hören, aber Beth nahm nicht ab. Lily hinterließ eine Nachricht. Da sie immer noch ein Netz hatte, versuchte sie wieder, Cynna zu erreichen – ohne Erfolg –, und dann noch einmal das Krankenhaus.
Dort war immerhin ein Fortschritt zu verzeichnen. Sie hörte „alle unsere Leitungen sind belegt“ statt Stille.
Schließlich hörte sie die letzte Nachricht ab, die des Unbekannten. Wahrscheinlich war es nur irgendein Verkaufsfritze, aber sie brachte es nicht über sich, Nachrichten zu löschen, ohne sie gehört zu haben.
„Lily Yu.“ Es war die Stimme einer Frau, tief und melodisch, mit einem leichten Akzent, den sie nicht einordnen konnte. „Hier ist Jiri. Sie suchen nach mir, und ich bin bereit. Ich werde mit Instruktionen für Sie wieder anrufen. Sagen Sie den Behörden nichts von diesem Anruf, niemandem von Ihren FBI- und Polizeifreunden. Oh …!“ Sie lachte leise. „Außer natürlich Cynna. Ich vergesse manchmal, dass sie ja jetzt bei der Polizei ist. Aber sagen Sie es niemand anderem, oder Rule Turners Sohn wacht nie mehr auf.“
Als sie beim Krankenhaus ankamen, wartete Cynna schon auf sie. Mit langen Schritten ging sie vor der Aufnahme auf und ab. Als Cynna sie sah, deutete sie auf einen Jungen, der mit verschränkten Armen an der Mauer des Gebäudes lehnte. Er kam zu ihnen geschlendert, betont lässig wie ein richtig harter Kerl. Ganz Gangster, inklusive der dazu passenden Hose.
„Jo-Jo wird den Wagen für euch parken“, sagte sie. „Ich habe ihm schon die Hälfte bezahlt. Den Rest bekommt er, wenn er uns die Schlüssel bringt.“
Zweifelnd musterte Lily Jo-Jo.
„Schon in Ordnung“, sagte Cynna. „Jo-Jo hat einen Freund hierhergebracht, der genäht werden musste, und sein Freund kann geradeaus denken, nur bei Jo-Jo hapert es in dieser Hinsicht ein bisschen.“
Sie nahmen Cynna beim Wort und stiegen aus dem Wagen. Der Kumpel glitt hinter das Steuer und schürzte die Lippen. Offensichtlich war ein Suburban nicht sein Stil.
„Wie hast du es so schnell hierhergeschafft?“, fragte Lily, als sie ins Gebäude hineinhasteten. „Ich dachte, Flugzeuge dürften noch nicht starten.“
„Linienflugzeuge nicht. Aber ich bin mit der Air Force geflogen.“
Als sie in die Randbezirke von D.C. eingefahren waren, hatten sie Cynna endlich telefonisch erreichen können. Danach war der Verkehr erstaunlicherweise nicht mehr sehr dicht gewesen. Entweder hatten die meisten die Stadt bereits verlassen, oder sie befolgten die Anweisungen und blieben tatsächlich, wo sie waren.
„Toby ist auf der Intensivstation“, sagte Cynna und fügte schnell hinzu, „nicht, weil sein Zustand kritisch wäre. Seine Werte sind gut, aber seine Herzfrequenz ist sehr niedrig. Er ist in einem Trancezustand, da ist es eben so, dass sein Herz langsam schlägt, aber die Ärzte stellen sich taub, wenn man anfängt, von Magie zu reden. Selbst mit dem kilingo …“
„Was?“
„Jiri hat ihn gezeichnet.“ Cynna schloss ihre Hand ganz fest, so als wollte sie ihr eigenes Zeichen verstecken. „So wie mich auch. Aber sein Zauber ist anders als meiner. Ich … er ist da. Da drinnen. Ich habe es überprüft. Er wurde nicht gezwungen, einen Dämon zu reiten oder irgendetwas Derartiges zu tun.“
Lily stockte der Atem. An diese Möglichkeit hatte sie gar nicht gedacht.
Sie hatten Glück – die Leute stiegen gerade aus dem Aufzug, als sie ankamen. Sie drängten sich in den kleinen Kasten. Cynna drückte den dritten Stock, und die Türen schlossen sich.
Lily griff nach Rules Hand, obwohl sie vermutete, dass seine Sorge um Toby zu groß war, als dass er den engen geschlossenen Raum bemerkte. Aber auch sie brauchte den Kontakt. „Was ist mit meiner Großmutter?“
„Sie ist aus dem OP heraus“, sagte Cynna. „Es geht ihr gut. Es geht ihr wirklich fantastisch. Ich habe gerade nach ihr gesehen.“
„OP?“, sagte Lily erschrocken. Großmutter heilte noch schneller als ein Lupus. Wenn sie operiert werden musste …
„Er hat sie mit dem Stoßzahn durchbohrt.“
Lily bekam einen bitteren Geschmack im Mund. Sie schluckte. Zweimal.
„Es geht ihr gut“, wiederholte Cynna hastig. „Die Lunge hat es am schlimmsten erwischt, aber sie hat nie das Bewusstsein verloren. Und sie konnte keine Narkose bekommen – Li Qin hat es mir erklärt. Aber sie hat meinen Zauber benutzt. Der hat den Schmerz ausgeschaltet, damit sie operieren konnten. Man hat mir erzählt, sie hätte dem Chirurgen sogar während der OP gesagt, was er zu tun hätte.“
Etwas in ihr drängte nach außen. Es war kein Lachen, nein, nicht ganz. Aber Erleichterung. „Das sieht ihr ähnlich.“
„Ihr Chirurg versteht die Welt nicht mehr. Er will einen Artikel über sie in irgendeinem medizinischen Fachblatt veröffentlichen. Eure Leute …“ Sie sah Benedict an. „Tut mir leid. Stan Carlson ist gestorben. Es stand kein Schamane zur Verfügung, um ihn in Schlaf zu versetzen, und er hat den Schmerzzauber nicht aktivieren können. Er ist auf dem OP-Tisch gestorben.“
„Den beiden anderen geht es gut“, fuhr sie fort. „Brown musste operiert werden, weil seine Rippen in einem schlimmen Zustand waren. Auch er konnte den blöden Zauber nicht aktivieren, aber er hat das Bewusstsein verloren, und jetzt ist er stabil. Lincoln hatte nur ein paar gebrochene Knochen. Die mussten lediglich gerichtet und gegipst werden. Sie liegen zusammen auf einem Zimmer im zweiten Stock.“
„Und Timms?“, fragte Cullen.
„Ist gerade operiert worden. Er … äh, ist in einem kritischen Zustand.“
Ein paar Minuten später standen Lily und Rule in der Intensivstation und sahen auf Toby hinunter. Sie hatte versucht, sich zu wappnen – gegen den Anblick der riesigen Apparate und gegen den Anblick des Jungen. Klein und zerbrechlich würde er aussehen, hatte sie gedacht, und schrecklich blass.
Maschinen piepten, überall waren Schläuche, aber Toby sah nicht krank aus oder blass. Er sah aus wie ein Kind, das erschöpft war vom Spielen und das jetzt Schlaf nachzuholen hatte. Auch seine Gesichtsfarbe war genau wie immer. Seine Nagelbetten waren rosig und gesund. Doch er wachte nicht auf. Er konnte nicht aufwachen.
Das kilingo war auf seiner Stirn. Es war klein, ungefähr so groß wie eine Briefmarke. Die verflochtenen Linien waren so fein wie Spinnwebfäden. Sie strich sein Haar zurück und legte ihre Hand auf seine Stirn.
Es war orange. Glatt und irgendwie komplex dieses Mal, aber die Magie fühlte sich eindeutig orange an. „Dämonenmagie“, sagte sie leise. „Nicht genauso wie die anderen Arten, die ich bisher berührt habe. Irgendwie fühlt es sich an wie aus mehreren Schichten. Als ob …“
„Als ob jemand sie zusammengestellt hätte.“ Cynna stand im Eingang des Krankenraumes. „Die Dämonenmagie, die du bisher berührt hast, kam direkt von der Quelle, und Dämonen wenden ihren Zauber nicht so an wie wir. Aber ein shetanni mwenye – ein Dämonenmeister – schon.“ Cynna sah auf den schlafenden Jungen hinunter, und ihre Stimme klang gepresst, als koste es sie große Anstrengung, es auszusprechen. „Jiri ist ein shetanni mwenye. Sie war das. Sie hat ihm das angetan.“
Cynna musste es wissen. Sie war dort gewesen, als es passiert war, gegen ihren Willen durch das Zeichen auf ihrer Handfläche dazu gezwungen. So viel hatte sie ihnen schon am Telefon erzählt.
„Kannst du … nein, natürlich nicht. Wenn du wüsstest, wie man den Zauber aufhebt, hättest du es längst getan.“
„Ich kann keinen Zauber aufheben, den ich nicht kenne“, bestätigte sie, und ihre Stimme war voller Bedauern. „Aber Cullen kennt einen Schlafzauber. Ich hoffe, dass wir beide zusammen herausfinden, wie wir ihn von dem Zauber befreien können.“
Sie versuchten es. Rule und Lily mussten zurück in den Warteraum der Intensivstation, weil nur eine begrenzte Anzahl von Besuchern erlaubt war. Aber sie mussten nicht lange warten, bis Cullen zurückkam. Er schüttelte den Kopf.
„Verdammt, Cullen!“ Rule war drauf und dran, zu explodieren. „Du musst doch etwas tun können!“
„Vielleicht …“ Er machte zwei schnelle Schritte, blieb dann stehen und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Vielleicht wenn ich genug Zeit habe, den Zauber zu untersuchen, aber … Herrgott, Rule. Indem sie seine Haut gezeichnet hat, ist sie an ihn gebunden. Die Fäden laufen überallhin und gehen tief in ihn hinein. Wenn ich an dem falschen Faden ziehe, könnte sein Herz aufhören zu schlagen.“
Großmutter lag einen Stock höher als Toby. Anders als er sah sie furchtbar aus – eingefallen, zerbrechlich und blass.
Nachdem Cynna ihnen so munter verkündet hatte, dass es ihrer Großmutter gut ging, konnte Lily ihren Schreck nicht ganz verbergen, als sie sich zu der alten Frau hinunterbeugte, um sie auf die Wange zu küssen. Wenn es ihr jetzt fantastisch ging, in welcher Verfassung war sie dann wohl vorher gewesen? „Großmutter“, sagte sie mit unsicherer Stimme. „Du kämpfst mit Dämonen? In deinem Alter?“
Ihre Großmutter zog eine Schulter hoch. Ihr anderer Arm lag in einer Schlinge. „Er wollte mir nicht in die Augen schauen. Sonst hätte ich nicht kämpfen müssen.“ Sie sah Rule an. „Der Junge. Sie haben mir gesagt, dass es ihm gut geht, aber dass er schläft.“
„Ja. Körperlich geht es ihm gut. Er wurde mit einem Zauber belegt.“
Madam Yu nickte kurz. „Also. Ich konnte sie nicht aufhalten. Ich habe es versucht, aber … Pah“, sagte sie, als ihre Augen plötzlich zu glänzen begannen.
Wohlweislich tat Lily so, als würde sie die Tränen nicht bemerken. „Sie? War es denn mehr als einer?“
„Der Dämon und der, der ihn kontrolliert hat.“ Sie war gereizt. „Er wollte nicht die Treppe hinaufgehen. Er wollte mich erst töten und mein Blut trinken. Jemand hat ihn davon abgehalten.“ Sie wandte den Blick ab. „Ich werde müde. Geht jetzt.“
Neben Lily erhob sich Li Qin. Sie hatte sie begleitet, um Großmutter zu besuchen, während Cynna bei Toby blieb und Cullen nach Timms und Benedict nach den beiden überlebenden Wachen sah. Leise sagte sie: „Du kannst gehen, Lily, wenn du möchtest. Ich werde bei ihr bleiben.“
Großmutter sah sie böse an. „Ich brauche niemanden, der meine Hand hält.“
„Natürlich nicht.“ Li Qin ließ sich auf einem Stuhl neben dem Bett nieder und streckte ihre Hand aus. „Aber ich.“
Großmutter starrte sie an. Aber dann zog sie die Mundwinkel nach unten, um ihre Belustigung nicht zu zeigen. Als sie gingen, hielten sich die beiden Frauen an der Hand.
„Ich wusste nicht, dass sie eine Liebesbeziehung haben“, sagte Rule, als sich die Tür hinter ihnen schloss. „Normalerweise merke ich so etwas.“
„Ich bin mir immer noch nicht sicher“, sagte Lily. „Obwohl ich mir die Frage auch gestellt habe. Zwischen ihnen ist Liebe, aber was für eine Art von Liebe? Es geht mich wahrscheinlich auch gar nichts an – was meine Großmutter mir auch deutlich zu verstehen geben würde, wenn ich so verrückt wäre, sie zu fragen. Einmal habe ich zu meiner Mutter etwas gesagt …“
„Ich bin sicher, dass sie es gut aufgenommen hat.“
Lily war selber überrascht, als sie lachen musste. Es war zwar schnell wieder vorbei, aber sie hätte nicht gedacht, dass sie überhaupt in der Lage wäre, zu lachen. „Das kannst du wohl sagen. Ich nicht, aber du schon.“
„Wir sollten jetzt lieber Toby holen.“
„Ihn holen …“ Sie blieb stehen und wählte ihre Worte mit Bedacht, als sie weitersprach. „Du willst ihn doch sicher nicht aus dem Krankenhaus holen.“
„Es gibt keinen Grund, warum er hierbleiben sollte.“ Er klang vernünftig. Ruhig. „Angeschlossen an eine Menge Maschinen, die ihm doch nicht helfen können … natürlich nehmen wir ihn mit nach Hause. Da gehört er jetzt hin. Nach Hause. Dann wird es für Cullen einfacher, herauszufinden, wie er den Zauber rückgängig machen kann.“
Während sie durch den Flur gingen und dann in den Aufzug stiegen, versuchte sie ihm möglichst sanft beizubringen, warum Toby in einem Krankenhaus besser aufgehoben war. Körperlich ging es ihm zwar gut, und er würde die Intensivstation vermutlich verlassen können. Aber sie konnten nicht wissen, ob er stabil war. Besser er war irgendwo, wo man ihm zur Not wenigstens eine Infusion legen konnte. Außerdem hatten sie kein Zuhause, in das sie ihn bringen konnten: Der Wohnsitz der Nokolai war versiegelt. Das ganze Haus war voller Blut.
Rule redete ganz vernünftig weiter. Sein Zuhause war da, wo sie waren – ob nun in einem Hotel oder in einem geliehenen Surburban, spielte keine Rolle. Wenn sie meinte, Toby würde eine Infusion brauchen, dann würden sie die Nadel drinlassen. Aber außerhalb des Krankenhauses wäre es für Cullen einfacher, den Zauber zu studieren und ihn rückgängig zu machen.
Er hatte Toby nicht angefasst, fiel ihr ein, als sie sich wieder dem Eingang zur Intensivstation näherten. Weder hatte er Tobys Gesicht berührt noch nach seiner Hand gegriffen, als er ihn zwischen all den piependen Apparaten und Schläuchen hatte liegen sehen. Sie hätte wissen müssen, dass sich irgendetwas ihn ihm sträubte. Er und Toby berührten sich oft und gern, sie umarmten, tätschelten, drückten sich. Manchmal hatte sie sie darum beneidet. Ihre eigene Familie vermied diese Art von körperlichem Kontakt eher.
Sie hatte gedacht, es läge daran, dass er versuchte, mit der Situation klarzukommen. Sie sah ihm an, dass er gegen die Angst ankämpfte, damit er handlungsfähig blieb. Aber er schien sich gut zu halten. Als sie sich dem Krankenbett seines Sohnes näherten, beobachtete sie ihn aufmerksam.
Er sah immer noch so aus, als ginge es ihm gut. Aber das täuschte.
Die Besucher hatten wieder die Plätze getauscht. Benedict und Cullen waren nun bei Toby. Natürlich wollten die Schwestern sie nicht alle auf einmal zu ihm lassen, deswegen bat Lily Benedict und Cullen, mit ihr zu kommen und Rule ein paar Minuten allein mit Toby zu geben. Als sie gingen, sprach er mit seinem Sohn … doch er berührte ihn nicht.
Wenn er ihn berührt hätte, wäre alles irgendwie zu real gewesen.
Auf der anderen Seite der Schwingtüren berichtete sie, dass Rule fest entschlossen war, Toby aus dem Krankenhaus zu holen. Ihr versagte die Stimme.
Benedict nickte nur. „Ich rede mit ihm. Draußen.“
„Das bringt nichts.“ Sie war verzweifelt, den Tränen nah, und sie hasste es. Tränen waren so sinnlos.
„He.“ Sie erschrak, als Cullen den Arm um sie legte. Er drückte sie an sich. „Wir werden ein bisschen anders mit ihm reden als du.“ Er sah Benedict an. „Du bist der Beste, aber Rule ist auch nicht schlecht. Ich komme lieber mit. Ich bin ziemlich schnell, und wir können nicht noch mehr Verletzungen gebrauchen.“
Benedict nickte und drückte die Türen zur Intensivstation auf.
„Ihr redet nicht vom Reden“, sagte Lily verständnislos.
Benedict hielt inne. „Wir werden reden. Dann wird er uns schlagen. Das braucht er jetzt. Er ist zu erschöpft, um viel Schaden anrichten zu können, aber Cullen hat recht. Zu zweit bekommen wir ihn in den Griff, ohne dass wir ihn verletzen.“