25

Der Gedanke an Marius, der tot auf dem Boden seiner Yacht liegt, lässt mich inzwischen nicht mehr los. Den ganzen verregneten Mittwoch über konnte ich an nichts anderes denken. Auch wenn ich eine Meisterin im Verdrängen bin, ist diese Vorstellung zu schrecklich und zu nah, und die Konsequenzen sind zu weitreichend.

Während sich Fleur und Charlotte zusammen mit zwei Freundinnen aus dem Ort lautstark mit der Wii amüsieren, sitze ich am Küchentisch, schäle Kartoffeln und putze Gemüse. Jedenfalls tue ich so. Die meiste Zeit starre ich nämlich glasig vor mich hin, während vor meinem geistigen Auge immer der gleiche Film abläuft.

Marius lag wirklich ganz still da, als ich ihn zurückließ. Ich kann mich nicht daran erinnern, ob er geatmet hat, ich habe einfach nicht darauf geachtet. Blut war nicht zu sehen, aber was heißt das schon? Es hat einen lauten Knall gegeben, als er mit der Schläfe auf die Kante der Anrichte auftraf, und ich habe einmal gehört, dass ein Schlag gegen die Schläfe tödlich sein kann.

Oder er war noch gar nicht tot gewesen, als ich ging und ihn seinem Schicksal überließ. Er war bewusstlos oder im Koma und ist gestorben, weil er keine medizinische Hilfe erhielt. Dann wäre ich schuld an seinem Tod.

Dann hätte ich ihn ermordet.

Das Handy steckt in der Tasche meiner langen Strickjacke. Alle halbe Stunde hole ich es heraus und sehe nach, ob er angerufen oder eine SMS geschickt hat. Ihn anzurufen, wage ich nicht. Wer weiß, was ich damit anrichte. Angenommen, er lebt noch und hat beschlossen, mich in Ruhe zu lassen? Dann würde ich mit meinem besorgten Anruf wieder sein Interesse wecken.

»Wo bist du gewesen, Claire?«

Vor Schreck zucke ich zusammen. Dann drehe ich mich um.

Harald steht in der Tür. Er hat eine Laptoptasche aus dem Büro mitgebracht, und sein Regenmantel hängt über seinem linken Arm. »Hast du etwa ein schlechtes Gewissen?«

Ich sehe ihn abwartend an, fast schuldbewusst. »Was willst du damit sagen?«

Hat Harald Gerda getroffen und erfahren, dass ich gestern gar nicht in der Schulbibliothek gewesen bin? Hat mich jemand im Hafen gesehen? Kennt der grauhaarige Mann mit dem Schnäuzer Harald?

Hat Harald mit Marius gesprochen?

»Ist irgendetwas?«

Ich schüttele unsicher den Kopf. »Nein, was … was soll denn sein?«

»Na ja, du verhältst dich irgendwie komisch.« Seine Stimme klingt freundlich und teilnahmsvoll, und sein Gesicht drückt aufrichtige Besorgnis aus.

»Entschuldige. Ich bin heute irgendwie zerstreut. Das liegt bestimmt am Wetter.«

Er stellt die Tasche ab, hängt den Regenmantel im Wirtschaftsraum auf und kommt auf mich zu. »Was hast du eigentlich mit deinem Auto angestellt?«

Ich hebe den Kopf und drücke ihm einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. »Mit dem Auto?«

»Der Freelander sieht aus wie ein Traktor. Als hättest du dich damit im Schlamm gewälzt.«

Erleichtert erwidere ich: »Ach, das meinst du! Der Sandweg war eine einzige große Schlammpfütze. Das habe ich aber erst festgestellt, als ich schon nicht mehr zurückkonnte.«

Er runzelt die Stirn. »Der Sandweg? Seit wann fährst du da entlang?«

»Fleur und Charlotte hatten es sich schon seit Ewigkeiten gewünscht. Und wozu fahre ich schließlich einen Geländewagen?«

Abscheu
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