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Gestern sind alle Freunde und Freundinnen von Charlotte bei uns gewesen, die sie zu ihrem sechsten Geburtstag eingeladen hatte. Sie wurden von ihrem Vater, ihrer Mutter oder gelegentlich der Oma begleitet, die alle auf eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen blieben. Gerda, die ich fast ausschließlich in der Schule treffe, ist auch auf einen Sprung vorbeigekommen, ebenso wie einige der Angestellten von Ravelin und die Nachbarn. Darüber war ich sehr froh, denn wenn man eine so kleine Familie hat wie wir, ist man auf andere angewiesen, wenn man sich geselligen Geburtstagsrummel wünscht.

Die Sonne stand hoch am blauen Himmel, und es war praktisch windstill. Die Luft war erfüllt von Blumendüften. Charlotte hätte sich keinen schöneren Tag aussuchen können.

Die Kinder haben sich wenig im Haus aufgehalten, und obwohl sie alle – trotz der damit verbundenen Risiken – »Reddys rote Kroketten« sehen wollten, ist es mir gelungen, die Wochenbettbesuche auf ein Minimum zu beschränken. Charlottes Geschenk war ein voller Erfolg. Sie beschäftigte sich unentwegt mit ihrem neuen Fahrrad, fuhr im Slalom zwischen den Obstbäumen hindurch und übte kurze Sprints auf der Terrasse, knapp am Tisch mit den Chips, Süßigkeiten und der Limonade vorbei. Ihr neues Zweirad ist rosa mit violetten Blumen, von den Handgriffen baumeln silberne Bänder, und am Lenker hängt ein Weidenkörbchen. Die Stützräder braucht sie im Moment noch dringend, aber die kann man später einfach abmontieren.

Harald ist mir das ganze Wochenende aus dem Weg gegangen. Jedenfalls kam es mir so vor. Er hat mit allen Besuchern ein nettes Schwätzchen gehalten und für die Kinder den Clown gespielt, aber mit mir hat er kaum gesprochen. Als ich gestern Abend mit ihm reden wollte, schlief er schon. Vielleicht hat er es mir aber auch nur überzeugend vorgespielt.

Heute ist es nicht viel besser. Wir sind in einem nahe gelegenen Naturschutzgebiet spazieren gegangen, auf dem Spielplatz gewesen und haben Pfannkuchen gegessen. Kaum waren wir wieder zu Hause, hat er Humboldt gesattelt und ist im Wald verschwunden. Nach dem Abendessen hat er sich vor den Fernseher gesetzt, die Nachrichten angesehen und sich danach in sein Arbeitszimmer zurückgezogen.

Dort sitzt er noch immer. Schon seit vier Stunden. Meine Mutter ist vor einer halben Stunde zu Bett gegangen. Ich habe den bangen Verdacht, dass mit Harald etwas ernsthaft nicht stimmt, dass eine Depression im Anzug ist oder er sich in eine andere Frau verliebt hat und mit seinen Gefühlen nicht umgehen kann. Unwillkürlich habe ich allerdings noch viel größere Angst davor, dass er doch mit Marius gesprochen hat. In Amsterdam. Oder wo auch immer.

Ich schließe die Hintertür ab, schalte den Fernseher aus und gehe in die Diele. In Haralds Arbeitszimmer brennt Licht. Der Schein fällt durch den Spalt unter der geschlossenen Tür.

Ich klopfe absichtlich nicht, sondern öffne unvermittelt.

Im weichen Licht der Lampe sitzt Harald an seinem Schreibtisch. Mit einer Hand klappt er den Laptop zu, der vor ihm steht.

Irre ich mich, oder fühlt er sich ertappt?

»Es ist schon kurz vor zwölf«, sage ich. »Meine Mutter schläft schon, und ich gehe jetzt auch zu Bett. Morgen früh klingelt der Wecker um sieben Uhr. Kommst du gleich?«

»Ja … Ja …« Er sieht mich nicht an.

»Harald … Was ist denn?«

»Was soll denn sein?«

»Du bist so geistesabwesend. Schon seit ein paar Tagen. Erzählst nicht, warum du in Amsterdam warst, und sitzt jetzt schon sehr lange Zeit hier drinnen.«

Er hebt beide Hände, eine theatralische Geste der Resignation. Er atmet hörbar aus, mit einem pfeifenden Seufzer. »Ich habe einfach sehr viel zu tun. Es gibt einen Haufen Ärger bei der Arbeit, Baugutachten, die nicht in Ordnung sind … Und es geht mir nicht gut. Ich glaube, dass ich den Alkohol am Donnerstag deswegen nicht vertragen habe. Ich habe Gliederschmerzen und Kopfschmerzen. Vielleicht ist eine Grippe im Anzug.«

»Soll ich dir eine Tablette holen?«

Er wirft mir einen treuherzigen Blick zu. »Nein, geh du mal ins Bett, Claire. Ich komme gleich. Es ist wirklich alles in Ordnung, sonst würde ich es dir sagen. Mach dir keine Sorgen.«

Er lügt.

Ich sehe es, und ich spüre es.

Noch nie zuvor hat Harald mich angelogen.

Abscheu
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