Vier

An meine Mutter habe ich mir leider zu wenige Erinnerungen bewahrt. Sie war immer da, als stille Unterstützung im Hintergrund für meinen Vater und mich, ihr einziges Kind. Sie hätte gern eine ganze Kinderschar geboren, aber ihr Körper spielte nicht mit. Obwohl darüber nie ausdrücklich gesprochen wurde, vermute ich, dass sie sowohl vor als auch nach meiner Geburt Fehlgeburten erlitten hat. Ich war der Fötus, der es schaffte, einer, der allen schlechten Chancen zum Trotz stark genug wurde, gesund zur Welt kam und meine Eltern hätte stolz machen müssen. Doch ich bezweifle, dass mir das gelungen ist.

Als ich achtzehn war, musste meine Mutter ins Krankenhaus. Sie hatte irgendwelche Probleme mit der Gebärmutter; sie sollte entfernt werden. Der Chirurg erklärte, es sei eine Routineoperation und wir bräuchten uns keinerlei Sorgen zu machen. Also fuhr ich wie geplant ins Segellager, in der festen Überzeugung, dass meine Mutter bei meiner Rückkehr zu Hause sein würde. Doch die diensthabende Schwester vergaß, ihr eine Thrombosespritze zu geben.

Es gibt Tage, an denen ich nicht daran denke. Die Zeit heile alle Wunden, heißt es manchmal. Aber das sind nur leere Worte. Ich glaube nicht, dass ich den Tod meiner Mutter je verwunden habe.

Ich besuchte die Abschlussklasse, als es geschah. Ich stürzte mich ins Lernen und begann ein Jahr später mein Propädeutikum für Architektur in Eindhoven. Dort lernte ich vor allem eines, nämlich dass Neubauten mich depressiv machten. Dass ich mich nicht im Geringsten für moderne Architektur und die Erfindung neuer Bautechniken interessierte. Dass Konstruktionen aus Stahl und Glas Widerwillen in mir auslösten und geschlossene Klimaanlagensysteme noch viel mehr. Das Fach Immobilienverwaltung interessierte mich ebenfalls nur mäßig, während mich als angehenden Makler gerade dieses Thema am meisten hätte fesseln müssen.

Ich habe mein Studium nach zwei Semestern abgebrochen und war damit der erste van Santfoort ohne akademischen Grad. Obwohl es mein Vater nie offen aussprach, standen ihm sein Missfallen und seine Enttäuschung ins Gesicht geschrieben und schwangen in jedem Wort mit, das er von da an mit mir sprach.

Ich versuchte, meinen Fehler durch Selbststudium zu kompensieren, und wählte meine eigene Richtung. Abend für Abend vergrub ich mich in meine Bücher, las über historische Architektur und Baugeschichte. Außerdem vertiefte ich mich in Themen wie die Lebens- und Arbeitsweise der Menschen vor 1900, hauptsächlich im siebzehnten, dem »Goldenen« Jahrhundert. Dadurch konnte ich die damaligen Bautechniken und -materialien in den richtigen Kontext einordnen. Das Selbststudium ermöglichte es mir, sehr zielgerichtet zu lernen. Ich nahm mir die Zeit, alles, was mich faszinierte, bis ins Detail zu erforschen. Ich besuchte Museen, rief manchmal auf gut Glück bei den Bewohnern bestimmter Häuser an und erhielt überraschend oft begeisterte Führungen; ich sprach mit Fachleuten, scheute mich nicht, Fragen zu stellen, und merkte nach einiger Zeit, dass ich als Gesprächspartner immer ernster genommen wurde.

Anschließend absolvierte ich auf Drängen meines Vaters eine Maklerausbildung, die ich mit durchschnittlichen Noten abschloss. Danach stellte mein Vater mich ein.

Bis heute frage ich mich regelmäßig, ob er das nur deswegen getan hat, weil er sich durch unser Verwandtschaftsverhältnis dazu verpflichtet fühlte. Doch nie brachte ich den nötigen Mut auf, ihn danach zu fragen. Er starb ein knappes Jahr, bevor ich Claire kennenlernte. Seine Sekretärin fand ihn tot an seinem Schreibtisch. Herzstillstand, wie sich später herausstellte. Mein Vater starb in Erfüllung seiner Pflicht.

Mich ließ er mit einer Firma und vierzehn Angestellten, Schuldgefühlen und vielen unbeantworteten Fragen zurück.

Abscheu
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