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Charlotte blickt mit feuchten Augen zu mir auf. Sie gibt alles, um wie eine niedliche Disney-Figur auszusehen, mit unwiderstehlichen, feuchten Augen und nach hinten gedrehten, demütigen Ohren, bei der einem spontan das Herz aufgeht und der man unmöglich etwas abschlagen kann. Eine wahre Glanzleistung. Sie ist ein Mädchen mit einer Mission.
»Gut«, sage ich schließlich. »Aber du darfst ihn nicht in die Schule anziehen. Nur zu Hause. Einverstanden?«
Sie nickt begeistert und dreht sich noch einmal vor dem Spiegel im Modegeschäft, sodass sich der Streifenrock aufbauscht. Es ist mit Abstand der hässlichste Rock, den ich je gesehen habe, und ich verstehe immer noch nicht, warum ich ihr überhaupt erlaubt habe, ihn anzuprobieren, aber Charlotte findet ihn wunderschön. Ein echter Prinzessinnenrock.
»Aber wirklich nur für zu Hause«, betone ich, als ich sie zurück zur Umkleidekabine führe. »Für die Kostümkiste.«
»Ja-haa.«
In der engen Kabine ziehe ich ihr den Rock aus, gebe ihn der wartenden Verkäuferin und ziehe ihr ein Kleid über, ein schlichtes, gerade geschnittenes Modell aus weißem Leinen mit einem Rundhalsausschnitt und einem dezenten Reißverschluss auf dem Rücken. Auf nackten Füßen trippelt sie hinaus ins Geschäft und betrachtet sich im Spiegel.
Das Kleid sitzt wie angegossen. Klassisch, elegant, süß. »Schön?«, frage ich.
Sie zweifelt und neigt den Kopf schief. Ihre geflochtenen Zöpfe tanzen mit. »Ich weiß nicht …«
»Das ist ein hübsches Kleid für den Sommer, Charlotte. Wenn wir in Urlaub fahren. Nicht zu warm und sehr damenhaft, findest du nicht?«
Jetzt sieht sie es auch ein und nickt zustimmend. Dann zweifelt sie wieder sichtlich. »Findest du es nicht blöd?«
»Nein, überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil, es ist wunderschön. Es steht dir sehr gut. Sitzt es bequem?«
Sie schaut noch einmal hin und betrachtet sich von allen Seiten. Noch keine sechs Jahre alt, und schon ein solches Selbstbewusstsein!
Fleur sitzt ein paar Meter weiter bei einer Gruppe von anderen Kindern auf knallbunten Stühlchen und sieht sich einen Zeichentrickfilm an. Der Laden füllt sich immer mehr. Nicht alle Kinder probieren brav ihre Kleider an oder sitzen still vor dem Fernseher, der in einen quietschrosa Schlossturm integriert ist. Und nicht alle Eltern haben die gleiche Engelsgeduld, wie aus den genervten Mienen und dem Gemecker rechts und links von mir hervorgeht.
Normalerweise meide ich die Stadt an Samstagnachmittagen, aber momentan ziehe ich die Hektik inmitten der Scharen des Einkaufspublikums der scheinheiligen Idylle meines eigenen Hauses vor.
Ich weiß, dass sich mein Schuldgefühl von selbst abschwächen und schon bald der Tag kommen wird, an dem ich Harald wieder in die Augen schauen und mich ihm – und nur ihm – verbunden fühlen kann.
Aber an diesem Wochenende ist es dafür noch zu früh.