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Harald schläft noch immer, als ich vom Fenster in Fleurs Zimmer aus meine Mutter und die Kinder unsere Auffahrt entlanggehen sehe. Fleur trägt einen Rucksack, Charlotte fährt auf ihrem neuen Fahrrad, und meine Mutter hält eine große Einkaufstasche in der Hand. Die Mädchen schwatzen und machen fröhliche Gesichter. Unverhofft schulfrei! Mit Oma am Schloss picknicken! Tolle Sache. Meine Mutter tut alles, um sie in der Illusion zu wiegen, alles sei ein großer Ferienspaß. Und ich weiß, dass es ihr gelingen wird.
Ich wende mich vom Fenster ab und gehe den Flur entlang zu unserem Schlafzimmer. Im Inneren bin ich eisig ruhig, ruhiger, als ich erwartet hatte. Ich will jetzt nur noch Antworten. Klarheit.
Ich öffne die Tür und schlage sie mit einem lauten Knall hinter mir zu. »Warum muss ich sterben?«, rufe ich aufgebracht.
»Häh?« Harald blinzelt mit den Augen, noch im Halbschlaf.
»Du hast mich genau verstanden, Harald van Santfoort: Warum willst du, dass ich sterbe?«
Er reagiert zunächst nicht. Ich frage mich, ob es eine Taktik von ihm ist, ob er seine Antwort hinauszögert, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Nein, ich glaube nicht.
»Warum bist du dabei, meine Trauerfeier vorzubereiten?«, fahre ich in demselben giftigen Ton fort.
Jetzt setzt er sich im Bett auf. Er trägt ein grau gestreiftes T-Shirt und eine Boxershort aus demselben Stoff. Das Set haben wir letztes Jahr in Frankreich gekauft, als wir dort im Winterurlaub waren. Seine dunklen Haare sind auf einer Seite ein wenig platt gedrückt, und er hat Abdrücke von Kopfkissenfalten im Gesicht. Er blinzelt, sagt aber nichts.
»Todesanzeigen!«, schreie ich. Von meiner anfänglichen Ruhe ist wenig übrig. Ich rege mich immer mehr auf. »Eine Rede, verdammt noch mal. Wind beneath my wings. Bist du verrückt geworden?«
Er fährt sich mit den Fingern durch die Haare, von der Stirn bis in den Nacken. Starrt reglos eine Stelle auf dem Deckbett an. Aus seiner Haltung spricht Schuldbewusstsein.
»›Claire, ich weiß nicht, wie wir ohne dich weiterleben sollen‹?«, wiederhole ich die Worte aus dem Entwurf seiner Rede. Und dann: »›Die schönsten Blumen werden zuerst gepflückt‹?«
»Ich … Es war …« Er hält sein Gesicht von mir abgewendet und streicht eine Falte im Deckbett glatt.
In einem Reflex beuge ich mich nach vorn, greife nach dem Deckbett und ziehe es mit einem kräftigen Ruck von ihm weg. »Ich stehe hier!« Heftig zeige ich auf mich, mit beiden Händen. »Hier! Rede mit mir, nicht mit diesem verdammten Deckbett!«
Plötzlich springt er auf. Mit wenigen Schritten marschiert er auf mich zu. Er überragt mich bei Weitem.
Er deutet mit dem Zeigefinger auf mich, seine dunklen Augen blitzen. »Du …! Du!«
Ich straffe die Schultern, recke mein Kinn hoch und sehe ihn an. »Was ist mit mir?«, frage ich ruhig und verschränke die Arme vor der Brust.
»Du hast mich angelogen!«
»Inwiefern?«
Plötzlich blickt er sich um, als werde er sich jetzt erst bewusst, wo er ist. »Wo sind die Kinder?«
»Die hat meine Mutter mitgenommen«, antworte ich. »Sie sind spazieren gegangen. Inwiefern habe ich gelogen?«
»Du hast mir diesen Marius verschwiegen!«, ruft er und verzieht dabei das Gesicht, als schmerze es ihn schon, nur den Namen auszusprechen.
Ich erschrecke und weiche zurück.
Marius. Dieser Verräter, dieser Judas.
»Ma-ri-us«, wiederholt er und verzieht erneut das Gesicht zu einem widerlichen Grinsen.
»Was ist mit Marius?« Ich vermute, dass ich schon wesentlich weniger selbstsicher klinge als noch kurz zuvor.
»Er hat mir einiges über dich erzählt.«
Judas, Judas, Judas! »Was hat er dir erzählt?«
Harald wird von heftigen Emotionen geschüttelt. »Warum hast du es mir nie gesagt, Claire?«, ruft er heiser. »Warum nicht?«
»Harald, wovon redest du denn in Gottes Namen?«
Er läuft rot an, und ich sehe die Adern und Sehnen an seinem Hals hervortreten. »Dass du … Dass du …« Er dreht sich abrupt von mir weg, nimmt ein Buch von seinem Schreibtisch und pfeffert es quer durchs Zimmer. »Gott verdammt noch mal!«
Je unkontrollierter Harald wird, desto ruhiger und beherrschter werde ich selbst. Es ist eine außergewöhnliche Erfahrung. Ich denke klar, ich sehe klar, ich knüpfe blitzschnell Zusammenhänge.
»Marius ist mein Exfreund. Wir haben uns vor zehn Jahren getrennt«, erkläre ich. »Als ich dich kennengelernt habe, hatte ich ihn schon seit zwei Jahren nicht mehr gesehen. Er ist unwichtig. Dir von ihm zu erzählen, war nicht notwendig.«
»Nicht notwendig? Und du fandest es …«, seine Stimme überschlägt sich vor Aufregung, und Spucketröpfchen sprühen auf mein Gesicht, »… auch nicht notwendig, mir zu erzählen, dass du in einem Puff gearbeitet hast?«
»Nein. Fand ich nicht.«
Er schüttelt ungläubig den Kopf, verdreht voller Verzweiflung die Augen. »Sie leugnet es nicht einmal!« Er ballt die Faust und schlägt gegen die Wand. Schreit die Tapete an: »Es stimmt, verdammter Mist!«
Ich trete einen Schritt nach vorn und sage so ruhig wie möglich: »Dieses Leben habe ich hinter mir gelassen, als ich hierherkam. Ich will nichts mehr damit zu tun haben, es ist Vergangenheit. Vorbei.«
»Vorbei? Nun – dein altes Leben ist dir verdammt noch mal nachgelaufen!« Streitsüchtig drückt er das Kinn auf die Brust, schnauft laut durch die Nase ein und aus, und seine Augen treten fast aus den Höhlen.
Ich habe ihn schon öfter zornig erlebt, aber noch nie so sehr. Dennoch weiche ich nicht vor ihm zurück. Keinen Zentimeter. Ich habe keine Angst vor Harald und werde auch nie welche haben.
»Und weißt du, was er von mir wollte, dein ordinärer Zuhälter?«
»Er war nicht mein Zuhälter.«
»Lass mich ausreden, gottverdammt!«, brüllt er und stampft auf den Teppichboden, dass die Holzdielen dröhnen.
Er reißt seinen Morgenmantel vom stummen Diener, marschiert aus dem Zimmer hinaus und poltert die Treppe hinunter.
»Wo willst du hin? Was will er?«, rufe ich Harald hinterher.
Er antwortet nicht. Ich renne ihm über die Treppe nach und finde ihn in der Küche. Er hält ein Glas gegen den Eiswürfelbereiter, füllt es anschließend mit Wasser und setzt sich an den Küchentisch.
Behutsam ziehe ich einen Stuhl ihm gegenüber unter dem Tisch hervor und setze mich. »Was will er? Was will er, Harald?«
»Zweihunderttausend Euro«, sagt er leise.
Einmal. Gib mir das.
Ich schwöre dir, dass ich dich danach nicht mehr belästigen werde.
Ehrenwort, Muschi.
»Claire? Hörst du mir zu?«
»Ja, ich höre dir zu«, antworte ich eisig. »Zweihunderttausend Euro. Und warum?«
»Vielleicht sollte ich diese Frage lieber dir stellen?«
Ich wende den Blick von ihm ab und sehe nach der Bananenkiste. Reddy beobachtet uns argwöhnisch durch zusammengekniffene Augenlider. »Marius hat mir vor zehn Jahren mehrere Taschen voller Geld zur Aufbewahrung gegeben und glaubt, ich hätte sie noch.«
»Und? Hast du sie?«
Ich blicke Harald direkt ins Gesicht. »Ich habe Marius gesagt, dass er bei mir an der falschen Adresse ist und sich an Chris wenden solle, weil ich ihm das Geld gegeben hätte.«
»Wer ist Chris?«
»Ein Freund von Marius.«
»Aber er glaubt dir nicht?«
»Chris ist tot, und Marius braucht Geld. Ich dachte, er hätte mir geglaubt, aber anscheinend habe ich mich geirrt.«
Harald steht auf und dreht mir den Rücken zu. Er verschränkt die Hände im Nacken und hebt das Kinn. So bleibt er einen Moment stehen. Ich höre nur seinen schnaufenden Atem.
Als er sein Schweigen bricht, klingt seine Stimme leise und geknickt: »Und was jetzt? Was sollen wir denn jetzt machen? Was soll ich tun? Ich habe nicht so viel, Claire. Ich habe keine zweihunderttausend. Ich habe nichts. Nada. Niets. Nothing. Rien du tout. Wir sind pleite.« Er lässt seine Arme sinken und fängt fast hysterisch an zu lachen. »Alles gehört Lely. Der Bank. Alles. Alles gehört diesem … Arschloch!«
»Was soll das heißen, alles?«
Er lässt sich wieder auf den Stuhl sinken. »Alles. Das Geschäftshaus meines Vaters. Unser Haus. Ich bezahle mich dumm und dämlich an Zinsen. Geschäftlich wie privat. Ich habe keinen roten Heller mehr, Claire. Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber die Blütezeit unserer Firma ist schon seit einer Weile vorbei. Ich verkaufe zu wenige Häuser, die Kosten sind zu hoch, schon seit Jahren, es wird immer schlimmer. Und schlimmer.« Er blickt auf. »Ich musste diesen dreckigen Blutsauger von Lely anflehen, damit er mir noch einmal einen Baukredit für das Häuschen deiner Mutter gewährt hat. Damit sie hier wohnen kann. Bei dir sein kann.«
Ich umklammere mit beiden Händen meine Oberarme, bis es schmerzt, als ich allmählich die Bedeutung von Haralds Worten erfasse. Ich stamme aus einer Familie, in der die Schulden des Vaters meinen Lebenslauf entscheidend mitbestimmten. Und nun stellt sich heraus, dass ich mit einem Mann verheiratet bin, der seiner Familie dasselbe antut. Nur, dass ich es nicht gewusst habe.
Bis jetzt.
»Ich sehe keinen Ausweg!«, jammert er.
»Sollte ich deswegen sterben?«
Verwirrt blickt er auf. »Sterben?«
»Die Anzeige, die Rede?«, erinnere ich ihn.
Es schüttelt den Kopf. Schlägt die Augen nieder. »Ich weiß nicht … Ich weiß nicht, was … Ich dachte an die Versicherung, daran dachte ich. Aber ich wollte nicht wirklich … Nein, mein Schatz, ich wollte …« Vor meinen Augen bricht er zusammen. Konkret und im übertragenen Sinn. Es ist ein schrecklicher Anblick, den ich voller Entsetzen beobachte.
Harald ist ein großer Mann, eine Institution, ein gebildeter, toller Mann, und jetzt, als er auf dem Marmor-Küchenfußboden auf die Knie sinkt, kommt es mir vor, als erbebe eine ganze Stadt in ihren Grundfesten. Die Stadtmauern reißen auf, alle Gebäude stürzen ein, und das Wehgeschrei von Tausenden Bewohnern ballt sich in Haralds Geheul zusammen. Sein Rücken ist gekrümmt, mit seinen langen Fingern krallt er ins Leere, auf der Suche nach Halt.
Der Anblick erinnert mich an den Harald, den ich vor acht Jahren kennengelernt habe und der fast schon aus meinem Gedächtnis verschwunden war. Der schöne, intelligente, liebe, aber zugleich völlig verwirrte, vereinsamte und misstrauische Mann, den ich aus seiner finsteren Scheune und seinen ebenso düsteren Gedanken reißen musste. Nur ist es jetzt noch schlimmer.
Viel schlimmer.
Damals verbarg er seinen Kummer und seine Frustration in seinem Inneren. Äußerlich war ihm kaum etwas anzumerken, die Zeichen der Depression waren subtil. Doch auch danach habe ich ihn nie richtig weinen sehen. Bei der Geburt seiner Töchter hat er feuchte Augen bekommen, und dann noch ein drittes Mal, als wir mit Fleur und Charlotte die Gräber seiner Eltern und Großeltern besucht haben.
Doch jetzt sitzt derselbe Mann, dieser unerschütterliche Felsen mit seiner tiefen Bassstimme und seiner Größe von einem Meter zweiundneunzig schluchzend auf den Knien, das Gesicht in den Händen verborgen.
Ich hocke mich neben ihn und nehme ihn in die Arme.
Wie ein großes Kind schmiegt er sich an mich, sucht Wärme, legt den Kopf an meine Brust. »Ich will euch nicht verlieren«, flüstert er. »Ich will dieses Leben nicht aufgeben. Ich … Ich kann ohne dich nicht leben.«
Ich spüre seine Lippen, die sich auf meiner Haut bewegen, streichele seine Haare. »Ganz ruhig«, sage ich und schaukele hin und her, vor und zurück, wiege diesen großen Mann in meinen Armen. »Ganz ruhig.«
»Was soll ich denn jetzt tun?«, flüstert er, als er sich Minuten später aus meiner Umarmung löst.
Ich presse die Lippen zusammen und blicke Harald lange in die Augen. Ich weiß nicht, was genau ich dort suche, was ich dort unverhofft zu finden glaube, aber mir begegnet eine derartige Leere, dass ich davor zurückschrecke.