18
Unser Kundenkreis bestand hauptsächlich aus Männern, die es sich leisten konnten, mit Geld um sich zu werfen, hauptsächlich Geschäftsleute, die abends ausgingen oder bei uns auf einen Erfolg anstoßen wollten. Rein äußerlich waren es ganz normale Männer, die das »Luxuria« besuchten, meist im Alter zwischen vierzig und sechzig. Sie unterschieden sich in nichts von den Kerlen, denen man in den normalen Clubs und Kneipen begegnet. Mit einem Unterschied: Sie kamen alle mit derselben Absicht.
Nachdem sie sich in das rote Leder hatten sinken lassen, wanderten ihre Augen fieberhaft umher. Auf der schummrigen, etwa fünfzig Quadratmeter großen Tanzfläche, auf der jeden Abend Sades Your Love is King aus den Lautsprechern plätscherte, durften sie ungeniert Fleischbeschau halten. Sie konnten die Ware begutachten, betrachten, befummeln und gegen Bezahlung benutzen. Während des Kennenlernens, das wir an ruhigen Abenden so lange wie möglich hinauszuzögern versuchten, um die Getränkerechnung in die Höhe zu treiben, benahmen sich die Freier mal ausgelassen, mal sehr schüchtern, mal interessiert, mal selbstherrlich, philosophisch oder einfach geil und ordinär. War man dann einmal mit so einem Mann allein, verhielt er sich manchmal völlig anders als unter den Blicken seiner Freunde oder Geschäftspartner.
In diesem Beruf entwickelte man sehr schnell empfindliche Antennen, und meine Antennen begannen an jenem Abend, als Marius zum ersten Mal hereinkam, spontan zu vibrieren. Männer wie Marius machten Frauen wie uns nervös. Bei seinem Erscheinen blickten wir einander forschend an: Wer traut sich? Freiwillige?
Ich war in keiner wagemutigen Stimmung. Tags zuvor hatte ich mir eine leichte Erkältung zugezogen und wollte eigentlich nach Hause. Natascha hatte Krach mit ihrem Freund gehabt und war ungenießbar. Anneke war die Einzige, die außer uns beiden noch frei war. Sie war neunzehn, genauso alt wie ich, hatte aber erst zwei Wochen Erfahrung.
Die Art und Weise, wie er an die Theke ging und sich umsah, bestätigte, was ich von vornherein vermutet hatte: Gefahr im Verzug. Er trug einen gefälschten italienischen Anzug, der ihm ausgezeichnet stand, doch vermutlich hätte er in einem T-Shirt wohl genauso respekteinflößend ausgesehen. Seine Begleiter, zwei sehnige Typen, bildeten nicht mehr als den Hintergrundchor in seinem Schatten. Er war der Star des Abends, alle Spots waren wie von selbst auf ihn gerichtet. Er trug ein ständiges Grinsen auf seinen etwas zu vollen, fast weiblichen Lippen, und seine kalten, tief liegenden Augen nahmen seine Umgebung amüsiert und zugleich wachsam auf.
»Griechisch«, murmelte Natascha neben mir und zündete sich eine Zigarette an. »Wetten wir um fünfundzwanzig Gulden?«
»Ich wette um gar nichts«, antwortete ich abwesend.
Neugierig betrachtete ich ihn. Ganz kurz trafen sich unsere Blicke, und obwohl ich bis zu diesem Moment geglaubt hatte, ich sei einiges gewöhnt, erschrak ich vor der Intensität, mit der er mich musterte. In seinen Augen las ich Gegensätzliches: Beruhigung, Gefahr, Lust, düstere Abgründe.
»Griechisch oder irgendwas anderes, das wehtut oder zu dreckig ist, um es auszusprechen«, fuhr Natascha fort und zog an ihrer Zigarette. Langsam blies sie den Rauch aus und nebelte ihre roten Locken mit einem Qualmvorhang ein. »Wie dem auch sei: Ich passe.«
Natascha hatte drei Jahre mehr Arbeitserfahrung als ich, und die Chancen, dass sie recht hatte, standen gut. Wenn ein Mann mit einem solchen Aussehen wie Marius gesegnet war, musste er auch außerhalb unseres Etablissements einschlägige Angebote erhalten, und zwar gratis. Wenn also ein solcher Mann Geld dafür hinblätterte, war er garantiert nicht auf der Suche nach dem Üblichen.
Denn je reicher, jünger und hübscher, desto extremer die Wünsche. So war es schon immer gewesen, und es gab keinen Grund, anzunehmen, dass es diesmal besser sein würde.
»Meinst du wirklich?«, fragte Anneke – »Sheila« für ihre Kunden.
Ich nickte. »Natascha hat recht. Der ist nichts für dich. Lass die Finger von ihm.« Ich stand auf, zupfte mein Dekolleté in Form und stolzierte geradewegs auf ihn zu.
»Du hast dich verändert«, sagte er.
»Vielen Dank.«
»Dahinten auf der Bank hast du ausgesehen wie eine zerzauste Stadtstreicherin.«
Schon nach wenigen Augenblicken hat er mich wieder auf die Palme gebracht, als wären nicht zehn Jahre vergangen, sondern nur ein Tag. Am liebsten würde ich mich umdrehen und ihn anschreien, aber der Schauder, der mir über den Rücken läuft, ist nicht nur ein Zeichen meiner Wut und Frustration. Daher halte ich mich zurück.
Er hat sich verändert. Er sieht älter aus, aber nicht weniger attraktiv. Die Lachfältchen um seine Augen, damals nur oberflächlich und kaum sichtbar, haben sich tiefer eingegraben und fächern zu seinen Schläfen hin auf. Die Schatten um seine Augen sind dunkler geworden, wodurch seine Iris in einem noch helleren Blau erstrahlt, fast schon silbergrau. Seine Lippen sind unverändert. Noch immer liegt dieses ewige Lächeln darauf wie eingefroren. Marius hat mir einmal erzählt, dass er mit einer leichten Abweichung seiner Oberlippe geboren wurde. Sie wurde in seiner Jugend korrigiert, aber nicht sorgfältig genug.
Ich reiße meinen Blick vom Rückspiegel los. Das Auto steht am Rand der kleinen Stadt. Ich kann das Risiko nicht eingehen, von einem Bekannten mit einem fremden Mann auf dem Rücksitz gesehen zu werden.
»Wir müssen uns anderswo unterhalten«, sage ich.
»In Ordnung. Fahr irgendwohin. Ich habe Zeit.«
Zeit. Ich werfe einen raschen Blick auf die Uhr im Armaturenbrett. Zehn nach zehn. Die Schule ist um Viertel nach zwölf aus. »Du hast eine Stunde.«
»Genau wie früher«, erwidert er lachend. Dann fügt er halb scherzhaft, halb im Ernst hinzu: »Gilt auch noch derselbe Tarif?«
Meine Finger umklammern den Zündschlüssel wie eingefroren, und unwillkürlich warte ich darauf, dass er sich entschuldigt. Doch ich ernte nur eisiges Schweigen.
Beleidigt lasse ich den Motor an, verlasse die alte Festungsstadt und fahre hinaus auf die ausgedehnten Felder. Mein Herz schlägt unruhig, und gereizt stelle ich fest, dass ich unkontrolliert handle. Zweimal gibt das Getriebe beim Schalten ein lautes, hysterisches Kreischen von sich. Jedes Mal erwarte ich eine Reaktion in Form einer beißenden Bemerkung oder leisem Lachen, aber es passiert nichts. Schweigend betrachtet mich Marius im Rückspiegel.
Im Kreisverkehr passiere ich die Straße, die zur Fähre führt, und biege rechts ab in Richtung der flachen Polder. Rechts und links liegen Weiden, auf denen schwarzbunte Kühe grasen. Hier und da ragen Bauernhöfe auf, deren Zufahrtswege von Pappelalleen gesäumt werden oder die von dicht bewachsenen Knüppelzäunen umgeben sind. Über den blauen Himmel ziehen Schäfchenwolken.
Ich werfe einen kurzen Blick in den Rückspiegel, suche seine Augen und starre dann wieder stur geradeaus. »Warum …« Meine Stimme klingt peinlich hoch, und ich räuspere mich ein paar Mal nervös. »Warum warst du nicht auf dem Boot?«
»Ich habe es mir anders überlegt.«
Unsinn. Er war schon früher ziemlich paranoid, und die jahrelange Gefangenschaft in einem norwegischen Gefängnis wird seinen Verfolgungswahn wohl kaum gemildert haben. »Noch immer auf der Hut also«, stelle ich fest und frage mich plötzlich, ob die ganze Sache mit dem Boot vielleicht gelogen war. Es würde mich nicht wundern.
»Wie hast du mich gefunden?«
»Wolltest du denn nicht gefunden werden?«
Ausweichend antworte ich: »Ich habe noch mal ganz von vorne angefangen.«
»Das ist mir durchaus klar.« Dann sagt er mit leicht gereizter Stimme: »Jetzt halt doch mal irgendwo an!«
Ich blicke die Straße entlang, auf der Suche nach einem Seitenweg oder einer Einbuchtung. Eigentlich kenne ich diese Gegend sehr gut, aber irgendwie kommt mir plötzlich alles fremd und unbekannt vor. Mir wird bewusst, dass ich meine Umgebung durch die Augen von Marius sehe. Und ich glaube, dass er sein Urteil bereits gefällt hat. Langweilig. Bestimmt findet er es hier furchtbar langweilig. Marius ist ein Stadtmensch. Ausgedehnte Ebenen und Natur machen ihn nervös.
»Ich habe dich etwas gefragt.«
»Jetzt sei doch mal still«, erwidere ich. »Ich muss mich konzentrieren.« Ich biege in eine schmale Straße ein, die an einem Wäldchen entlangführt, und halte neben einem Strommast an, der wie ein armseliger Eiffelturm die Landschaft verunziert.
Ich schalte den Motor aus, und sofort herrscht tiefe Stille. Ich wage es nicht, mich umzudrehen, sehe ihn aber im Rückspiegel an. Dieser Blick schafft die künstliche Distanz, die ich brauche.
Seine Haare sind noch immer kurz geschnitten und sehr dunkel und so dezent von grauen Strähnen durchzogen, dass es kaum auffällt. Leichte Geheimratsecken. Die fleischigen Züge, die früher die scharf hervortretenden Wangenknochen und den kantigen Unterkiefer abrundeten, sind verschwunden. Die Haut scheint sich straffer um sein Gesicht zu spannen, was ihm eine härtere Ausstrahlung verleiht.
Ich weiß, dass es unvernünftig ist, ihn auf diese Weise zu betrachten. Ich sollte es wirklich besser sein lassen, aber ich kann nicht leugnen, dass Marius zu der auserwählten Gruppe von Männern gehört, die mit den Jahren immer attraktiver und interessanter werden.
Noch immer scheint er großen Wert auf Körperpflege zu legen, das kann ich sehen und riechen. Frisch duftendes Shampoo. Glatt rasiert. Gebleichte Zähne, helles Zahnfleisch.
Ich löse mich von seinem Blick und starre stattdessen das grüne Landrover-Logo auf dem Lenkrad an.
Cool bleiben, Claire.
Die Stille dauert insgesamt noch keine halbe Minute, aber meinem Gefühl nach zieht sie sich viel länger hin. Ich bemerke, dass er mich mit demselben Interesse mustert wie ich ihn und ebenfalls Vergleiche zieht: Claire damals und heute.
Ich wünsche mir, dass sein Urteil positiv ausfällt, und gleichzeitig hasse ich mich dafür, dass ich so denke. Es ist verrückt. Ich behalte die Hände auf dem Schoß und bohre meine manikürten Fingernägel tief in die Handflächen.
Dann mache ich mir wieder bewusst, wer er ist und wer ich bin und wie es kommt, dass wir jetzt hier zusammen in meinem Auto sitzen, am Ende eines Feldwegs, keine fünfzehn Kilometer Luftlinie von meinem Zuhause entfernt. »Warum hast du mir Chris auf den Hals gehetzt?«
»Es hat sich so ergeben.«
»Er hat mich bedroht.«
»Ach, das meint er nicht so.«
»Von wegen, das meint er nicht so!«, fauche ich ihn an. »Chris ist ein Psychopath! Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte Reddy getötet!«
Marius zieht eine Augenbraue hoch und runzelt die Stirn. »Ready?«
»Reddy. Unsere Katze. Sie ist hochträchtig, verdammt noch mal! Das war sie jedenfalls, denn er …«
»Ach so, eine Katze …« Marius schüttelt abfällig den Kopf. Dann lässt er das Fenster ein Stück herunter und zündet sich eine Filterzigarette an. Der Rauch zieht sofort durch den ganzen Innenraum.
»In diesem Auto wird nicht geraucht«, sage ich schnippisch.
»Jetzt schon.«
»Verdammt, Marius! Wie soll ich den Gestank den Kindern erklären, oder Harald?«
Es ist Jahre her, dass ich laut geflucht habe. Unter dem sozialen Druck der Strenggläubigen in dieser Gegend habe ich schnell gelernt, meine Wortwahl den hiesigen Gepflogenheiten anzupassen. Marius gegenüber gebrauche ich dagegen ein Schimpfwort nach dem anderen, als hätte ich nie auf der Insel gewohnt.
»Jetzt reg dich doch nicht so auf.« Er lässt das Fenster ganz herunter und hält die Zigarette am gestreckten Arm ins Freie. Trotzdem wallen Rauchschwaden herein. »Chris hält sich übrigens schon lange nicht mehr in den Niederlanden auf.«
»Was heißt hier ›schon lange‹? Gestern hat er noch bei uns im Stall gestanden!«
Marius schweigt. Dann sagt er ganz langsam: »Ich dachte, wir hätten eine feste Beziehung gehabt, Claire. Das habe ich wirklich geglaubt.«
»Darüber haben wir nie geredet.«
»Du hast nie darüber geredet. Ich schon. Und hör auf, über Chris zu meckern.«
Ich drehe mich um und umklammere die Kopfstütze. »Chris hat einen Dachschaden! Das weißt du genauso gut wie ich. Urplötzlich hat er im Stall vor meiner Nase gestanden, unsere Katze gequält und eine brennende Kippe ins Heu geschmissen! Er hätte uns weiß Gott was antun können!«
Während meiner Tirade wandert mein Blick unwillkürlich über seine Gestalt. Marius ist immer gut in Form gewesen, aber jetzt sieht er geradezu umwerfend aus. Szenen aus amerikanischen Fernsehserien schießen mir durch den Kopf, Bilder von Gefangenen, die auf einem Innenhof den ganzen Tag mit Gewichten trainieren und ihre betonharten Muskeln noch stärker ausformen. Offenbar gab es im Osloer Gefängnis ebenfalls solche Trainingsmöglichkeiten.
Langsam wandern seine Mundwinkel hoch, und die Fältchen um seine Augen vertiefen sich. Er steckt seine Zigarette zwischen die Lippen und blinzelt amüsiert.
Mit einem Ruck drehe ich mich um und lasse mich wieder auf den Fahrersitz sinken.
»Chris ist heute Morgen nach Spanien geflogen«, höre ich ihn hinter mir sagen. »Der interessiert sich weder für dich noch für deine Katze. Er hat es für mich getan, weil er sich wegen des Schlamassels in Norwegen schuldig fühlte. Er wollte sich bei mir revanchieren.«
Und ob Chris sich schuldig fühlen sollte, so, wie er seinem besten Freund damals mitgespielt hat, geht es mir durch den Kopf. »Indem er mir einen Heidenschrecken einjagt?«, frage ich.
Ich höre, wie er tief an seiner Zigarette zieht. Der Rauch schwebt nach vorn und kringelt sich um mein Gesicht. »Es hat sich so ergeben.«
»Was wollte er bei Ravelin, Marius? Ich hoffe nicht, dass er sich hier in der Gegend niederlassen will.«
»Reg dich ab. Es ging ihm nicht ums Geschäft. Wir waren dir schon seit ein paar Wochen auf der Spur.« Erneut zieht Marius an seiner Zigarette und bläst den Rauch erregt aus dem Fenster. »Ich hatte nicht die Absicht, dir Angst einzujagen.«
»Red kein Blech.«
»Hör mal zu, Schatz. Vor zehn Jahren waren wir ein Paar. Stimmt’s?«
Ich nicke schweigend.
»Du kannst dir wahrscheinlich nicht einmal im Traum vorstellen, wie es ist, verhaftet zu werden und im Knast zu landen. Sei froh. Man ist völlig isoliert und verliert jedes Recht auf Selbstbestimmung. Am schlimmsten fand ich aber, dass du über Chris genau wusstest, wo ich eingesessen habe. Oder? Und auch, wie lange?«
Wieder nicke ich verhalten.
»Aber du hast nichts von dir hören lassen. Mir nicht mal eine Karte geschickt. Du verschwindest einfach und fängst ein neues Leben mit einem neuen Kerl an … Aus den Augen, aus dem Sinn.«
»Du hast im Ausland im Knast gesessen«, antworte ich, als würde das alles erklären.
»Ja, und?«
»Mein Leben musste irgendwie weitergehen.«
Er antwortet mit einer ärgerlichen Armbewegung. »Vielleicht bin ich ein Idiot, aber ich habe geglaubt, wir hätten eine Beziehung gehabt. Eine ganz … ganz besondere Beziehung.«
»Hatten wir auch«, erwidere ich. »Aber es war eben auch …« Ich presse die Lippen zusammen und streiche nervös mit dem Daumen über meine Finger.
Wie kann ich ausdrücken, was ich meine, ohne ihn zu verletzen, ihn womöglich sogar wütend zu machen? Will ich es überhaupt ausdrücken? Ist es wirklich nötig?
In einem hat Marius recht: Wir hatten eine Beziehung. Allerdings wurde sein Leben zehn Jahre lang in einer norwegischen Zelle stillgelegt, während meines draußen weiterging. Und sich in eine ganz andere Richtung entwickelte. Wenn ich ihm einfach sagen würde, dass mir zehn Jahre Warten zu lange dauerten, muss er das doch verstehen.
Andererseits könnte er es als Ermutigung auffassen. Er könnte Hoffnung schöpfen: Er hat seine Strafe abgesessen, und er hat mich gefunden. Wir könnten noch heute da weitermachen, wo wir aufgehört haben … O Gott, nein! Was soll ich sagen? Die Wahrheit? Dass ich mich verändert habe und auch, dass ich schon lange vor seiner Verhaftung wusste, dass unsere Beziehung keinen Bestand haben würde, egal, ob er seinen turbulenten Lebensstil fortsetzen würde oder nicht?
Seine Gefängnisstrafe bedeutete meine Freiheit.
»Bist du glücklich mit diesem Typen?«
Ich nicke. »Ja.«
»Wirklich?«
»Ja, wirklich. Das brauchst du nicht infrage zu stellen.«
»Ein guter Vater für deine Kinder«, bemerkt er hämisch. »Geld, Status … Ein guter Fang, wirklich, du durchtriebene Goldgräberin.«
»Das hat damit nichts zu tun!«
»Natürlich nicht!«, höhnt er. »Aber eine gewisse Rolle werden das Geld und das schöne Haus doch wohl gespielt haben. Bleibt nur die Frage: Ist das genug? Reicht dir das, Claire?«
Bilde ich es mir nur ein, oder spüre ich wirklich ein Kribbeln im Nacken? Ich erstarre. Nein, ich irre mich nicht. Die Berührungen sind zart, ganz sanft, aber wie elektrisch geladen, sodass ich leicht erzittere. Ich wehre sie mit einer ruckartigen Schulterbewegung ab.
Marius zieht die Hand zurück. »Schon gut, Muschi.« Dann fragt er mit rauer, fast brüchiger Stimme: »Ist es mit ihm so … genauso wie mit uns? Dir und mir?«
Ich versuche zu schlucken, kann aber nicht. »War es das, was du wissen wolltest, Marius? Wolltest du mich deswegen sprechen? Um mich zu fragen, ob ich glücklich bin?«
»Vielleicht.«
»Ich bin jetzt glücklich. Sehr sogar.«
»Ach, wirklich?«
Ich will seine Fragen nicht beantworten und bin ihm auch keine Rechenschaft schuldig. Ohne ihn anzusehen, sage ich: »Es tut mir leid, dass ich dich in Oslo nicht besucht habe. Ich hätte dir wenigstens einen Brief schreiben und dir alles erklären können. Das hätte ich tun sollen, aber es ist mir zu schwer gefallen. Es war leichter, einfach …«
»So zu tun, als existiere ich nicht mehr.«
Ich starre auf den Asphalt vor meinem Wagen. »Damals hat Chris gesagt, man hätte dich zu fünfzehn Jahren verurteilt. Das ist eine lange Zeit, Marius. Ich war schließlich erst zweiundzwanzig.«
»Und jetzt?«
»Jetzt habe ich Kinder, trage Verantwortung. Ich werde zu Hause gebraucht. Ich bin … Ich bin einfach richtig glücklich. Es ist schade, dass es so ge –«
»Schade!« Er schnippt die Zigarettenkippe weg und schließt das Fenster.
Ich blicke nach links und sehe, wie die Kippe auf dem Asphalt nachglüht. Dann rollt sie an den Straßenrand und bleibt auf dem harten Lehmstreifen liegen. Die Kippe erinnert mich an Chris, und wieder kocht die Wut in mir hoch. »Deine Stunde ist beinahe um«, bemerke ich so kühl wie möglich.
»Schon okay. Dann fahr jetzt mal zurück.«
Ich unterdrücke einen Seufzer der Erleichterung, lasse den Motor an und biege wieder auf die Hauptstraße ab.
Nur noch ein paar Minuten, denke ich, dann steigt er aus meinem Auto und verschwindet aus meinem Leben, für immer. Dann nehme ich die Fähre zur Insel und schmeiße unterwegs das Dreckshandy über die Reling, da, wo der Fluss am tiefsten ist.
Dann bin ich frei. Dann ist es wirklich vorüber.
Aus und vorbei.
Wir wechseln kein Wort mehr, bis ich mit laufendem Motor an der Stelle halte, wo Marius vorhin eingestiegen ist.
Wieder suche ich im Rückspiegel Blickkontakt zu ihm.
Er sieht mich auf unergründliche Art an und steigt dann aus. Stellt sich neben das Auto und gibt mir mit einer befehlenden Kopfbewegung zu verstehen, dass ich das Fenster hinunterlassen soll.
Ich gehorche. Auf der Straße ist kein Mensch zu sehen, und auch an den Fenstern zeigen sich keine neugierigen Gesichter. Wenn er einen Abschiedskuss will, beschließe ich spontan, kann er ihn haben. Aber dann muss er gehen. Und versprechen, nie, nie mehr wiederzukommen.
Er beugt sich nach vorn und packt mich am Unterarm. Er umklammert mein Handgelenk und nähert sein Gesicht meiner Wange. »Trag dein Handy immer schön bei dir, Muschi. Ich ruf dich bald wieder an.«