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»Manchmal bin ich richtig neidisch auf dich.«
»Auf mich?«
Natalie nickt. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie jemals zuvor so etwas zu mir gesagt hätte. Aber sie hat in meinem Beisein auch noch nie vor zwölf Uhr mittags zwei Gläser Champagner getrunken. Sie suhlt sich heute in Selbstmitleid.
Ich habe mich auf einen Espresso und ein Glas kaltes Perrier beschränkt. »Neidisch?«, frage ich. »Worauf denn?«
»Worauf?« Sie lacht. »Geld wie Heu, verheiratet mit dem König Midas der Immobilienbranche, zwei hübsche Kinder, die ganze Familie Übelkeit erregend klug und gesund. Du wohnst in einem Traumhaus, umgeben von Pflaumenbäumen und Buchenhecken – es ist ein Wunder, dass Landleben noch nicht bei dir vor der Tür steht und darum bettelt, eine Reportage machen zu dürfen.«
Ich schüttele den Kopf und lache, peinlich berührt. »Jetzt übertreibst du aber. Du wohnst auch nicht gerade in einer Hinterhausabsteige. Du hast eine wunderbare Tochter, eine tadellose Figur, führst ein freies Leben …«
»Mein Mann ist abgehauen. Und dieses Jahr werde ich vierzig …« Sie hält inne, sieht mich todernst an und schweigt ein paar Sekunden lang. Dann lehnt sie sich vertraulich zu mir. »Neulich habe ich beim Friseur einen Artikel über dieses Thema in einer Zeitschrift gelesen.«
»Über welches Thema?«
»Darüber, dass es vollkommen normal ist, Frauen wie dich zu hassen.«
»Frauen wie mich?«
»Perfekte Freundinnen.«
»Perfekt?« Beinahe verschlucke ich mich an dem Wort.
Sie sagt keinen Ton, sondern sieht mich nur unverwandt an.
»Na prima«, erwidere ich. »Seit wann glaubst du diesen Klatschblättern? Und übrigens: Hast du dir mal überlegt, dass ich vielleicht einen abscheulichen Hautausschlag haben könnte? Oder schlechten Sex? Oder überhaupt keinen Sex?«
Vielleicht liege ich jede Nacht wach, liebe Natalie, weil die Werwölfe aus meiner Vergangenheit heulend an meiner Haustür kratzen.
Heute ist es fast eine Woche her, dass ich Chris bei Ravelin gesehen habe. Sechs Tage, um genau zu sein. Ich habe es geschafft, meine Alltagsroutine wieder aufzunehmen, und immer häufiger gelingt es mir, für einen Moment nicht mehr daran zu denken und das Damoklesschwert, das über meiner Familie schwebt, zu ignorieren – oder besser: mir weiszumachen, es sei verschwunden. Nur schlafen kann ich noch nicht wieder richtig. Heute Morgen bin ich schon wieder wie zerschlagen aufgestanden. Meine Glieder waren schwer wie Blei, genau wie meine Augenlider und mein Kopf, und ich erschrak vor meinem Spiegelbild im Badezimmer. Blass, aschfahl, mit dunklen Rändern unter den Augen und einem verhärmten Zug um den Mund. Ich habe eine dicke Schicht Make-up aufgetragen, um meine Blässe so gut es ging zu verbergen.
Natalie wühlt durch ihre schulterlangen, dunkelbraunen Locken. Ich weiß, dass sie an ihren Haaren nichts zu tun braucht. Sie wäscht sie, lässt sie lufttrocknen und fertig. Ich bin jeden Morgen eine halbe Stunde lang mit Wicklern, Nadeln und vor allem Haarlack beschäftigt, bevor ich mich vorzeigbar finde. Wenn ich meine Haare offen trage, sehe ich schnell aus wie eine Landstreicherin. Aber davon ahnt Natalie nichts.
»Keinen Sex«, höre ich sie sagen. »Na klar. Das würde ich auch behaupten, wenn ich du wäre. Aber leider weiß ich es besser.«
Es dauert einen Augenblick, bevor ich sie verstehe. Sie spielt auf ein ziemlich offenes Gespräch an, das wir vor einigen Monaten geführt haben. Ich vermute, dass ich ihr damals zu viel verraten habe. »Vielleicht kann ich auch nur sehr gut lügen«, sage ich und falte gespielt abwesend ein Türmchen aus meinem Zuckertütchen.
»Das war gelogen? Dass ihr ein- bis zweimal pro Woche Sex habt? Dass Harald den Boden anbetet, auf dem du gehst?« Sie spricht ein klein wenig zu laut. Die Leute am Nebentisch werden hellhörig. Zwei Gläser Alkohol so früh am Tag sind für Natalie offensichtlich zu viel des Guten.
Der Kellner, Typ Student mit Grübchen in den Wangen, kommt an unseren Tisch und räumt die Gläser ab. »Noch ein Glas Champagner, Kaffee, etwas anderes?«
»Vielen Dank. Für mich vorerst nichts«, antworte ich.
»Drinnen decken wir jetzt für das Mittagessen, aber Sie können auch gerne draußen sitzen bleiben, wenn Ihnen das lieber ist.«
Natalie starrt den jungen Mann über ihre knallrote Brille hinweg an und schaut dann hinauf zum Himmel über den alten Gebäuden. Ich folge ihrem Blick. Der Himmel ist noch immer blau, aber graue Wolken treiben langsam in unsere Richtung. Für heute Nachmittag ist Regen vorhergesagt. Die Leute neben uns glotzen uns immer noch an.
Natalie sucht meinen Blick. »Woran denkst du?«
Ich stehe auf und nehme meine Tasche von dem Stuhl neben mir. »Lass uns reingehen. Da ist es ruhiger.«
In dem Restaurant sind die Tische mit rosafarbenen Tischtüchern gedeckt. Wir werden zu Plätzen am Fenster geführt und bekommen die Speisekarte, eine einfache, laminierte Kladde. Da wir öfter hierherkommen, brauche ich die Karte nicht zu lesen, um zu wissen, was ich bestellen möchte.
Gleich nachdem Natalie mir gegenüber Platz genommen hat, legt sie mir ihre manikürte Hand auf den Unterarm und schüttelt den Kopf. Ihre Locken tanzen. »Entschuldige bitte. Ich habe dummes Zeug geredet. Es war nicht so gemeint. Ich würde mein freies Leben niemals aufgeben wollen, das weißt du doch. Solange Florian Unterhalt zahlt und ich in dem Haus wohnen bleiben kann, möchte ich mit niemandem tauschen. Nicht einmal mit dir.«
Ich lächele nur und erwidere wohlweislich nichts.
»Wie geht es eigentlich deiner Mutter?«
Ich setze zu einer Antwort an, aber wir werden vom Kellner unterbrochen. Ich bestelle das Gleiche wie immer: Rindercarpaccio mit einer extra Portion Salat und wenig Käse. Natalie nimmt eine doppelte Portion Krabbenkroketten mit hausgemachter Wasabimayonnaise und bestellt ein drittes Glas Champagner, denn sie kann zu Fuß nach Hause gehen und braucht heute nicht mehr zu fahren. Verstohlen betrachte ich sie von Kopf bis Fuß. Sie ist auf eine elegante Weise zierlich und kann dennoch essen, was sie will. Ich wiege nicht viel mehr als sie, aber um meine Figur zu halten, gibt es Tage, an denen ich weniger essen darf als Fleur oder Charlotte.
»Ich habe sie letzte Woche besucht«, antworte ich, nachdem der Kellner verschwunden ist. »Sie schlägt sich tapfer, wie immer, aber in ihrem Alter wird das Haus nun mal allmählich zu groß für sie. Allein schafft sie es nicht mehr, es instand zu halten. Dabei ist es ein wirklich schönes Haus, weißt du. Noch von Kromhout entworfen. Du kennst doch Kromhout, oder?«
»Ein Architekt, nehme ich an?«
»Der beste. Häuser wie das meiner Mutter gibt es nicht mehr viele im alten Stadtzentrum. Die meisten wurden während des Krieges zerbombt. Aber wie dem auch sei. Für ältere Leute zählt nicht mehr nur die Schönheit allein, sondern allmählich auch das Praktische.«
»So alt ist deine Mutter doch noch gar nicht?«
»Sie wird dieses Jahr dreiundsechzig.«
»Ist sie noch rüstig?«
»Sie kann sich nicht beklagen. Nur ihre Gelenke machen ihr zu schaffen. Das Treppensteigen fällt ihr zunehmend schwerer.«
»Hast du für sie schon betreutes Wohnen oder einen Platz in einem Seniorenheim organisiert?«
Ich hebe den Kopf. »Natürlich nicht! Ich bitte dich. Meine Mutter kommt nicht in ein Altersheim. Ich darf gar nicht daran denken!«
»Wohin denn dann?«
»Ich dachte, das wüsstest du? Sie zieht zu uns.«
»Zu euch? Wirklich?«
Ich nicke. »Harald steckt schon bis über die Ohren in der Planung mit dem Architekten. Meine Mutter bekommt ein Häuschen rechts neben dem Bauernhof. Richtig schnuckelig, im gleichen Stil gehalten wie unser Haus. Ende der Woche rechne ich mit dem fertigen Entwurf.«
Natalie zieht eine Augenbraue hoch. »Moment mal – ist euer Haus denn nicht denkmalgeschützt? Könnt ihr da einfach so etwas nebendran bauen lassen? Bestimmt nicht, oder?«
Ich lächele nur und sage nichts mehr. Hinter uns haben sich Leute an den Tisch gesetzt, und ich meine am Dialekt des Mannes zu hören, dass er nicht weit von uns entfernt wohnt. Und es gibt schon genug Gerede.
»Das wird Harald einiges an Gebühren kosten«, erwidert Natalie nach einem kurzen Schweigen. »Oder sollte ich lieber sagen: an Bestechungsgeldern?«
Erneut schweige ich beredt und hoffe, dass sie den Wink versteht.
Sie tut es. Nachdem sie sich kurz umgeblickt hat, sagt sie mit etwas leiserer Stimme: »Ich glaube nicht, dass ich es ertragen kann, wenn meine Eltern einmal hilfsbedürftig werden. Ich könnte sie nicht zu mir nach Hause holen. Papa mit seinem Posaunenunterricht, Mama mit ihrer Yogamanie – schon allein die Vorstellung!«
»Aber sie zieht doch gar nicht zu uns, sondern bekommt ihr eigenes Reich. Und sie hat doch auch immer für mich gesorgt? Außerdem ist sie meine einzige noch lebende Verwandte.«
»Kann schon sein, aber trotzdem bewundere ich dich.«
Das sagt mehr über dich als über mich, denke ich, und ich denke noch viel mehr, das ich nicht ausspreche. Ich sehe den Kellner mit unserem Mittagessen kommen und breite die Serviette auf meinem Schoß aus.
Als mir das Carpaccio serviert wird, läuft mir beim Duft und Anblick von Natalies doppelter Portion Krabbenkroketten das Wasser im Mund zusammen.
Es gießt wie aus Eimern, als ich quer durch das Neubauviertel am Rande des Dorfes zur Schule rase. Die Tropfen lassen Millionen kleiner Springbrunnen auf dem Asphalt hochspritzen. Meine Scheibenwischer werden mit den Wassermassen, die vom Himmel fallen, kaum fertig.
Fleur und Charlotte sind über Mittag in der Schule geblieben. Früher konnte ich mir nicht einmal vorstellen, meine Kinder von anderen betreuen zu lassen. Aber jetzt, da sie sieben und fünf Jahre alt sind, finde ich, dass es ihnen gar nicht schadet, ein-, zweimal die Woche über Mittag zu bleiben. Es gefällt ihnen sogar, haben sie mir versichert. Und mir bietet es die Gelegenheit, einmal die Woche meine Mutter zu besuchen, was ich sonst nicht schaffen würde.
An der Schule gibt es keinen einzigen freien Parkplatz mehr. Die ersten Kinder kommen schon herausgelaufen, springen auf ihre Fahrräder, verschwinden in den Straßen des Wohnviertels oder rennen über den Schulhof zu den wartenden Eltern am Tor.
Erst zwei Straßen weiter kann ich das Auto vor einem Wohnhaus abstellen. Ich parke dicht neben einer Koniferenhecke – einen Parkplatz kann man das kaum nennen. Der Freelander ragt mit dem Heck mindestens einen Meter weit hinten über, sodass er eine Einfahrt blockiert. Ich halte mir den Regenschirm – einen dunkelgrünen mit beigefarbenem Logo von Ravelin Immobilien – über den Kopf und marschiere im Eiltempo los. Der Regen rauscht auf die Bürgersteigplatten, und immer mehr Kinder in Begleitung ihrer Mütter – oder, sehr selten, ihrer Väter – laufen oder radeln an mir vorbei.
Fleur und Charlotte stehen wie zwei blonde, durchweichte Kätzchen am Tor.
»Warum kommst du so spät?«, jammert Charlotte und greift unwillkürlich nach meiner ausgestreckten Hand.
Ich drücke sanft ihre Rechte. »Tut mir leid, Schätzchen, ich habe keinen Parkplatz gefunden. Das Auto steht etwas weiter weg. Kommt, wir müssen uns beeilen.«
Ich nicke einer kleinen Gruppe von Müttern zu, die sich im Hauseingang neben dem Tor untergestellt haben, und drehe mich um.
In der Hektik der rennenden Kinder und der eintreffenden und abfahrenden Autos und Fahrräder fällt er mir zunächst gar nicht auf. Er hält sich ein wenig abseits, steht reglos unter einem Baum, die Hände in den Taschen einer sportlichen, grauen Jacke. Die Kapuze hat er tief ins Gesicht gezogen.
Erst, als ich schon mehrere Schritte an ihm vorbeigegangen bin, reagiere ich, und es durchzuckt mich eiskalt.
Ich blicke ungläubig über die Schulter zurück, im Grunde nur, um mich davon zu überzeugen, dass ich mich geirrt habe. Dass mein überspannter Verstand mich zum Narren gehalten hat.
Aber ich habe richtig gesehen.
In der rechten Hand hält er eine Zigarette, in der für ihn typischen Art und Weise: mit Daumen und Zeigefinger, die übrigen Finger seiner Hand wie ein Dach darübergelegt. Seine dunklen Augen starren mich unverwandt an.
Er drückt sich von dem Baum ab und macht Anstalten, auf mich zuzugehen.
Ich höre nichts mehr, spüre den Regen nicht, merke kaum, dass ich in eine Pfütze trete. Das Einzige, woran ich noch denken kann, ist, dass ich die Kinder in Sicherheit bringen muss, dass ich so schnell wie möglich zum Auto muss. Weg, weg, weg!
»Mama, guck mal!«, ruft Fleur. Sie hüpft ein paar Meter weiter auf einem Bein durch die Pfützen, mein kleines, zartes Püppchen. Dann dreht sie sich um und droht, sich noch weiter von mir zu entfernen.
»Bleib hier!«, schreie ich. »Nicht weglaufen!«
Fleur erstarrt und sieht mich erschrocken an. »Was ist denn los, Mama?«
Ich lasse den Regenschirm fallen. Er hüpft über die Bürgersteigplatten, wird vom Wind ergriffen und taumelt in die Gosse.
Ich packe Fleur am Arm und zerre sie mit mir. Ich renne so schnell, wie die Mädchen nur können, zum Auto. Dort angekommen, reiße ich die hintere Tür auf, ziehe die Kinder nacheinander von der Straße und werfe sie praktisch auf die Rückbank.
»Schnallt euch an!«, schreie ich und schlage die Tür zu.
Voller Panik blicke ich mich um.
Chris ist nirgends zu sehen.
War er allein?
Ich springe ins Auto, vergesse, selbst den Sicherheitsgurt anzulegen, und verlasse das Wohnviertel.
Auf der Rückbank zwei weinende Kinder.