7

Bastide – kleineres, provisorisches Bollwerk, das die Bevölkerung eines umkämpften Gebietes schützen oder ihr als Ausweichquartier dienen sollte.

Quelle: Bouwkundige termen, Dr. E. Haslinghuis, 1986

»… und dann noch fünf Baguettes, nein, warten Sie, lieber sechs.«

»Ist notiert, Mevrouw van Santfoort. Sollen wir zur Sicherheit zwei zusätzliche Flaschen Taittinger dazulegen? Aus Erfahrung wissen wir, dass immer mehr Champagner getrunken wird als, sagen wir, Chablis.«

»Ja, tun Sie das.«

»Wäre Ihre Bestellung dann so komplett?«

Ich werfe einen Blick auf den Zettel, der auf dem Lenkrad liegt, und streiche in Gedanken die Posten durch: Getränke, Fleisch, Fisch, Antipasti, Brot, Salat, Gemüse, Obst, Desserts … »Ja. Ich glaube schon. Können Sie alles bis morgen Nachmittag liefern?«

»Wir tun unser Bestes.«

»Vielen Dank.« Ich beende das Gespräch, stecke das Handy in meine Handtasche und blicke mich um.

Die Straße, in der meine Mutter wohnt, liegt nicht weit entfernt von dem Viertel, in dem ich geboren und aufgewachsen bin. Nachdem ich von zu Hause ausgezogen war, ist meine Mutter in eine kleinere Wohnung gezogen, und zwar zu meinem Erstaunen nur einen Steinwurf von der Mietwohnung entfernt, in der sie mich zur Welt gebracht hat. Ich hatte erwartet, dass sie in ihren Geburtsort zurückkehren würde, aber sie ist der Hafenstadt treu geblieben.

Der Grund ist mir ein Rätsel. Bei jedem Besuch finde ich die Gegend unerträglicher. An meine frühere Heimat erinnert mich hier kaum noch etwas. Jede Woche kommt eine neue, einschneidende Änderung hinzu, wie in einer perfiden Version des Spiels »Such die Unterschiede«. Der kleine Supermarkt an der Ecke ist weg, aus der Frittenbude ist ein Dönerladen geworden, und ein Teil des Viertels wurde ganz abgerissen. An Stelle der alten Häuser wurden Gebäude hochgezogen, die Harald als »elende Mietskasernen« bezeichnen würde.

Ich öffne die Zentralverriegelung, greife nach meiner Handtasche und einer Plastiktüte auf dem Beifahrersitz und steige aus. Sofort schließe ich das Auto wieder ab und presse die Handtasche fest an meinen Körper. Den Kopf trage ich hoch erhoben.

Ich habe Natalie angelogen. Meine Mutter wohnt in einer kleinen Dreizimmerwohnung im ersten Stock eines Betonmietshauses.

Sie hat mich schon gesehen und winkt mir hinter der Doppelglasscheibe des Wohnzimmers zu. Dann verschwindet sie hinter der drapierten Gardine, und der Türsummer ertönt.

Im Flur schließe ich die Tür sorgfältig hinter mir und steige die Treppen zur Wohnung meiner Mutter hinauf. Einen Aufzug gibt es nicht. Der Fußboden ist mit Werbeprospekten übersät, einige Briefkästen sind schwarz verkohlt, und im ganzen Treppenhaus stinkt es nach Urin.

»Warum bist du so lange im Auto sitzen geblieben?« Die Stimme meiner Mutter hallt im Treppenhaus wider. Ihr affektiertes Hochniederländisch klingt ein wenig deplatziert in dieser Umgebung. Sie ist wahrscheinlich die Einzige in der ganzen Stadt, die nicht den allgegenwärtigen Dialekt spricht, nicht alle drei Sätze ein ungläubiges »Joh!« ausruft oder andere typische Ausdrücke benutzt.

Meine Mutter passt auch in manch anderer Hinsicht nicht in ihre Umgebung. Aber sie ist die Letzte, die sich daran stört.

»Ich musste noch jemanden anrufen.« Ich umarme meine Mutter und küsse sie auf beide Wangen. Sie ist kleiner und kräftiger als ich, aber auch sie blondiert ihre Haare und trägt sie in einem lockeren Knoten am Hinterkopf aufgesteckt. Ihre Augen sind immer mit hellem und dunklem Lidschatten in Silbertönen geschminkt. Ihre Augenbrauen sind dünn gezupft und fast schwarz nachgezogen, und ihre Lippen wirken größer, weil sie sie mit einem dunklen Lipliner umrahmt. Der Lippenstift selbst ist ein wenig verwischt.

Meine Mutter duftet schön frisch, eine Erleichterung nach dem Gestank im Treppenhaus. Da sie Parfüm nicht leiden kann, vermute ich, dass es ihr neues Waschmittel ist. Wie arm wir manchmal auch gewesen sind, gewaschen hat meine Mutter konsequent mit teuren Markenwaschmitteln. Dieser Gewohnheit ist sie immer treu geblieben.

»So, komm doch rein, Schatz.« Sie drückt die Tür hinter mir ins Schloss, legt zusätzlich eine Kette vor und schließt ab.

»Hast du Angst, du könntest entführt werden?«, frage ich scherzhaft.

Sie schüttelt entnervt den Kopf und murmelt etwas über die Jugend von heute. Dann nimmt sie mir die Plastiktüte aus der Hand und geht damit in die Küche. »Mach es dir schon mal gemütlich. Ich koche so lange Kaffee.«

Ich setze mich auf das Zweisitzersofa am Fenster. Bambi, ein graues Hundewollknäuel mit einem schwarzen, feuchten Stupsnäschen, liegt lang ausgestreckt auf dem beigefarbenen Teppich. Sie rollt sich auf den Rücken und will, dass ich ihr den Bauch kraule. Sie wedelt mit dem Schwanz und grunzt leise.

»Oh, wie lecker!«, ruft meine Mutter in der Küche. Sie hat den Kuchen entdeckt. »Das wäre doch nicht nötig gewesen. Das Backen habe ich noch nicht verlernt, weißt du.«

Ich ziehe Bambi auf meinen Schoß und kraule die warmen Grübchen hinter ihren Ohren. Dabei schaue ich aus dem Fenster.

Hier sitzt meine Mutter oft. Ganze Tage verbringt sie auf diesem blauen Stoffsofa, die Füße auf einen dazu passenden Hocker gelegt, und sieht fern oder beobachtet die Leute draußen auf der Straße. Sie ist nicht unzufrieden über ihre Aussicht: die Seitenfassade des Apartmentkomplexes auf der anderen Straßenseite und das bewachte Metalltor vor dem Parkplatz, der zu diesem Komplex gehört. Links davon verläuft eine dicht befahrene Straße. Vier Fahrstreifen, Ampeln, Radfahrer, Rollerfahrer, Lkws, vierundzwanzig Stunden pro Tag Leben.

»Es gibt immer etwas zu sehen«, sagt sie, als könne sie meine Gedanken lesen, und stellt eine Tasse Kaffee vor mich hin. »Setz Bambi doch auf den Boden, sonst kommst du nicht zum Kaffeetrinken.«

»Ach, sie stört mich nicht.«

»Wie geht es Fleur und Charlotte? Warum bringst du deine Süßen nie mal mit? Ich kaufe immer etwas zum Naschen für sie ein, und dann muss ich die Sachen wegwerfen, weil sie irgendwann abgelaufen sind.«

Ich stoße einen tiefen Seufzer aus. »Weißt du – es ist eine ziemlich weite Fahrt, Mama. Eine Stunde hin, eine Stunde zurück. Das kann ich ihnen nicht zumuten, Charlotte leidet doch so stark unter Reisekrankheit und – und hier können sie nicht richtig spielen. Komm du lieber uns mal besuchen.« Ich blicke sie an. »Charlotte feiert in zwei Wochen ihren sechsten Geburtstag. Soll ich dich dann abholen kommen? Vielleicht könntest du sogar ein oder zwei Tage bei uns bleiben? Oder die ganze Woche, wenn du möchtest?«

Ihre Augen leuchten auf. »Aber gerne! Bist du dir sicher, dass ich nicht störe?«

»Aber nein, Mama, wirklich nicht. Wie kommst du nur darauf? Ich freue mich doch, wenn du da bist, und Fleur und Charlotte freuen sich auch.«

»Und Harald?«

»Er freut sich genauso. Das weißt du doch.« Harald hat es mir nie ausdrücklich gesagt, aber ich weiß, dass er sie gerne mag. Er betrachtet sie als seine zweite Mutter.

»Ach, jetzt habe ich den Kuchen vergessen.« Sie macht Anstalten, aufzustehen, aber ich strecke die Hand aus und bedeute ihr, sitzen zu bleiben.

»Bleib sitzen, ich hole ihn schon.«

»Hör mal, ich bin doch keine alte Frau!«

»Nein, aber auch nicht mehr ganz jung.«

Die Küche meiner Mutter ist ungefähr so groß wie meine Kochinsel und mit weißen Schränkchen mit Plastikgriffen eingerichtet. Die Wände sind gelb gekachelt, und auf dem Boden liegt orange-meliertes Linoleum. Auf der Anrichte steht bereits ein Schneidebrett mit dem ausgepackten Schokoladenkuchen und einem Messer.

Ein seltsamer, ekliger Geruch hängt in dem kleinen Raum. Unwillkürlich blicke ich mich um, auf der Suche nach der Ursache. Unter der Anrichte, wo Platz für ein weiteres Schränkchen wäre, steht ein Katzenklo mit einer Lage Zeitungen darin. Auf den alten Nachrichten liegt ein frischer Haufen.

»Igitt!«, rufe ich. »Was ist das denn?«

»Meinst du Bambis Toilette?«, ruft meine Mutter aus dem Wohnzimmer.

»Bambis Toilette?«

Meine Mutter erscheint in der Tür. »Bambi geht jetzt fast immer auf die Toilette. Wie eine Katze. Ein kluger Hund. Sie hat es schon nach zwei Tagen verstanden. Warte, ich räume das mal schnell weg.«

Bambi trippelt heftig wedelnd an meiner Mutter vorbei. Ihre Krallen ticken über das Linoleum. Sie stellt sich neben mich, legt die lang behaarten Ohren an, schnuppert an ihrem eigenen Kot und blickt dann fröhlich zu mir auf. Ihre Zunge hat die Farbe einer Zuckerstange.

Ich streichle über ihre seidenweichen Haare, die ihr gescheitelt und ohne ein Knötchen links und rechts am Rücken hinunterhängen.

Meine Mutter nimmt das Klo, stellt es auf die Anrichte und packt den Haufen in Zeitungspapier ein, als sei es ein Fisch vom Markt. Sie wirft das Paket in den Mülleimer und holt einen neuen Stapel Zeitungen aus einem Karton.

»Warum gehst du mit dem Hund nicht Gassi, damit er draußen sein Geschäft erledigen kann?«, frage ich.

Sie zögert einen Augenblick. »Ich wage mich abends nicht mehr auf die Straße«, antwortet sie dann schüchtern. Ihr Blick ist in sich gekehrt, und sie reibt sich nervös die Hände. »Letzte Woche wurde hier einer niedergestochen, Claire. Ein junger Mann, dreiundzwanzig Jahre alt. Da ist ein Streit aus dem Ruder eskaliert.«

Ich ignoriere ihren sprachlichen Lapsus und blicke sie alarmiert an. »Und das erzählst du mir jetzt erst?«

Sie stellt das Klo wieder auf den Boden und weicht meinem Blick aus. »Ich wollte dich nicht beunruhigen.«

»Wo ist das passiert?«

Sie zeigt in Richtung Wohnzimmer. »Hier schräg gegenüber, an der Imbissbude. Ich saß auf dem Sofa und habe alles beobachtet.«

»War es ein Junkie?«

Sie zuckt mit den Achseln. Dann wäscht sie sich gründlich die Hände, nimmt das Schneidebrett von der Anrichte und geht damit ins Wohnzimmer. »Es ging um zehn Euro, Claire. Hier wird man inzwischen wegen zehn Euro auf offener Straße abgestochen.« Ich beiße mir leicht auf die Unterlippe und folge ihr.

Schon liegt es mir auf der Zunge, ihr von Haralds und meinen Plänen zu erzählen, aber ich beherrsche mich noch rechtzeitig. Harald mag davon überzeugt sein, dass schon bald alles geregelt sein wird, aber ich will die Möglichkeit nicht ausschließen, dass er es diesmal nicht schafft. Meiner Mutter falsche Hoffnungen zu machen, wäre das Letzte, was ich will.

»So, genug gejammert«, sagt sie. »Die Zeiten ändern sich nun mal. Das Viertel kommt immer mehr herunter. Man kann es nicht ändern.« Sie schiebt mir ein Stück Kuchen zu. »Aber wegen dieses Abschaums wage ich mich nicht mehr auf die Straße. Wenn dein Vater noch leben würde, wäre es nicht so weit gekommen. Dann würde jetzt alles anders aussehen.«

Ich reagiere nicht. Die Liebe hat meine Mutter nicht nur blind gemacht, sondern auch ihr Urteilsvermögen getrübt. Und über die Toten nur Gutes.

»Nimm dir noch ein Stück.« Demonstrativ schiebt sie das Schneidebrett über den glänzend polierten Nussbaum-Wohnzimmertisch zu mir herüber. Bambi beobachtet sie, leckt sich über die Schnauze, stellt sich auf die Hinterbeine und hüpft dann mit schief gelegtem Kopf wie ein perfekter Zirkushund rückwärts. Man kann ihr unmöglich widerstehen. Als meine Mutter einmal kurz nicht aufpasst, füttere ich dem Hund Kuchen.

»Hast du in der letzten Woche jemanden aus der Verwandtschaft gesehen oder gesprochen?«, frage ich, und mir wird bewusst, dass ich diese Frage nur stelle, um mich zu beruhigen. Der Gedanke, dass meine Mutter ihre Tage hier größtenteils allein verbringt, ist mir unerträglich. Ich würde sie gerne jeden Tag anrufen, morgens und abends, damit ich weiß, dass sie morgens gesund aufgestanden ist und sich abends wohlbehalten wieder zu Bett gelegt hat. Ich würde es tun, wenn sie es nur erlauben würde.

»Tante Magda hat mich letzte Woche angerufen, aber wie du weißt, kann ich nicht besonders viel mit ihr anfangen. Mit ihr ist es dasselbe wie mit allen anderen: In unserem Alter jammern alle nur noch. Dieses ständige Gerede über Krankheiten, Zipperlein und anderen Kram! Darauf habe ich einfach keine Lust, dafür fühle ich mich zu jung. Alles Unsinn.« Sie blickt mich an. »O je, jetzt fange ich auch schon an. Erzähl mir lieber mal, wie es den beiden Mädchen geht. Ich bin wirklich enttäuscht, dass du sie nicht mitgebracht hast, Claire. Ich habe Figürchen vom Supermarkt für sie gesammelt.« Sie will aufstehen. »Soll ich sie dir schon mal mitgeben?«

»Nein, gib sie ihnen lieber selbst, wenn du in zwei Wochen kommst, darüber freuen sie sich bestimmt sehr.«

Beim Abschied umarme ich sie fest und küsse sie auf die Wange. Ich sehe sie an und nehme sie noch einmal in den Arm. »Pass gut auf dich auf, Mama. Ich könnte es nicht ertragen, wenn dir etwas zustoßen würde.«

»Mach dir keine Sorgen um mich. Ich wohne hier schon so lange!«

Während ich die Treppe hinuntergehe, höre ich, wie sie ihre Tür abschließt. Zwei, drei Schlösser. Sie verriegelt ihre Wohnung hermetisch vor der Außenwelt, wie eine Festung.

Ein städtisches Gefängnis.

Ich setze mich in mein Auto und drücke auf den Knopf für die Zentralverriegelung. Langsam mache ich mich wieder auf den Weg. Im Vorüberfahren werfe ich einen Blick auf den Dönerladen.

Meine Mutter hatte recht. Hätte mein Vater noch gelebt, hätte alles anders ausgesehen.

Doch ich bezweifle ehrlich gesagt, ob es besser ausgesehen hätte.

Abscheu
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