31
Sie war nicht mehr in Chicago. Sie war nicht mehr in ihrem eigenen Körper.
Der Orientierungsverlust war kurz, aber heftig. Als wenn man beide Augen schließen und dann vier auf einmal wieder öffnen würde. Als wenn die Körperachse sich verschieben würde, während die Schwerkraft begann, Hip-Hop mit einem zu tanzen.
Es war wie reiten. Ganz genau wie reiten. Reflexe, die lange nicht benutzt worden waren, übernahmen die Führung und brachten sie in Einklang mit ihrem neuen Körper, als er/sie/oder sie beide die Straße hinaufschritten.
Er war groß. Das war ihr erster klarer Gedanke. Das war der größte Mistkerl, den sie je geritten hatte. Ihrer Schätzung nach waren seine Augen mehr als drei Meter über dem Boden, aber am intensivsten spürte sie seine gewaltige Masse.
Durch seinen weiten Blick sah sie auf beiden Seiten Häuser, rote, goldene, hellgraue Häuser, mittels Augen, die Farben anders verarbeiteten. Wo waren sie? Sie drehte ihren/seinen Kopf – oder sie versuchte es zumindest. Doch die Muskeln gehorchten ihr nicht.
Panik überkam sie, echte Panik, die doch merkwürdig dumpf war und die schnell wieder abebbte.
Weil er es nicht fühlte, wurde ihr klar. Und weil sein Körper nicht darauf reagierte, wurden ihre Gefühle wieder schwächer. Sein Körper gab jedoch seine Gefühle wieder. Sie wusste, was er fühlte.
Gier. Hunger.
Und wenn sie ihn, er sie aber nicht fühlte und wenn seine Muskeln ihr nicht gehorchten, dann war sie nur ein Reisender, kein Reiter. Doch das war eigentlich unmöglich. Aber trotzdem war sie da. Sie musste hier raus, zurück zu sich selbst. Im Geiste rief sie Worte, die sie zurückbringen sollten.
Doch nichts geschah. Diese Worte mussten laut ausgesprochen werden, und diese Kehle, diese Lippen gehorchten ihr nicht. Aber den Willen, den hatte sie. Dazu verfügte sie noch über einiges Wissen. Verzweifelt versuchte sie, sich von ihm zu lösen. Nichts geschah.
Sie war gefangen.
Ein Teil von ihr fühlte sich, als würde sie keuchen vor Angst und vor Anstrengung. Ein anderer Teil – nein, es war der Dämon, der die leichte Erregung verspürte, als er die Häuser um sich herum betrachtete, sie mit einem Sinn ansah, wie ihn kein Mensch besaß. Dämonen nannten diesen Sinn üther. Cynna nannte es insgeheim ihren Lebenssinn. Das war es nämlich, was sie damit aufnahmen. Der Dämon spürte das Leben um sich herum – am schärfsten spürte er das Leben in den Sträuchern, dünn, aber wohlschmeckend; die dickeren Leben in den Häusern spürte er wegen der Entfernung und wegen den Mauern viel schwächer …
Er konnte sie nicht fressen. Er würde sie nicht fressen. Das rief sie sich selber in Erinnerung. Dämonen fraßen fast alles, was lebte, außer Menschen. Denn mit dem Fleisch nahmen sie auch etwas von dem auf, was das Leben des Menschen ausmachte, und die Seele trieb sie in den Wahnsinn. Das glaubten sie oder daran erinnerten sie sich. Das Gedächtnis eines Dämons verstehen zu wollen konnte auch einen Menschen in den Wahnsinn treiben, denn sie fraßen sich gegenseitig und nahmen dabei einen Teil dessen, den sie gefressen hatten, in ihr eigenes Bewusstsein auf …
Oh Gott. War sie etwa gefressen worden? War das der Grund, warum der Körper ihr nicht gehorchte oder sie nicht zurück in ihren eigenen Körper konnte?
Jetzt war ihre Angst so groß, als wollte sie sie verschlingen. Wild um sich schlagend, ließ sie sich von dem Strudel der Angst mitreißen …
Der Dämon blieb stehen. Und fing an zu sprechen. „Cynna. Halt still. Du kannst hier nicht heraus, bevor ich dich nicht freilasse. Du musst achtgeben. Du willst mir die Kontrolle entreißen. Das kannst du nicht, ja, du kannst es noch nicht einmal versuchen, wenn du den Körper nicht kennst. Gib acht.“
Die Stimme des Dämons war ein unglaublich tiefer Bass. Sie klang … gekränkt. Das riss sie so lange aus ihrer Panik heraus, dass sie wieder denken konnte.
Nicht der Dämon hatte zu ihr gesprochen, sondern Jiri. Jiri, die ihn ritt und die sie zu einer Mitreisenden gemacht hatte. Sie war in diesen Körper gezwungen worden, aber sie war nicht gefressen worden.
Und Jiri hatte recht, der Teufel sollte sie holen. Cynna musste besser achtgeben, wenn sie es schaffen wollte, die Kontrolle über den Dämon zu bekommen. Und sie brauchte nicht seinen ganzen Körper. Die Kehle und das Maul genügten ihr, um die Worte zu sprechen, die sie befreien würden. Aber zuerst musste sie seinen Körper kennenlernen, sie musste herausfinden, wie sie mit ihm umgehen musste. Er unterschied sich zu sehr von denen, die sie damals geritten hatte.
Während sie schweigend einen weiteren Block zurücklegten, achtete Cynna aufmerksam auf seinen/ihren Körperschwerpunkt und auf die Bewegungswahrnehmung seiner/ihrer Muskeln. Die seltsamen Farben, die ihr der Blick des Dämons vermittelte, lenkten sie ab. Die Gegend kam ihr bekannt vor, und doch war sie ganz anders, sodass sie sie nicht erkannte. Es war ein auf Sicherheit bedachter Dämon, der auf Autos achtete und ihnen auswich. Natürlich konnten die Fahrer ihn nicht sehen, aber Hunde bellten wie wild, wenn sie vorbeigingen, ohne einen genaueren Blick auf die Häuser zu werfen.
Das, was sie, wenn auch nur flüchtig, sah und hörte, sagte ihr, dass sie sich in einer Stadt befanden. In einer Stadt, die sie kannte. In dieser oder in so einer ähnlichen Straße war sie schon einmal gewesen.
Er war älter alle Dämonen, die sie bisher geritten hatte. Viel älter. Das schloss sie aus seiner Körpermasse, aus seiner unbeschreiblichen Schwere, seiner Dichte … er fraß schon sehr, sehr lange Leben. Alt bedeutet auch stark und mächtig – dieser Gedanke machte ihr so große Angst, dass sie eine Weile brauchte, bis ihr auffiel, welches Pronomen sie benutzt hatte. Er?
Ja, verstand sie, als die riesigen Beine sie/ihn/sie beide den kalten Bürgersteig entlangtrugen. Dieser hier war auf jeden Fall männlich. Die meisten Dämonen, die sie ihn ihrer vergeudeten Jugend geritten hatte, waren zwar Hermaphroditen gewesen, doch einmal hatte sie auf einem Inkubus gesessen, deswegen wusste sie Bescheid: Männliche Dämonen fühlten sich anders an. Es lag nicht nur an den fehlenden Brüsten oder dem zusätzlichen Organ im Schritt – die jüngeren Dämonen waren mit beiden Genitalien ausgestattet. Und Kraft hatte ganz sicher nichts mit dem Geschlecht zu tun, nicht bei Dämonen.
Aber männliche Dämonen fühlten sich anders an.
Er blieb stehen und sah ein Haus an, ein Haus, das sie kannte, auch wenn es in Dämonenaugen lila und beige angestrichen war.
Washington. Sie waren in Washington, D.C., und er/sie/sie beide sahen Rules Haus an.
Rule ließ Brady nicht aus den Augen. Der Mann hatte ganz offensichtlich mit Victors Ankündigung gerechnet, was die Theorie, dass Victor Bradys Ernennung ohne viel Aufheben durchdrücken wollte, noch plausibler machte. Aber was wollte er dadurch erreichen, dass er Rule jetzt mit der Waffe bedrohte?
„Brady.“ Lily hob die Stimme. „Wenn Sie nicht vorhaben, uns alle drei zu erschießen, hören Sie lieber auf damit. Ich bin ein Cop. Ich habe es nicht gern, wenn jemand eine Waffe auf mich richtet.“
„Eine Waffe?“ Brady zog die Augenbrauen in übertrieben gespielter Verwirrung hoch. „Ich habe keine Waffe gezogen. Oder doch?“ Grinsend blickte er in die Runde.
Die meisten der Umstehenden waren zurückgewichen, sodass Platz war zwischen ihm und ihnen. Aber ungefähr zehn Männer scharten sich um Brady.
„Hast du dir ein Rudel zusammengesucht, Brady?“ Cullen ließ seine Frage absichtlich wie eine Beleidigung klingen.
Rule glitt übergangslos in den Kampfmodus, in dem Wolf und Mann eins wurden. Sein Denken war scharf, sein Ziel war klar: dafür sorgen, dass die anderen am Leben blieben, Brady töten. „Er ist nicht allein“, sagte er sachlich, „und die anderen werden nichts unternehmen, auch nicht die, die ihn hassen. Nicht während der Ernennungszeremonie.“
„Ich kann ihm sein Spielzeug wegnehmen“, sagte Benedict. „Kleine Jungs dürfen nicht mit Schusswaffen spielen.“
„Keiner bewegt sich“, sagte Brady. „Wenn ihr einem Freund winkt oder euch auch nur an der Nase kratzt, könnte ich das als Bedrohung auffassen.“
Rule begann, mit seiner inneren Stimme zu sprechen, und zwar so leise, dass nur Benedict und vielleicht noch Cullen ihn verstehen konnten: Gebt mir eine Sekunde, dann stelle ich mich vor Lily. Wenn er einen Schuss abgeben kann …
Lily schien seine Gedanken zu lesen. Sie schob sich langsam rückwärts, und aus den Augenwinkeln sah er, dass sie die Hand in ihre Jacke gleiten ließ.
„Äh, äh, äh!“ Brady visierte Rules Stirn an. „Es sei denn, du willst herausfinden, wie schnell deine Süße Hirnmasse heilen kann.“
Benedict dachte über Rules Vorschlag nach, schüttelte dann aber ganz sacht den Kopf. Er würde dich erwischen, bevor ich ihn aufhalten kann. Wir müssen ihn eine Sekunde ablenken. Seabourne …
„Leidolf.“ Victors Stimme übertönte den Lärm. Er wandte sich an seinen Clan. „Wenn ihr hören wollt, dann schweigt.“
Cullens Stimme war selbst für Rule kaum zu hören: Ich kann kein Feuer werfen, ohne eine Bewegung zu machen.
Victor rief: „Ich ernenne Alex Thibodaux zum Lu Nuncio.“
Ein vielstimmiges Brüllen erhob sich aus der Menge. Rule hörte es, ohne den Blick von Brady abzuwenden, doch der Mistkerl ließ sich nicht eine Sekunde lang ablenken. Also hatte er damit gerechnet. Doch das ergab keinen Sinn. Thibodaux hatte nicht das richtige Blut, er durfte den Clan nicht anführen. Wenn Victor nicht den Verstand verloren hatte, dann …
„Leidolf“, schrie Victor. „Schweigt! Alex wird unser neuer Lu Nuncio sein … nicht unser Thronfolger.“
Was, zum Teufel …?
„Ja, ich breche mit der Tradition“, sagte Victor gerade. „Aber es gibt einen Präzedenzfall. Der Thronfolger muss kein Lu Nuncio sein. Ich habe mich mit unserer Rhej beraten und mit meinen Räten. Der Clan der Etorri hat keinen Lu Nuncio …“
„Wir sind keine Etorri!“, schrie jemand. Andere begannen zu skandieren: „Leidolf! Leidolf!“ Wieder andere riefen Namen in die Menge: Reese. Thomas. Max. Phillip.
Niemand rief Bradys Namen. Warum sah er dann so verdammt selbstzufrieden aus?
Victor musste schreien, damit man ihn hören konnte. „Die Leidolf haben die Positionen schon zweimal voneinander getrennt, als das Blut dünn geworden war und es keinen passenden Thronfolger gab, der wie ein Lu Nuncio hätte handeln können. Es war vorübergehend. Nur vorübergehend!“, wiederholte er jetzt leiser, nachdem die Menge sich beruhigte. „Das Blut ist dünn geworden, Leidolf. Und ich sterbe.“
Dieses Mal trat Stille ein. „Ihr braucht einen Lu Nuncio, dem ihr vertraut. Ich gebe euch Alex. Wenn ich in sechs Monaten noch lebe, werde ich euch hier zusammenrufen, um den Thronfolger zum Lu Nuncio zu ernennen. Wenn nicht … werdet ihr einen Rho und einen Lu Nuncio brauchen.“
Jetzt hörten alle zu, aufmerksam und ohne sich zu rühren. Rule wusste, was sie dachten, so genau, als hätte er auf einmal die Gabe der Telepathie: dass Victor Brady zum Thronfolger machen wollte und hoffte, er könnte ihn ihnen dadurch schmackhafter machen, dass er ihm die Position des Lu Nuncio verweigerte.
Wenn es so war, dann war Victors Plan nicht aufgegangen. Das war kein zustimmendes Schweigen, sondern das Schweigen von tausend Jägern, die sich ihrer Beute nicht sicher waren.
„Es gibt mehrere im Clan, die die Position bekleiden könnten“, fuhr Victor fort. „Ich weiß, auch wenn es mich schmerzt, dass einige von euch nicht wollen, dass mein Sohn es wird. Mein einziger lebender Sohn.“ Seine Stimme stockte kurz. „Also biete ich euch einen anderen traditionellen Weg an. Wir sind diesen Weg zwar schon lange nicht mehr gegangen, doch ist es ein alter und ehrenvoller Weg. Statt meinen Thronfolger zu benennen, gebe ich die Würde des Amtes frei, auf dass sie ihre Wahl selber treffe.“
Daraufhin ging ein Summen durch die Menge, es wurde geflüstert und subvokalisiert. Die Leidolf waren geschockt, aber diese Tradition, die in der Tat sehr alt war, war für sie verständlich. Doch wer hätte gedacht, dass Victor in der Lage war, die Kontrolle so weit aufzugeben?
Plötzlich verstand Rule alles. Sein Geist sprang nicht erst von Fakt zu Fakt, um sie in einen Zusammenhang zu bringen; nein, er wusste mit einem Mal, was Victor vorhatte. Ruhig sagte er zu Benedict: Bring Lily hier raus. Sofort.
„Vergiss es“, sagte sie. „Ich gehe nicht.“
Er blickte zu ihr hin. „Du hast mich gehört?“
„Natürlich habe ich …“ Ihre Augen weiteten sich. „Äh … du hast es nicht laut ausgesprochen, oder?“
„Die Andersblütigen“, verkündete Victor, „alle Andersblütigen seit mehr als zwei und drei Generationen mögen vortreten!“
„Das wären dann wohl wir“, sagte Brady. Er grinste wie eine Katze, die sich darauf freute, die Maus zwischen ihren Pfoten zu quälen. „Vetter.“
Li Lei war von Haus aus nicht gerade geduldig, aber sie hatte so viele Lektionen in Geduld erhalten, dass sie gelernt hatte, zu warten. Am besten, man tat so, als wäre nichts. Nachdem sie alles Notwendige getan hatte, konzentrierte sie sich auf die Gegenwart und auf die Dinge, die wirklich wichtig waren.
So wie darauf, zu gewinnen. Wenn er so böse dreinschaute, ähnelte Toby seinem Vater sehr. „Du warst gut“, versicherte sie ihm. „Du magst es nicht, wenn du verlierst, aber du hast gut gespielt. Jetzt darfst du das Mah-Jongg-Set nach oben in mein Zimmer bringen.“
Er verzog das Gesicht, suchte aber gehorsam die Spielsteine zusammen. Dabei warf er ihr schnell einen Blick zu, wie sie ihn von ihrem eigenen Sohn kannte … und noch heute ab und zu sah. „Bei mir zu Hause gibt es die Regel, dass der Sieger aufräumt.“
Sie verkniff es sich, zu lächeln, aber sie wusste, dass ihre Augen sie verrieten. Das versuchte sie wieder wettzumachen, indem sie die Brauen hochzog. „Wenn ich mich nicht irre, bist du hier nicht bei dir zu Hause.“
Er grinste, aber er widersprach nicht. Ein guter Junge, dachte sie, als er die Treppen hinaufrannte. Er war beherzt genug, um seine Grenzen ein bisschen auszutesten, wie junge Menschen es tun sollten. Und er hatte so viel innere Stärke, dass er es nicht nötig hatte.
„Beinahe hätte ich Sie gehabt“, sagte Steven Timms. Er lehnte sich vor, wobei er auf seinen Gips achtete, der in einer Schlinge lag. „Wenn ich anders gezogen hätte …“
„Mit einem Wenn gewinnt man wenig. Sie haben zu lange an dem roten Drachen festgehalten.“
Timms machte ein mürrisches Gesicht. Wie die meisten Männer mochte er es nicht, wenn man ihn korrigierte. Li Qin sagte etwas, um ihn zu besänftigen, also wandte er sich ihr zu und erzählte ihr Dinge über das Spiel, das sie gerade gespielt hatten, die sie schon längst wusste. Es war nicht dumm, einfach nur überflüssig. Li Lei hörte nicht mehr zu.
Steven Timms war jeden Tag, seit der schöne Cullen abgefahren war, zum Mah-Jongg-Spielen gekommen. Zwar hatte sie selbst ihm gesagt, dass er wiederkommen solle; ganz einfach weil Mah-Jongg zu viert mehr Spaß machte. Er allerdings dachte, er beschütze sie, und er wollte, dass sein neuer Freund zufrieden war, wenn er zurückkam.
Die Freundschaft zwischen den beiden Männern war, oberflächlich betrachtet, seltsam. Sie hatte sich gefragt, ob Timms Männer mochte und seine Leidenschaft für den schönen Cullen entdeckt hatte, aber dann hatte sie schnell festgestellt, dass er einfach nur einsam war. Er war einer von denen, die zwar intelligent waren, aber nicht gut mit Menschen konnten.
Nicht weil er etwa böse gewesen wäre. Er war zwar schnell bei der Hand mit der Waffe, er redete gern und oft darüber, und das langweilte sie, aber er war nicht das, was Lily einen eiskalten Killer nannte. Es lag an seinem Verhalten. Er wusste nicht, was er tun musste, um den Leuten näherzukommen und sie nicht wegzustoßen.
Irgendwo hatte sie gelesen, dass die Ärzte einen Namen hatten für ein solches Problem. Ärzte fühlten sich immer wohler, wenn sie den Dingen einen Namen geben konnten. Es war wie eine Obsession. Li Lei konnte sich nicht mehr an den Namen erinnern. Doch das machte nichts. Timms interessierte sie nicht besonders. Cullen Seabourne dagegen sehr, und der …
Ein orangefarbener Blitz fegte in die Küche. Krallen suchten Halt auf dem Holzboden. Dirty Harry raste zur Hintertür und verlangte jaulend, dass man sie ihm öffnete. Mit seinem gesträubten Fell sah er aus wie eine gerupfte Ringelblume.
Li Lei sprang auf. „Wir werden angegriffen. Harry glaubt, der Dämon ist vor dem Haus. Ich vertraue seinem Urteil. Li Qin, geh mit ihm. Sag dem anderen Wächter, er soll sofort ins Haus kommen. Dann hol Hilfe. Ruf die Polizei an.“
Timms schob seinen Stuhl zurück und stand auf. Er packte Li Qin am Arm. „Moment mal. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass dieser Kater weiß …“
„Jedenfalls besser als Sie“, fuhr Li Lei ihn an. Beziehungsweise als sie selbst, in diesem Fall. Katzen hatten ein beinahe unheimliches Gespür für Dämonen. „Geh. Und beeil dich“, sagte sie zu Li Qin und löste Timms Hand von ihrem Arm.
Das erschreckte ihn natürlich. Er hatte keine Ahnung, wie stark sie war. „Gehen Sie nach oben und sorgen Sie dafür, dass Toby sich versteckt“, sagte sie zu ihm. „Ich werde …“
„Beruhigen Sie sich. Wenn Sie meinen, dass etwas nicht stimmt, dann werde ich das überprüfen, obwohl ich glaube, dass Ihre Werwolfwachen es schon hören oder riechen würden, wenn es etwas Verdächtiges gäbe, noch bevor ich etwas sehen könnte.“ Er schenkte ihr ein Lächeln, das er ohne Zweifel für beruhigend hielt, und zog die große Pistole aus dem Halfter, das er über die Stuhllehne gehängt hatte.
„Tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe. Toby wird sich nicht verstecken wollen, aber er muss.“ Sie zog mit aller Kraft an der Energie in ihrem Bauch. Und zwar schnell. Dieses Mal musste es schnell gehen. Es gab wenig, was Harry Angst machte – weder Rule Turner noch Deutsche Schäferhunde noch Wölfe. Nicht einmal sie. Wenn er die Flucht ergriff, musste dort draußen etwas sehr Schlimmes auf sie lauern.
Eine Hitzewoge fuhr durch ihren Körper, brutal und alles verzehrend. Den Rest brachte sie nur noch unter Mühen heraus. „Wenn der Junge in seinem Versteck ist, können Sie runterkommen und schießen, aber erschießen Sie nicht mich. Ich werde mich verwandeln.“
„Verwandeln? In was?“
Aber da geschah es bereits. Und selbst als ihre Zellen zerplatzten und ihr Körper in seine andere Gestalt glitt, hörte sie draußen vor dem Haus Schüsse.
Es sprach für Timms, dass er seine Waffe nicht fallen ließ oder sie abfeuerte, als der Wandel beendet war und drei Meter vor ihm ein Tiger stand. Und er blieb auch nicht länger als eine Sekunde wie erstarrt stehen, als sie einen Satz aus der Küche machte und zum Fuß der Treppe lief. Dort bezog sie ihren Posten, um den Jungen zu bewachen. Einen Augenblick später rannte Timms an ihr vorbei. Er war halb die Treppe hinauf, als die Wache vor der Tür einen Schrei ausstieß.
Sekunden später zersplitterte die Eingangstür.
Wenn es einen Zeitpunkt gegeben hatte, in dem Lily etwas hätte tun können, dann hatte sie ihn verpasst. Doch jetzt hatte sie keine Zeit, um über verpasste Gelegenheiten nachzudenken und sich zu fragen, ob sie etwas hätte anders machen können. Jetzt bahnte sie sich zusammen mit Benedict, Cullen und Rule einen Weg durch die Menge, dank einer Schusswaffe in der Hand eines Verrückten und einem Dutzend Schlägertypen.
Lupus-Schlägertypen. Ihr Herz schlug wie verrückt. „Das ist doch auch verrückt“, murmelte sie. „Was hoffen sie denn damit zu erreichen? Ich werde sie alle verhaften. Das müssen sie doch wissen.“ Es sei denn, sie hatten vor, sie zu töten, gleich nachdem sie Rule getötet hatten.
„Sie glauben, dass der Clan mit einer Stimme sprechen wird“, sagte Benedict ruhig, „um deine Aussage unglaubwürdig zu machen.“
Rules Bruder war immer so verdammt ruhig. Er war auf ein Dutzend bewaffnete Männer losgegangen, ganz ruhig. Nachdem er sie gewaltsam aus der Schusslinie gebracht hatte. „Aber warum tun sie das? Sie wollen doch nicht, dass Rule ihr Thronfolger wird.“
„Sie glauben zumindest nicht, dass er es wird.“ Cullen bezeichnete mit knapper Geste die Clanmitglieder, die zur Seite traten und eine Gasse bildeten, durch die sie zur Mitte des Versammlungsfeldes gingen. „Sie glauben, dass Brady sich einen kleinen Scherz mit den Nokolai erlaubt. Um Rule zu demütigen.“
Lily bemerkte den Blick, den Rule Cullen zuwarf. Die beiden wussten mehr, als sie sagten, oder sie hatten zumindest eine Vermutung. „Das Ganze ist zwar kein Witz, aber es ergibt auch keinen Sinn. Rule kann nicht der Thronfolger der Leidolf werden. Er ist der Thronfolger der Nokolai.“
„Theoretisch“, sagte Benedict, der sehr leise sprach, aber nicht subvokalisierte, „wäre es legal, wenn er beide Positionen einnähme. Einer seiner Vorfahren hatte das Blut des Leidolfgründers, und ad littera ist er ein Clanmitglied.“
„Aber warum sollte Brady so etwas tun?“
„Er will mich töten“, sagte Rule, ebenso ruhig wie sein verdammter Bruder.
„Brady und Victor“, sagte Cullen grimmig. „Victor steckt dahinter. Wir können dem hier nur ein Ende bereiten, wenn wir den Mistkerl kalt…“
„Nein“, sagte Rule scharf. „Victor muss noch ein wenig länger leben. Wenn es hier einen Toten gibt, dann dreht die Menge durch. Du würdest Lily niemals lebend hier rausbekommen.“
Lily blieb stehen. „Rule.“ Sie streckte die Hand nach ihm aus. „Ich gehe nicht ohne …“
„Pst.“ Er legte die Arme um sie, zog sie an sich und küsste sie auf ihr Haar, das seine Mundbewegungen verdeckte, als er jetzt sagte: Kannst du mich hören?
Sie nickte.
Die Macht des Rho. Victor wird die Wahl nicht freistellen. Er wird versuchen, mir den Anteil des Thronfolgers aufzuzwingen, und das wäre … schlecht. Es wäre höchstwahrscheinlich Mord, und zwar so, dass die Nokolai nicht behaupten können, es wäre Mord gewesen. Aber das Band der Gefährten ist aktiv. Als das letzte Mal so etwas passiert ist, hat es mich stärker gemacht. Wenn deine Immunität gegen Magie sich auf mich ausdehnt, wird er mir die Macht nicht aufzwingen können.
„Jetzt aber weiter.“ Brady war bester Laune, aber der Grobian an seiner Seite gab ihnen beiden einen heftigen Stoß.
Rule fuhr knurrend herum.
„Sei nett zu der Dame, Merrick“, sagte Brady und zielte mit dem Lauf seiner Waffe auf Lilys Stirn. „Oder ich muss sie erschießen.“
„Du bist so gut wie tot“, sagte Cullen.
„Ich?“ Er lachte. „Oh nein, ich glaube nicht, dass ich derjenige bin, der zu seiner Hinrichtung marschiert.“
Er/sie/sie beide betrachteten das Haus. Ein Leben brannte hell in dem Wagen, der davor geparkt war. Es war kein Fahrer zu sehen, aber die Wache konnte sich vor dem üther-Sinn des Dämons nicht verstecken. Die Leben im Inneren des Hauses waren auf die gleiche Weise sichtbar. Durch die Mauern und aus der Entfernung waren sie nur gedämpft zu spüren, aber der Dämon sah sie so deutlich, dass Cynna sie zählen konnte.
Fünf Leben befanden sich in dem Haus. Fünf Personen, die ihr wichtig waren.
Doch er/sie tapste behäbig zu dem Wagen. Nicht zum Haus. Cynna schrie in seinem Inneren und versuchte verzweifelt, ein Stück von dem Dämon zu fassen zu bekommen, ein Geräusch zu machen, irgendetwas! Aber er/sie beide erreichten den parkenden Wagen, griffen hinein auf eine entsetzliche Art und brachten damit noch mehr von ihrer Masse in diese Welt.
Er/sie beide durchschlugen das Wagenfenster.
Die Wache reagierte schnell. Er hatte sein Gewehr schussbereit angelegt und feuerte aus nächster Nähe. Die Kugeln trafen auch – es waren drei – wie heiße Nadelstiche, und der Dämon wurde wütend. Sie langten ins Wageninnere und packten den Mann bei der Schulter. Er schrie, und das erregte sie. Sie zerrten ihn heraus durch das Fenster, das zu klein war für seinen Körper.
Das Blut erregte sie noch mehr.
Als die letzten Personen zur Seiten traten, sah Lily Victor Frey zum ersten Mal. Er sah furchtbar aus.
Cynna hatte ihn als gepflegten und intellektuellen Typ beschrieben, um die siebzig Jahre alt. Doch sie sah einen strengen Regimentsführer, keinen Intellektuellen. Er saß in einem Armsessel, der mit seinem geblümten Stoffbezug auf dem wintertoten Gras fehl am Platze wirkte. Er hielt sich sehr aufrecht, aber seine tiefen Falten verrieten sein hohes Alter. Wie er es vorhin geschafft hatte, genug Puste zu sammeln, um seinen Clan zu überschreien, war ihr ein Rätsel.
Hinter ihm standen zehn schwerbewaffnete Lupi. Vier von ihnen umstellten sofort Benedict, wahrten dabei jedoch eine ordentliche Distanz, denn die Gewehre, mit denen sie auf seinen Kopf zielten, würden selbst ihn in Schach halten. Zwei weitere flankierten Cullen mit gezogener Waffe.
Neben Victor stand mit undurchdringlicher Miene die Rhej in ihrem weißen Mantel. An der anderen Seite stand ein Mann, der mit ihr verwandt sein musste; er hatte dieselben Augen, denselben Hautton, und auch die Proportionen zwischen Kinn und Mund waren bei beiden dieselben.
„Alex“, sagte Benedict. „Hat er dir gesagt, dass er Brady zum Thronfolger ernennen wird, wenn du dich nicht bereiterklärst, der Lu Nuncio zu werden?“
Mit kalten Augen sah Victor ihn an. „Die Nokolai sind hier nicht willkommen. Schweig, oder ich lasse dich knebeln.“
„Die Nokolai“, sagte Rule trocken, „sind mit vorgehaltener Waffe hierhergebracht worden. Gehen die Leidolf immer so um mit ihren Gästen?“
„Aber du bist heute nicht nur ein Nokolai, nicht wahr?“ Das Zucken um seine blassen trockenen Lippen sollte wohl ein Lächeln sein. „Heute bist du auch ein Leidolf. Und durch die große Dummheit meiner Schwester sind wir blutsverwandt, und du bist außerdem mein Großneffe. Wie könnten wir dich da außen vor lassen?“ Er deutete auf die anderen und hob wieder die Stimme. „Unsere Kandidaten sind versammelt.“
Sieben weitere Männer stellten sich vor ihrem Rho auf. Sie sahen Rule an wie ein Metzger einen Straßenköter, der nach seinem Braten schielt … oder wie ein Wolf einen anderen Wolf, der in sein Territorium eingedrungen ist.
Ein Hauch von Magie huschte über Lilys Gesicht, federleicht und ganz schnell. Ein Sorcéri, begriff sie. Cullen hatte gesagt, dass unter dem Versammlungsfeld ein Netzknoten war. Diese hatten oft undichte Stellen. Sie überlegte, wie sie das zu ihrem Vorteil nutzen konnte, aber ihr fiel nichts ein.
Immerhin hatte sie noch eine Waffe. Eine SIG Sauer konnte es zwar nicht mit tausend Lupi aufnehmen, aber sie musste sie ja auch nur auf einen ganz Bestimmten richten. „Sie müssen Victor Frey sein“, sagte sie und trat vor. „Ich bin Lily Yu von der Magical Crimes Division. Sie stecken ganz schön tief in …“
„Haltet sie auf“, sagte Victor.
Welche Wirkung das Band der Gefährten auch auf ihr Gehör gehabt hatte, mit den Reflexen der Lupi hatte es sie nicht ausgestattet. Es gelang ihr zwar noch, ihre Waffe zu ziehen, aber die fiel scheppernd zu Boden, als zwei Wachen sie packten.
Rule zuckte zusammen, rührte sich aber nicht. „Du legst Hand an eine Auserwählte“, sagte er leise und sah die Rhej an.
„Ihr wird nichts geschehen“, sagte diese. Obwohl ihre Miene undurchdringlich blieb, klang ihre Stimme besorgt. „Das stimmt doch, Victor?“
„Natürlich nicht. Aber ich kann nicht zulassen, dass sie auf mich schießt.“ Er stemmte sich aus dem Sessel hoch und stand stocksteif und aufrecht da. Doch es kostete ihn einige Anstrengung. Sie sah das Zittern seiner Hand, die Anspannung in seinem Gesicht. Trotzdem fand er seine tragende Stimme wieder. „Die Kandidaten mögen niederknien.“
Die sieben Männer, die Rule so unfreundlich gemustert hatten, fielen auf die Knie. Auch Brady tat es ihnen gleich, wie sie bemerkte, als sie sich im Griff der Wache wand, um nachzusehen.
Rule blieb stehen.
Victor lächelte, und er sah dabei aus wie ein faltiger Gargoyle.
„Du wirst niederknien“, sagte er leise, „noch bevor wir fertig sind.“ Er schloss die Augen und sagte etwas in Latein. Dreimal sprach er dieselben Worte.
Lily wartete. Ihr Herz hämmerte wie wild. Sie setzte alles auf das Band der Gefährten, dieses launenhafte Band, das machte, was es wollte, und das sie nie durchschaut, geschweige denn beherrscht hatte. „Dame“, flüsterte sie, „wenn du da bist, wenn dich das hier auch nur irgendetwas angeht, dann hilf ihm. Hilf ihm.“
Der Rho streckte die Hände aus, die Handflächen nach außen, als wolle er etwas von sich wegdrücken. Er schwankte. Einer der knienden Männer stieß ein leises Geräusch aus, möglicherweise ein erstauntes Aufkeuchen. Ein anderer fiel vornüber und sackte in sich zusammen.
Und auch Rule … begann zu schwanken, genau wie der Rho. Seine Augen weiteten sich, sein Blick ging ins Leere, seine Arme hingen schlaff herunter.
Und dann wehte der Energiewind über sie hinweg.